Читать книгу Remont - Werner Stolle - Страница 49

Оглавление

Ringen um eine Auskunft

28. Mai – 1. Juni 1990

Das dritte Feuerwerk in diesem Monat sehen wir von unserem Haus aus. Wir wussten gar nicht, dass eines stattfindet. Igor hatte uns am Morgen auf der Hinfahrt zur Schule zwar gesagt, wir sollten uns nicht über die vielen Soldaten in der Stadt wundern. Heute sei der Tag der Grenzsoldaten und der Afgantzi, der ehemaligen Teilnehmer am Afghanistan-Krieg. Wir müssen uns angewöhnen, jedes Mal, wenn eine feierliche Stimmung über der Stadt liegt, nachzuhaken, ob als krönender Abschluss des Tages ein Feuerwerk geplant sei. Tatsächlich wimmelt es tagsüber in der Stadt nur so von Soldaten; am Nachmittag, als wir einen Kurzspaziergang im Gorki-Park machen, ist die Stimmung unter ihnen sehr gelöst. Einige Bereiche sind abgesperrt. Hier findet am Abend ein großes Fest ihnen zu Ehren statt. Die meist noch recht jungen Veteranen lassen sich gern mit ihren Frauen und Freundinnen fotografieren, die unförmige Schirmmütze lässig in den Nacken geschoben, die geöffnete Uniformjacke so zur Kamera gewandt, dass ihre zahlreichen bunten Orden, die ihre Heldentaten widerspiegeln, ins rechte Licht gerückt werden.

Wer am heutigen Nachmittag unbedacht über das weite, grüne Gelände hinter unserem Haus bummeln möchte, muss damit rechnen, dass ihm womöglich Widerhaken um die Ohren fliegen. Eine Handvoll Angler trainiert das richtige Ausholen und Auswerfen der Angeln. Abgesperrt ist nichts. Die Kinder sollten sich lieber von diesem Trockentraining fern halten. Aber auch im Hof drohen Gefahren aus der Luft. Wer sich zu nah an den Häusern aufhält, kann nicht nur zufällig von umherfliegenden Pappkartons getroffen werden, sondern auch von Wasserbomben, die Scherzbolde gezielt von den Balkons werfen. Weniger witzig ist es, wenn eine volle Pepsi-Flasche direkt neben einem auf dem Boden zerplatzt, was Ingmar schon passiert ist. Gar nicht witzig ist es, wenn man von so einem Geschoss getroffen wird.

Der Regierungschef Nikolai Ryschkow setzt ab sofort eine Maßnahme um, die in groß angelegten Zeitungskampagnen schon angekündigt worden war: Wer in Moskau in staatlichen Läden einkauft, muss seinen ersten Wohnsitz in der Stadt nachweisen und kann sämtliche Waren, auch Lebensmittel, nur noch gegen Vorlage des Passes erwerben, und zwar rationiert. Ziel sei es, die Warenengpässe drastisch einzudämmen. Die Verantwortung dieser Mangelsituation liege nämlich nicht beim Staat selbst, sondern bei den geschätzten 1-2 Millionen Konsumpendlern aus der Moskauer Peripherie, die täglich mit Bussen angekarrt würden, um den Moskauern alles wegzuschnappen. Die neue Regelung soll auch für Ausländer gelten.

Prompt kommt es jetzt überall zu Hamsterkäufen. Vor den Geschäften bilden sich kurzfristig endlose Schlangen, um mit allen möglichen Tricks mehr Rationen zu ergattern, als einem zustehen. Zudem sollen die Preise um bis zu 300 Prozent ansteigen. Mit der direkten Umsetzung hapert es jedoch. Und das ist auch gut so. Kontrollen sehen wir nirgendwo. Auch keine verstärkte Milizpräsenz, um Aufruhr zu vermeiden. Die Preise sind mehr oder weniger stabil. Die Kassiererinnen verlangen bisher keine Ausweise. Ein Schnellschuss ohne Folgen?

Während eines Open-Air-Konzerts einer Sängerin in Tiflis seien Tausende von Zuschauern Zeugen minutenlanger Flugmanöver einer Tarielka geworden, die über den Köpfen der Menge gekreist sei. Außerdem hätten in der letzten Sendung über Ufos und Außerirdische zwei Personen, unabhängig voneinander, von Begebenheiten mit einer außerirdischen Blondinka berichtet, die mit ihnen einen Kurzflug ins All unternommen habe. Nach einem Blondinenwitz klingt das nicht, was Irina erzählt, eher nach spätpubertären Männerfantasien. Aber es wird noch spannender. Die Sowjets hätten kürzlich ein Top-Secret-Ereignis gelüftet. Sie hätten schon seit Jahrzehnten gewusst, dass es den Amerikanern 1947 gelungen sei, außerirdische Intelligenzen aufzuspüren und sogar ein menschenähnliches Exemplar einzufrieren. Tatsache sei, dass Außerirdische unter uns lebten, aber wegen ihrer perfekten Anpassung kaum zu identifizieren seien.

Tatsache ist, dass am Nachmittag in Moskau die Erde leicht bebte. Lampen und Bilder fielen herab. Die amerikanische Botschaft wurde vorsorglich evakuiert. Bei uns blieb alles hängen. Irina werde ich sicher nicht nach den Ursachen dieser Erschütterungen fragen.

Am folgenden Nachmittag erhalten wir unsere Reiseunterlagen für Jaroslawl. Adressat eines solchen Antrages, der offiziell Reisenote oder Verbalnote heißt, ist das Ministerium des Auswärtigen der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, Verwaltung für das Staatsprotokoll. In der Verbalnote 0572 heißt es:

„Die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland bezeugt dem Ministerium des Auswärtigen der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken ihre Hochachtung und beehrt sich, die in der Anlage bezeichnete Reise zu notifizieren.

Die Botschaft benutzt diesen Anlass, das Ministerium ihrer ausgezeichneten Hochachtung zu versichern.“

Unterschrift, Stempel

Kosten: 6 Rubel Bearbeitungsgebühr.

Wer mag so einen schnörkellos formulierten Antrag schon ablehnen, ohne auf der Stelle ein schlechtes Gewissen zu bekommen?

Da wir nach dem Einreichen des Reiseantrags überhaupt keine Reaktion bekamen, hatten wir die Autotour dorthin schon abgehakt. Schade eigentlich, dass uns ein Tag verloren geht, denn eigentlich hätten wir heute früh aufbrechen müssen, um am Abend das Hotel zu erreichen. Sicherheitshalber wollen wir in Jaroslawl anrufen lassen, dass wir erst einen Tag später kommen. So etwas geht einigermaßen zuverlässig nur über die Botschaft, weil das UPDK involviert ist. Dass so ein Vorgang Zeit kostet – Nerven wahrscheinlich auch – erfahren wir aus den Zwischenberichten von Herrn Kress, der netterweise für uns aktiv geworden ist. Auf der Kopie unserer Reiseerlaubnis steht zwar der Name des Hotels, jedoch keine Telefonnummer. Das kennt man schon. Ein kurzes Telefonat mit dem UPDK könnte da sofort Abhilfe schaffen, vorausgesetzt, es nimmt dort jemand den Hörer ab.

Zwischenbericht 1: Das UPDK ist nicht zu erreichen. Eine Stunde Arbeit für die Katz. Grundsätzlich ärgerlich ist, dass in der Sowjetunion seit Jahrzehnten keine Telefonbücher auf dem Markt sind. Da hilft nur noch die Auskunft, die man übrigens auch immer benötigt, um gnädigerweise eine Verbindung ins Ausland zu erhalten. Der Ton eines Telefonfräuleins ist grundsätzlich harsch. Obwohl Ausländer viel Geld für ein Ferngespräch zahlen müssen, fühlt man sich stets wie ein Störenfried, der es wagt, die Frauen während ihrer Arbeitszeit zu belästigen.

Zwischenbericht 2: Das Netz ist überlastet. Es kann Stunden dauern, bis die Überlastung abgebaut ist. Aber es gibt seit einiger Zeit eine jung-dynamische Auskunft-Kooperative. Die kostet deutlich mehr, soll aber schwer auf Draht sein. Bekannte von Herrn Kress loben deren Service und Umgangston.

Zwischenbericht 3: Die Kooperative benötigt zuerst unsere Rechnungsanschrift, bevor sie tätig werden kann. Auch einige andere Daten sind für sie von Interesse, obwohl sie kaum etwas mit dem Arbeitsauftrag zu tun haben. Wir geben Herrn Kress unser Okay, die Daten weiterzugeben.

Zwischenbericht 4: Die jungen Alternativen legen sofort los mit der Arbeit. Wenn sie die Telefonnummer des Hotels herausgefunden haben, wollen sie uns diese sofort persönlich durchgeben, damit sie uns dann zu dem Hotel durchstecken können. Das bedeutet nichts anderes, als dass wir nach Erhalt der Nummer den Hörer auflegen und anschließend die Kooperative anklingeln müssen, um eine Verbindung zu der gewünschten Telefonnummer herstellen zu lassen, die wir gerade von der Kooperative erhalten haben. Im Klartext heißt das: Sowohl bei der staatlichen als auch der alternativen Auskunft sind immer mindestens zwei Telefonate notwendig, um zum Ziel zu kommen. Herr Kress hat in unserm Sinne entschieden. Wir sollten noch ein wenig Geduld haben. Jaroslawl sei eine sehr schöne Stadt mit kultureller Vielfalt, tröstet er uns, hörbar erschöpft, und wünscht uns eine gute Reise.

Remont

Подняться наверх