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ОглавлениеAusflug nach Swenigorod
22. März – 3. April 1990
Herr Krehbiel gibt auf der Geburtstagsfeier von Eric eine nette GAI-Geschichte zum Besten. Er wird auf dem Weg zu seiner Geschäftsstelle im Stadtzentrum wegen überhöhter Geschwindigkeit am Leninskij an den Straßenrand gewinkt. Den GAI bittet er innständig, schnell weiterfahren zu dürfen, er stehe unter Zeitdruck und müsse einen dringenden Termin wahrnehmen. Nebenbei zieht er zwei Leerkassetten aus dem Handschuhfach und reicht sie dem GAI durch die heruntergelassene Scheibe. Das kleine Beschwichtigungsgeschenk versschwindet unauffällig in der Manteltasche des GAI. Er gibt das Zeichen zur Weiterfahrt. Herr Krehbiel fragt, ob auf der Strecke noch weitere Radarkontrollen zu erwarten seien. Am Gagarin-Platz, lautet die nette Auskunft. Herr Krehbiel braust davon, reduziert jedoch rechtzeitig vor dem Gagarin-Platz die Geschwindigkeit. Ein GAI winkt ihn an den Straßenrand. Ein weiteres Mal wird die Scheibe heruntergekurbelt. Der GAI beugt sich hinunter und fragt: „Haben Sie zufällig auch noch eine Kassette für mich?“
Auf der breiten Ringstraße liegt wieder allerhand Zeug herum. Eine ganze Ladung Holz verteilt sich kreuz und quer über eine Strecke von zweihundert Metern. Aber die Straße ist ja so breit, dass man den vielen Hindernissen in Slalomfahrt bestens ausweichen kann. Nicht rechtzeitig ausweichen kann ich einer ca. drei Meter langen Wellblechplatte, die unter meinen Reifen scheppert und gegen den Unterboden knallt. In der Wawilowa liegen lediglich zwei Lkw-Räder auf der Fahrbahn. Die lasse ich links liegen.
Die häufigste Unfallursache war im vergangenen Jahr - man glaubt es kaum - Trunkenheit am Steuer. In der Unfallstatistik der Sowjetunion heißt es, 78,5 Prozent der Unfälle seien durch unachtsames Fahren und maßlose Selbstüberschätzung verursacht worden. Wenn man die Fahrzeugdichte der UdSSR und Deutschlands miteinander vergleicht, ist das Autofahren hierzulande fünfmal gefährlicher als zu Hause.
Erschütternd ist, dass 23,9 Prozent der Unfälle von Fußgängern verschuldet wurden. Ein deutscher Geschäftsmann hat vor einigen Wochen einen jüngeren Fußgänger erwischt, der bei Rot einfach auf die Straße lief, direkt vor seinen Wagen. Er starb noch an der Unfallstelle.
Abends ruft Wassilij an. Ob Heidi Interesse an einem Blaufuchsmantel habe. Er könne ihn für ein, zwei Tage für sie bei seiner Freundin, die das Exemplar loswerden will, zurücklegen lassen. Preisvorstellung: 12 000 Rubel. Heidi könne aber auch in Valuta zahlen. Sie lehnt das günstige Angebot höflich ab. Ein Blaufuchsmantel ist im Moment nicht das, was sie sucht.
Unser Betriebsausflug führt uns zuerst nach Peredelkino. Wir schauen uns die kleine Kirche im Ortskern an und pilgern anschließend zum Grab von Boris Pasternak. Marcel Reich-Ranicki hat sich offenbar für heute frei genommen. Also können wir ihn auch nicht fragen, ob im Pasternak-Haus schon der Remont abgeschlossen ist. Ist er nicht, wie wir gleich sehen werden. Aber das Haus sieht ja auch von außen ganz nett aus. Man hat natürlich schon ein steigendes Bedürfnis, endlich einmal von einem der Innenräume aus einen Blick in den Garten zu werfen. Heute ist das insofern nicht weiter tragisch, als dass wir umso zügiger unser eigentliches Ziel, die kleine Stadt Swenigorod an der Moskwa, ansteuern können. Sie liegt etwa 45 Kilometer nordwestlich von Peredelkino. Es kann nicht allein an dem plötzlichen Kälteeinbruch liegen, dass der von der Lage her beschauliche Ort verwaist wirkt. Viele der alten, verfallenen Häuser sind nur zum Teil bewohnt, die Fenster oft mit Brettern vernagelt. Wir kommen an einem alten steinernen Denkmal vorbei, das eine stolze Mutter mit zwei kleinen Kindern zeigt. Abgesehen davon, dass der Sockel kurz vor dem Zusammenbruch steht, entbehrt das Denkmal nicht einer gewissen Komik. Die sitzende Mutter stützt mit beiden Händen ein unbekleidetes, dralles Mädchen, das seine Hände in die Höhe streckt, damit es nicht sein Gleichgewicht verliert. Ein ebenso draller kleiner Bursche, der bis auf eine unförmige Unterhose auch nackt ist, schaut strahlend zu seiner Mutter empor. Er kann seine innere Haltung leider nicht durch eine freudige Armbewegung unterstützen, weil beide Arme mittlerweile dem Zahn der Zeit Tribut zollen mussten. Sie sind direkt unterhalb der Schultern abgetrennt. So steht sein strahlendes Gesicht in krassem Widerspruch zu den Armstümpfen. Der Gesamtzustand dieses gewiss als Allegorie gedachten Ensembles hat, nicht zuletzt wegen einiger Einschusslöcher, längst die eigentliche Aussage des Künstlers überdeckt und zu neuen, zeitgemäßen Interpretationen geführt.
Vor einem Gutshaus, das schon bessere Zeiten gesehen hat, steht ein Panjewagen, in den ein junger Mann, der eine Kombination aus Militär- und Zivilkleidung trägt, Sand aus dem angrenzenden Park hineinschaufelt. Es wird noch eine Weile dauern, bis der Wagen voll ist, denn der Boden ist hartgefroren.
Die weiträumige Anlage des Klosters Savino-Storoschewski befindet sich gerade in Remont. Aber größere Abschnitte, die hervorragend restauriert wurden, sind schon für Besucher freigegeben. Wir besichtigen zuerst das Museum, laufen anschließend die Wehranlage mit den massiven Wehrtürmen ab und picknicken auf der Museumstreppe, weil es draußen unangenehm feuchtkalt ist. Das Schmuckstück, die Dreifaltigkeits-Kirche, ist noch nicht restauriert. Da müssten wir in einigen Jahren noch einmal wiederkommen. Vielleicht ist bis dahin auch das allegorische Denkmal in seinen ursprünglichen Zustand gebracht worden.
Wie immer abwechslungsreich ist der abschließende Spaziergang durch eine größere Holzhaus-Siedlung.
Jetzt steht noch ein kleiner Abstecher in das Dorf Sacharowo auf dem Programm, zu einem Haus, in dem Puschkin gewohnt hat. Bis wir diesen Ort erreicht haben, dauert es einige Zeit, weil sich unser Busfahrer Igor, ein Namensvetter unseres Igors, verfahren hat. Umkehren kommt nicht in Frage. So schnell gesteht man einen Fehler nicht ein. Deshalb fährt er nach Gefühl auf Umwegen in die Richtung, wo er das Dorf vermutet. Er tut so, als sei dieser Weg genau der richtige. Als wir unerwartet durch eine feine Gegend mit gediegenen Doppelhäusern auf großen, gepflegten Grundstücken fahren und auf einem dieser großen, gepflegten Flächen ein ausgemustertes Kampfflugzeug zur Schau gestellt ist, wird auch dem Letzten bewusst, dass wir durch eine edle Datschensiedlung hoher Militärs kutschieren. Herr Knötzsch wirkt ein wenig beunruhigt, und als er Schilder am Straßenrand sieht, die auf einen Truppenübungsplatz hinweisen, zeigt er deutliche Anzeichen von Nervosität. Ein kleiner Schulbus mit eindeutig zu identifizierendem Nummernschild hat hier garantiert nichts zu suchen. Jetzt bekommt Igor den Stress, den er verdient hat. Wir können von Glück reden, dass keine Menschen auf den Straßen zu sehen sind, geschweige denn schwarze Limousinen von einem der Dienste oder der Miliz. Sonst wären wir längst von Schützenpanzern umzingelt und wenig später wegen Verdachts der Spionage zu Einzelverhören in kargen, feuchten Verhörräumen verdammt. Aber alles endet gut.
Als wir endlich vor Puschkins ansehnlichem Wohnhaus stehen, stellt sich schnell heraus: Dieses Haus befindet sich gerade in Remont.
Der zerknirschte Igor soll uns nun nach Moskau zurückbringen. An einem Bahnübergang bewundern wir minutenlang den Fahrer eines Sattelschleppers, der auf seinem überlangen Auflieger - mit niedriger Ladekante und ungesichert - riesige Betonelemente geladen hat. Der Bahnübergang hat eine starke Ähnlichkeit mit einer gefährlichen Kraterlandschaft. Die spiegelglatten Schienen, die, wie gewohnt, vom Regen an einigen Stellen ausgewaschen sind, und der hartgefrorene Boden sind für alle Autofahrer jedes Mal aufs Neue eine Herausforderung. Mehrfach muss der Fahrer, der bei offener Scheibe seinen Ellbogen herauslehnt, mit dem großen, schwer beladenen Truck vor- und zurückrangieren. Es will sich einfach keine sichere Stelle finden, diesen Übergang zu meistern, ohne dass er Gefahr läuft, Ladung zu verlieren. Die Krater sind so zahlreich und so breit, dass die Betonteile leicht ins Schlingern geraten. Das Führerhaus schwankt wie ein Schiff in Seenot. Hoffentlich kommt kein Zug. Der Fahrer steigt aus und sondiert die Lage. Er hat eine Idee. Mit einem prüfenden Blick in den rechten Außenspiegel lenkt er sein Gefährt so weit auf den Seitenstreifen, wo er keine Gefahrenpunkte vermutet, dass es ihm am Ende gelingt, den Bahnübergang zu passieren. Der Seitenstreifen sieht anschließend aus wie frisch gepflügt.
An den beiden folgenden Bahnübergängen geschieht nichts Aufregendes. Dass diese Fernstraße - auf dem Hinweg waren wir weitgehend ganz beschaulich auf Landstraßen unterwegs - es auch zwischen den Bahnübergängen in sich hat, sehen wir wenig später. Bei einem schweren Unfall sind drei Lastwagen ineinander gekracht und von der Straße geschleudert worden. Ein blutgetränkter Fahrersitz liegt am Straßenrand. An einer Raststätte brennt ein Ölkanister. Ältere Autowracks liegen an einigen Stellen herum - offenbar als Warnungen vor zu riskantem Fahren.
Der Tag soll mit einem Abendessen im Slawianskij Basar abgerundet werden. Der Chef-Platzanweiser weiß nichts von einer Anmeldung einer deutschen Gruppe um 18 Uhr für zwanzig Personen. In seiner Buchführung kann er nur eine Reservierung für 18 Personen um 20 Uhr finden. Für Angehörige der französischen Botschaft. Schon nach einer Dreiviertelstunde gibt der Meister uns großherzig das Signal, ihm zu einer eilends hergerichteten Tafel zu folgen, wo wir uns niederlassen dürfen. Schon während der Wartezeit im Vorraum wurden wir wiederholt Zeugen mehr oder weniger verdeckter Schwarzmarktaktivitäten. An einem Tisch direkt neben der Bühne lässt es sich eine Händlergang gut gehen. Die Sektkorken knallen, der Schampanskoje fließt in Strömen. Die Stimmung ist bestens. Die Geschäfte scheinen gut zu laufen. Wo sie ihre Vorräte deponiert haben, erkennen wir nicht. Immer wieder springt jemand auf, wenn er meint, einen potentiellen Kunden erspäht zu haben, und macht sich kurz darauf mit seiner Ware an den vermeintlichen Interessenten heran. Hier und da, besonders im schummrigen Garderobenbereich, tummeln sich auch einige junge Frauen. Sie kümmern sich weniger um die Garderobe, sondern bieten einen Service der besonderen Art, und das recht ungeniert. Das Varieté-Programm ist an diesem Abend traurig. So hat das ganze Ambiente heute den Hauch von Dekadenz.
Am ersten Ferientag laufen wir in größerer Besetzung im Waldrestaurant in Archangelskoje auf: Gisela (aus Kiel) mit ihrem Bekannten Juan aus Kolumbien, der in Moskau Chemie studiert, Hellmuth und Roswitha, Astrid und Sergej (nicht zu verwechseln mit unserem gleichnamigen Autowäscher und Improvisationsgenie), die wir noch nicht kennen, sowie ein Ehepaar, der Mann ist Deutscher, und seine Frau, die den wohlklingenden Namen Dora Meyer de Voltaire besitzt, stammt aus Bolivien. Die Kinder der beiden gehen auf die deutsche Schule. Das Essen ist genauso schmackhaft wie bei unserem ersten Besuch, der für uns schon ewig lange zurückliegt. Einen Wachtelengpass gibt es offenbar nicht. Die Gruppe labt sich an Wachteleiern und gebratenen Wachteln. Der Wodka wird in einer ansehnlichen Karaffe kredenzt und landet in dazu passenden, zierlichen Schnapsgläsern, die ein für dieses Land ungewohnt geringes Fassungsvermögen besitzen. Ich frage einen der Ober, ob ich einen Satz Gläser plus Karaffe erwerben könne. Kein Problem.
Livemusik setzt erst später ein, nicht ganz so aufdringlich wie damals. Zu Elton-John-Songs, Lambada und russischen Rockschnulzen begeben sich hauptsächlich die einheimischen Gäste aufs Tanzparkett. Gegen 24 Uhr ist abrupt Schluss mit der Musikberieselung. Die Tische werden abgeräumt. Plötzlich flammt grelles Neonlicht auf. Bevor uns die Wischlappen des eifrigen Personals um die Ohren fliegen, gehen auch wir als die letzten Gäste. Draußen bestätigen wir uns gegenseitig, wie schön doch dieser Abend war.
Der Kellner, der uns die Karaffe mit den Gläsern verkauft hat, war so freundlich, das Gefäß bis zum Anschlag mit Wodka zu füllen, damit wir auf dem Nachhauseweg nicht verdursten. Ein Verschluss, etwa ein Korken, war auf die Schnelle nicht zur Hand. So hält Heidi nun die offene Karaffe so in ihrer Hand, dass während der Rücktour ja kein Tropfen verloren geht. Nach fünfzig Metern Fahrt taucht aus der Dunkelheit ein Milimann vor aus auf. Ausweiskontrolle. Er reicht ohne Beanstandung die Dokumente zurück, wirft noch einen prüfenden Blick ins Wageninnere und fragt: “Schampanskoje?“ Natürlich nicht! Er ist zufrieden und lässt uns abrauschen.
Am nächsten Tag erwischen wir einen Autoknacker bei der Arbeit, als wir am Hotel National vorbeischlendern. In Sekundenschnelle ist die Beifahrertür geknackt. Wir bleiben stehen und beobachten sein Tun. Da begegnen sich unsere Blicke, und sein Gewissen meldet sich. Er steigt nicht in den alten Moskwitsch ein, sondern bringt seelenruhig alles wieder in Ordnung. Sogar das heraushängende Fenstergummi fummelt er wieder in die Nut zurück, bevor er sich davontrollt.
Heute ist Posttag. Vor der Türkeireise fahren wir schnell noch an der Botschaft vorbei und werfen einen Blick ins Postfach der Schule. Dieter hat uns geschrieben und die Kopie einer Hotelreservierung für Istanbul beigelegt.
Morgen, um 10:15 Uhr, geht unser Flug.