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Faszination Feuerwerk

28. April – 9. Mai 1990

Mein mitreisender Russe sieht am frühen Morgen ausgeschlafen und blendend gelaunt aus. Nach einer völlig zerschnarchten Nacht kann ich da nicht mithalten. Jetzt weiß ich, wie der Begriff russischer Bär entstand. Die Morgentoilette im völlig versifften Bahnklosett ist nicht gerade ein Zuckerschlecken. Es herrscht arktische Kälte, weil das Zugfenster bis zum Anschlag geöffnet ist. Anderenfalls könnte man es hier nur mit einer Gasmaske aushalten. Dann wiederum müsste man aufs Zähneputzen verzichten.

Am Zusammenfluss zwischen Schoscha und Wolga sehe ich auf zusammengezimmerten Flößen und Lastwagenschläuchen Angler. Wir sind also erst auf der Höhe von Twer. Das heißt, dieser Zug hat deutlich Verspätung.

Auch der Zug aus Helsinki hat Verspätung, sagen uns die finnischen Gäste, Winfried, Jürgen und Susanne von der Deutschen Schule Helsinki, die am Mittag eintreffen. Zwischen unseren Schulen besteht seit Jahren eine Partnerschaft. Man besucht sich regelmäßig einmal im Jahr für zwei, drei Tage. Wir fahren mit ihnen zum Flohmarkt in den Ismailowski-Park.

Der Rote Platz ist schon für die Parade am ersten Mai festlich geschmückt. Ein 15 Meter hohes Lenin-Banner hängt vom Historischen Museum herab. Es ist nicht das einzige in dieser Größe. Fast alle Häuserfassaden rund um den Platz sind mit riesigen Stoffbahnen verhängt. Von den Dimensionen her hätte Christo hier am Werk gewesen sein können. Vom GUM aus blicken Marx, Engels und Lenin über den Platz auf den Kreml. In den fest installierten Fahnenhalterungen stecken rote Fahnen, deren Tuch sich vom Boden aus bis in über zehn Meter Höhe erstreckt. Unsere Gäste sind überwältigt von dieser Gigantomanie. Wir auch. Zum Essen gehen wir ins National, von dem aus wir einen Teil der Platzes überschauen können. Musikalisch wird das Essen von einem Duo, bestehend aus Geige und Gitarre, angenehm ruhig begleitet.

Bei schönstem Wetter führen wir den Finnen unser Lieblingsdorf Ilinskoje vor und gehen anschließend an der Moskwa spazieren. Die lebensgefährliche Holzbrücke lassen wir links liegen. Nachdem wir Susanne, Jürgen und Winfried abends am Leningrader Bahnhof verabschiedet haben, zieht es uns noch einmal zum Roten Platz. Im Dunkeln ist der Anblick der angestrahlten Riesenbanner noch imposanter als am Tag.

Sergej hat unseren Fernseher funktionstüchtig bekommen. Der Empfang ist in etwa vergleichbar mit dem über die Zimmerantennen im Deutschland der fünfziger Jahre, wo immer eine Person zum Antennendienst vergattert war. Für die Feinjustierung konnte es manchmal auch hilfreich sein, das Gerät zu drehen oder zu kippen. In solchen Fällen musste dann die Sitzanordnung angepasst werden. Im Prinzip darf sich von dem Augenblick an, wo das Bild einigermaßen rauscharm und verzerrungsfrei ist, niemand mehr im Raum bewegen. Wer das dennoch tut, macht sich schnell unbeliebt. Wir sind anspruchslos, da wir in den Nachrichten nur den Bericht über die Maiparade sehen möchten. Sogar die Feierlichkeiten aus Tallinn blendet man kurz ein. Über die Pfiffe, die es bei der Rede Gorbatschows gegeben hat, erfahren wir aus den Nachrichten der Deutschen Welle. Die Hauptmeldung im Radio ist aber viel erschütternder: Es hat ein Messerattentat auf Oskar Lafontaine gegeben.

Für das Wochenende hat die Pamjat Anschläge, sie spricht offen von Pogromen, auf jüdische Familien und Einrichtungen angekündigt. Etliche Juden sollen daher die Stadt verlassen haben. Überall ist verstärkte Polizeipräsenz zu beobachten, auch bei uns in der Wawilowa. Die Ringstraße ist für zwei Tage für Staffelläufe und diverse Radrennen gesperrt. Auch dort ist ein starkes Polizeiaufgebot zu sehen.

Am Sonntag steigt das Thermometer auf 26 Grad. Jetzt beträgt das Temperaturgefälle zwischen unserer Wohnung und draußen nur noch 2 Grad.

Irina kann mich immer noch nicht auf ihre Seite ziehen. Im russischen Fernsehen hätten inzwischen viele seriöse Menschen ihre Erlebnisse mit Ufos und Außerirdischen zum Besten gegeben. Ob ich denn nicht wenigstens einmal in eine Sendung hineinschauen wolle! Sie legt einen Zeitungsausschnitt mit einem Artikel über einen Poltergeist inclusive Fotos auf den Tisch, erschienen in der Moskauer Abendzeitung. Ganz allmählich bezieht sie vorsichtig Stellung zu politischen Themen. Wir kommen auf die Situation Estlands zu sprechen. Sie meide das Baltikum, weil sie sich dort nicht traue, russisch zu reden. Von Jelzin und Ligatschow hält sie wenig; konkreter wird sie nicht. Ihre wirtschaftlichen Vorbilder sind die USA, Australien - da wohnten die Menschen so gut - und die BRD. Bevor Heidi mich ablöst und mit ihrer Russischstunde beginnen will, spielt sich folgender Kurzdialog ab:

Heidi:Es gibt Butter für 3,50 und 3,60 Rubel pro Kilo. Wo ist der Unterschied?
Irina:Die beste Butter kostet 3,80 Rubel pro Kilo.
Heidi:Und wo gibt es die?
Irina:Man bekommt sie nirgendwo.
Heidi:Also gibt es geheime Quellen?
Irina:(leichtes Schulterzucken, vielsagender Blick)

Der Tag der Befreiung ist in der UdSSR der 9. Mai. Grund dafür sind die unterschiedlichen Zeitzonen zwischen Berlin und Moskau. Der Vertrag, der die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht endgültig besiegelte, wurde in Berlin-Karlshorst am späten Abend des 8. Mai unterzeichnet. Für uns ist dieser Feiertag ein Tag der Befreiung von der Schule, weil, zum zweiten Mal in dieser Woche, die gesamte Ringstraße wegen der Militärparade auf dem Roten Platz abgeriegelt ist. Wir werden es verkraften.

Ganz Moskau ist auf den Straßen, um dieses Ereignis zu feiern. Die Stadt ist mit Fahnen und Bannern geschmückt. Tausende Soldaten, darunter viele Veteranen in Uniform mit ordengeschmückter Brust, und zehntausende Menschen versammeln sich am Abend auf den Leninbergen, von wo aus man den besten Überblick hat auf mehrere synchron ablaufende Feuerwerke an zentralen Punkten der Stadt. Wir erleben dieses grandiose Schauspiel mit. Punkt 22 Uhr ist es so weit. An zehn Abschussbasen gleichzeitig sehen wir die Feuerwerkskörper hoch in den Abendhimmel steigen. Sowie die Raketen den toten Punkt erreicht haben und mit lautem Getöse in schönste Muster zerplatzen und zu Funkenregen zerstieben, erhebt sich ein frenetischer Hurra-Jubel, mit lustvoll langgezogenem, gerolltem R, und das nach jeder Abschusssalve aufs Neue. Die Euphorie, die ungezwungene Fröhlichkeit der Massen, steckt uns an. Aus einer Mischung aus Scham und Begeisterung fließen bei uns die Tränen.

Die Feuerwerkskörper werden unterhalb der Brüstung am Aussichtspunkt, neben der Sommer-Skischanze, aus zirka fünfzig flakähnlichen Geschossen abgefeuert, strengstens abgeschirmt vom Publikum. Bei jeder Salve bebt die Erde. An allen Abschussstellen Moskaus läuft exakt die gleiche Choreographie ab, fast eine halbe Stunde lang. Als dieses mitreißende Schauspiel vorbei ist, zünden einige Moskauer ihre eigenen mitgebrachten Leuchtkugeln und Raketen.

Später, während die Soldaten die abgekühlten Geschosse verpacken, dürfen Kinder auf das Gelände, um dort nach Hülsen zu suchen.

In Deutschland haben wir den Tag der Befreiung nie so gefeiert.

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