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Marina und das Gloria

23. April – 27. April 1990

Der Zug verlässt den Bahnhof auf die Sekunde genau. Die Waggons machen einen komfortablen Eindruck. Teppichauslegeware auf den Gängen und in den Zweipersonen-Abteilen dämpfen die Schritte. Das vordere Abteil in jedem Waggon bleibt für das Servicepersonal reserviert. Fast immer sind es Frauen, die die Fahrscheine kontrollieren, für Ordnung und Sauberkeit sorgen, ein bescheidenes Frühstück servieren und in ihrem Kabuff ständig einen Samowar mit Holzkohle betreiben, um auf Wunsch heißes Wasser für Tee zu bringen. Frauen, die, wie die Schaffnerin, an verschiedenen Stellen des öffentlichen Lebens, zum Beispiel in Hotels, bestimmten Wohnanlagen und Museen, sitzen und Samoware betreiben, haben auch eine gewisse Aufsichts- und Kontrollfunktion. Deschurnajas, so nennt man sie im ganzen Land, gelten im Allgemeinen als resolut und unnahbar.

Ich teile mein geräumiges Abteil mit einem Chemiker, der zu einem Ärztekongress nach Tallinn eingeladen ist. Pepsi-Cola, Mineralwasser und Teetütchen liegen aus und sind im Preis inbegriffen. Apfeltee ist hier unbekannt. In Russland wird nur Tschai, schwarzer Tee, getrunken. Der Zug zuckelt in gemütlichem Tempo Richtung Norden. Deshalb dauert die Fahrt auch 14 Stunden. Wir fahren vorbei an Sawidowo, wo Heidi und die Kinder vor wenigen Wochen noch auf ihren Langlaufskiern unterwegs waren. Erster Halt ist in Kalinin. Auf dem Bahnsteig bieten ältere Frauen Obst, Gurken, Sauerkraut und Gläser mit Eingemachtem zum Verkauf.

Die meisten Russen haben sich schon bettfein gemacht. Viele von ihnen schlurfen in Badelatschen und Jogginganzug durch die Gänge, um vor geöffneten Fenstern zu rauchen. In den meisten Abteilen wird das von zu Hause mitgebrachte Abendmahl eingenommen. Auf dem Gang komme ich mit zwei Usbeken ins Gespräch. Sergej und Bachram, der gern mit Bach, „wie der Komponist“, angesprochen werden möchte. Sie laden mich in ihr Abteil ein. Ich sitze noch nicht ganz, da wird mir ein Plastikbecher mit Cognac gereicht. Bach erhebt seinen Becher, wir trinken darauf, dass wir uns kennen gelernt haben. Nastarowje. Beide wickeln ihre Vorräte aus: Brot und Wurst, Lauch und Gurken. Mit einer Art russischem Kampfmesser schneidet Sergej Brot und Wurst in mundgerechte Happen. Ich solle mich bedienen. Schnell sind wir bei der allgemeinen politischen Großwetterlage und nach dem übernächsten Trinkspruch bei der Entwicklung der Sowjetunion und beim Mauerfall. Leidenschaftlich diskutieren wir über die Entwicklung der Menschheit von der Antike bis zur Gegenwart. Deshalb ist der Cognac bald leer. Wie auf Bestellung stößt die Deschurnaja dazu. Bach setzt einen verschwörerischen Blick auf und redet auf sie ein. Wenig später gibt es Nachschub. Die Schaffnerin trägt Cognac und lecker aussehende grobe Würstchen auf. Gegen Mitternacht bringt sie Schampanskoje, Gurken und Radieschen vorbei. Bach schwärmt etwas wehmütig von usbekischen Fressorgien, von geschlachteten Schafen und Schaschliks. Beide sind seit Tagen mit der Eisenbahn unterwegs. Sie nennen sich Bisnismeni, die in Tallinn Geschäfte machen wollen; welche genau, bleibt im Dunkeln. Der Gesprächsfaden reißt nicht eine Sekunde ab. Mit Beteuerungen beiderseits, sich unbedingt in allernächster Zeit zu besuchen, darf ich das Abteil nach fast fünf Stunden verlassen. Wie es wohl meinen mir anvertrauten Schülern gehen mag? Das frage ich sie jetzt, um halb zwei, lieber nicht mehr.

Der Chemiker teilt mit seinem Taschenmesser zum Frühstück seine Vorräte auf und schiebt sie in die Mitte des Klapptisches. Ich steuere Bananen dazu bei. Die Deschurnaja erscheint mit heißem Wasser für den Tee. Sie kann es sich nicht ganz verkneifen, mir mangelnde Aufsichtspflicht vorzuwerfen, womit sie natürlich nicht ganz unrecht hat. Sie habe es in der Nacht nicht so leicht gehabt, die Schülerinnen und Schüler an die strengen Nachtruheregeln zu erinnern. Da sie so milde mit mir ins Gericht geht, weiß ich, dass meine Gruppe sich altersgemäß ordentlich verhalten hat. Außerdem spüre ich, dass sie mir Verständnis für meine nächtliche Eskapade entgegenbringt. Ich danke ihr für ihren Einsatz und frage, ob sie Appetit auf eine Banane habe. Hat sie.

Vom Tallinner Bahnhof gehen wir zu Fuß in die fast menschenleere Altstadt. Bei blauem Himmel und Frühlingstemperaturen. Im winzigen Hotel Balti werden wir schon erwartet. Leicht irritiert wirkt die Dame an der Rezeption dennoch. Sie überfliegt ihre Unterlagen und teilt uns mit, dass zwar eine Reservierung vorliege, aber nur für vier Personen. Alle anderen Zimmer seien leider belegt. Sie wolle versuchen, uns anderswo unterzubringen. Nun folgt eine Reihe fast endloser Telefonate, die knapp eine Stunde andauern. Ohne Erfolg. Wir dürfen unser Gepäck neben der Treppe so stapeln, dass niemand der Gäste darüber stolpern kann, sollen einen kleinen Stadtbummel machen und in einer Stunde wiederkommen. Vielleicht ergebe sich ja noch etwas bis dahin. Sie fragt mich, ob ich wüsste, dass Westler in Hotels nur gegen Valuta übernachten könnten. Das ist mir neu. Ich wiederum frage die deutsch sprechenden Hotelgäste, ob sie tatsächlich mit Mark oder Dollars zahlen müssten. Nein, in Rubeln, lautet die Antwort, dies Hotel sei fest in DDR-Hand.

Ohne den Kopf wirklich frei zu haben, bummle ich mit meiner Gruppe durch die verkehrsfreie, leere Altstadt. Die Fassaden der meisten schönen Altstadthäuser sind rissig, der Putz bröckelt, Fenster und Türen sind dringend renovierungsbedürftig, viele der historischen Gebäude dagegen zu neuem Glanz erstrahlt. In einem Joint-Venture-Eisladen gibt es Pinguin-Eis - ohne Warteschlange. Ein Trompeten-Lambada schallt durch die Gassen.

Mona, die Tochter von Herrn Koljonen, holt ihre Alarmliste mit Adressen und Telefonnummern hervor, die ihr Papa ihr mitgegeben hat. Ganz oben auf der Liste rangiert das Restaurant Gloria, das hier ganz in der Nähe liegt. Marina, die junge, dynamische Chefin, organisiert in kürzester Zeit für uns eine 90-minütige Stadtführung und macht uns Hoffnung, dass sie für uns etwas organisieren könne.

Aus etlichen Fenstern flattern estnische Flaggen. Das Straßenbild ist friedlich. Es gab bisher nirgendwo Anzeichen einer Krise, kein verstärktes Milizaufkommen auf dem Bahnhof, keine Militärfahrzeuge. Während einer Teepause gehe ich in den gegenüberliegenden Buchladen, um Kartenmaterial für unsere geplanten Reisen zu kaufen. Mit einem sicher verschnürten, schweren Paket verlasse ich das Geschäft wieder. Ich konnte einfach nicht an einer deutschsprachigen, 20-bändigen Taschenbuchausgabe eines Brockhaus-Lexikons von 1989 zum erschwinglichen Preis von 30 Rubeln vorbeigehen. Am Sozialverhalten meiner Gruppe muss ich noch arbeiten. Niemand will mir das sperrige Gepäckstück abnehmen.

Die orthodoxe Alexander-Newskij-Kathedrale, an der wir vorbeikommen, ist in meinem gerade erworbenen aktuellen Stadtplan nicht eingezeichnet. Es fällt auf, dass viele Geschäfte und Ausschilderungen zweisprachig sind. Der Fahrer eines Militärjeeps, der am Straßenrand parkt, ruht sich auf den Vordersitzen bei einem Nickerchen aus. Seine Stiefel ragen aus der geöffneten Fahrertür hervor. Ein Schüler schlägt vor, notfalls mit einem Taxi nach Hause zu fahren. Wir fragen einen wartenden Taxifahrer, was er für eine Fahrt nach Moskau nehmen würde. „Tausend Rubel, hundert Dollar, zehn Dosen Bier und eine Neonjacke“, lautet seine Antwort. Estnischer Humor.

Marina hat eine Bleibe für uns gefunden, etwas außerhalb der Stadt. Sie müsse noch einige private Taxifahrer für unseren Transfer anrufen. In der Zwischenzeit könnten wir unser Gepäck aus dem Balti abholen. Die hilfsbereite Dame an der Rezeption kommt uns mit einer Geste des Bedauerns entgegen. Gott sei Dank, denke ich, behalte es jedoch für mich.

Anstelle der bekannten Taxi-Schilder haben die privaten Fahrer ihren Namen auf ihre Autodächer montiert. Sie fahren uns in den Vorort Pirita und setzen uns am Segelsportzentrum ab. In der Tallinner Bucht fanden die Segelregatten während der Olympischen Spiele 1980 statt. Das kleine olympische Dorf hat sein architektonisches Vorbild in Kiel-Schilksee, wo acht Jahre zuvor die olympischen Regatten ausgetragen wurden. Unser Hotel Sport liegt am Strand. Der Chef teilt uns feierlich mit, wir seien seine Gäste - als Entschädigung für die kleine Reservierungspanne. Estnische Großzügigkeit.

Das reichhaltige Frühstück, eine direkte Fortsetzung des gestrigen Abendessens, ist nicht jedermanns Sache. Es gibt Würstchen mit Sauerkraut, Räucherfisch und Kuchen, dazu süßen schwarzen Tee. Umso mehr Spaß haben die Schülerinnen und Schüler im Pool des Hotels.

Für diesen Vormittag hat Herr Koljonen einen Schulbesuch ausgehandelt, damit die Kinder nicht zu schnell in den Urlaubsmodus abgleiten. Wir wandern am Strand entlang bis ins Zentrum zur Stadtschule und hospitieren dort in einer achten Klasse mit dreizehn Schülerinnen und Schülern im Fach Englisch. Es handelt sich um eine Schwimmleistungsgruppe. Zu Beginn der Stunde führt uns die Lehrerin vor, wie fit ihre Kinder schon in Englisch sind. Wir hören Kurzvorträge über Estland mit anschließendem Frage-und-Antwort-Spiel als Lernkontrolle. Anschließend darf sich meine Gruppe im Raum verteilen. Während auf Englisch weiter kommuniziert wird, unterhalte ich mich mit der Lehrerin. Sie hält mir ein leidenschaftliches Plädoyer für die längst fällige wirkliche Unabhängigkeit Estlands. Optimistisch setzt sie auf Gorbatschows Hilfe. Schon bald, so hofft sie, werde es drei baltische Staaten geben.

Marina hat für uns zum Mittagessen um 15 Uhr einen Tisch im Sub Monte reserviert. Hier kann man à la carte speisen. Ich entscheide mich für das Tagesmenü: pürierte Kartoffelsuppe, Tomaten-Zwiebel-Salat, zarte Matjesfilets in Sahnesoße und Châteaubriand mit Pommes frites. Dazu ein Pilsener Urquell. Das alles für 15 Rubel; da kann man nicht meckern.

Im Schaufenster eines Kommissioni, so heißen die Second-Hand-Shops in der UdSSR, wird ein Neckermann-Katalog auf Finnisch für schlappe 65 Rubel angeboten. Diese Summe würde ich lieber im Restaurant Sub Monte verschwenden oder für zwei weitere Brockhaus-Ausgaben hinlegen.

Auf Mayas Liste steht angeblich auch der Name einer Bar mit Live-Musik. Die besuchen wir nun, um Herrn Koljonen eine Rückmeldung über dieses Etablissement zu geben. Während die Schüler sich auf der Tanzfläche abarbeiten, bittet mich ein Este mittleren Alters um Feuer. Zum Dank dafür lädt er mich zu Kaffee und Cognac ein. Als er das Cognacglas mit einem Trinkspruch in der Hand hat und wir uns zuprosten, klingeln bei mir die Alarmglocken. Ich denke an die mahnenden Worte der Zugschaffnerin und nehme mir vor, meine Aufsichtspflicht vor ein mögliches Trinkgelage zu stellen. Sein erstes Glas Cognac hat er wohl schon eine Weile hinter sich. Sein Redefluss ist kaum zu bremsen. Und er freut sich, seine Englischkenntnisse anzuwenden. Ich höre zu, während ich mit einem Auge das Geschehen auf der Tanzfläche verfolge. Von Haus aus sei er gelernter Diplomat, fast Deputierter, aber aus Russland „ausgewiesen“, wie er sich ausdrückt; jetzt sei er wohlhabender Bisnisman. Er wolle uns alle in seine große Wohnung zum Feiern einladen. Mir wird das alles zu viel. Zum Glück erlösen mich meine fünf Jungen von diesem anstrengenden Schwätzer. Sie sind total aufgedreht und zeigen mir signierte Fotos einer attraktiven jungen Frau, die sie eben gerade zufällig kennen gelernt haben. Sie sei angeblich das erste im westlichen Ausland arbeitende russische Model. Das Schärfste sei, dass sie im selben Zug wie wir zurück nach Moskau fahren werde.

In Rocca al Mare, nur wenige Kilometer westlich von unserem Hotel, liegt ein Freilichtmuseum, das vor 26 Jahren eröffnet wurde. Nach der Führung durch ein Konglomerat aus alten Bauernhäusern, Fischerhütten, Landarbeiterhäusern, Speichern und Windmühlen fahren wir mit dem Stadtbus zurück in die Altstadt. Demonstranten haben sich anlässlich des vierten Jahrestages von Tschernobyl zu einer Trauerkundgebung versammelt.

Marina hat uns zum Abendessen ins Gloria eingeladen. Während des Essens müssen wir eine schauerliche Musical-Revue über uns ergehen lassen. Wenig später wechselt das Programm. Einige stark geschminkte, spärlich bekleidete junge Frauen beginnen zu lauter Discomusic vom Band in Formation zu tanzen. Es sieht aus wie eine Kombination aus Jazz-Dance und Aerobic. Sie tanzen sich durch die Tischreihen bis zu uns vor. Meine Jungs werden nervös, als ein Mädchen in ihrem hautengen, glitzernden Dress, ihre langen Haare zurückwirft und sich, ekstatisch zuckend, vor ihnen verrenkt. Sie wissen nicht, wohin mit ihren Augen. Mir kommt diese Situation ziemlich unangemessen vor. Als die Show endlich ein Ende findet, wird die Tanzfläche freigegeben. Und dort entdecke ich einen alten Bekannten, der sich erstaunlich gelenkig vor seiner Tanzpartnerin produziert. Es ist Bach. Ich suche schon prophylaktisch nach Ausreden, falls er mich sieht und anschließend an die Bar schleppen will. Aber heute hat er keine Augen für seine Umgebung. Er ist anderweitig beschäftigt. Wahrscheinlich gehört dieser Ausflug ins Gloria zum Bisnismeni-Begleitprogramm.

Wir trampen in Kleingruppen ins Hotel Sport zurück. Nach dem Einsteigen fragt unser Fahrer, aus welchem Deutschland wir kämen: „West oder Ost“? Unsere Antwort stellt ihn sichtbar zufrieden. Er weigert sich, Geld für die Fahrt anzunehmen.

Am letzten Tallinn-Tag verstauen wir unser Gepäck - meines ist nun doppelt so schwer wie vorher - im Untergeschoss des Bahnhofs. Obwohl wir passende Münzen für die Schließfächer haben, sollen wir unbedingt den neuen Geldwechselautomaten testen. Dazu müssen eine Kodenummer und die Fachnummer eingegeben werden. Das dauert.

Der Zug fährt erst am Abend. Jetzt wäre der ideale Zeitpunkt für die ausführliche Führung durch die Hühnerfarm, die uns Herr Koljonen ans Herz gelegt hatte. Zu spät. Vor wenigen Minuten haben wir uns auf individuelle Freizeitgestaltung geeinigt. Zwischendurch treffen wir uns zum Abschiedsessen im Gloria. Marina scheint auch ein wenig erleichtert zu sein, als wir uns verabschieden. Sie betont aber ausdrücklich, falls wir noch einmal nach Tallinn kämen, so seien wir ihre Gäste.

Die Einfahrt in die verkehrsfreie Altstadt kostet übrigens jedes Mal einen Rubel. Das kann sich bei dem gegenwärtigen Durchschnittseinkommen kaum jemand leisten. Auf den Straßen werden Unterschriften für die Unabhängigkeit Estlands gesammelt. Die Liste sollen öffentlichkeitswirksam an den Obersten Sowjet geschickt werden.

Der Zug fährt ab, wieder auf die Sekunde pünktlich. Keine Spur von Bachram und seinem Kumpel Sergej. Ich habe mir vorgenommen, mich im Verlaufe des Abends noch einmal meinen Schülerinnen und Schülern zu widmen. Die Jungen werden wahrscheinlich den ganzen Zug durchkämmen und nach ihrem Model fahnden. Mich interessieren die anderen Waggons nicht so sehr.

Remont

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