Читать книгу Wasserstandsmeldung - Wilhelm Gruber - Страница 10

Оглавление

… jury imaginaire …

Niemand da?“ Dr. Patolak trifft Frau Buchholz am nächsten Tag nicht in ihrem Zimmer an. ‚Heute kein Interview, Papenburg hat Ruh‘, denkt er und amüsiert sich über den Zufallsreim. Er wäre mit den Fragen an der Reihe und hatte sich schon einige zurechtgelegt.

Einen Tag später ist er nur kurz auf der Station; OP-Tag. Am nächsten Tag sucht Frau Buchholz ihn im Arztzimmer auf. Er macht Mittagspause. Freudestrahlend verkündet sie, dass sie bald entlassen wird.

„Zweimal in der Woche soll ich zur Nachbehandlung kommen. Damit kann ich leben.“

„Da freue ich mich für Sie, Frau Buchholz. Aber heute sind Sie ja noch hier. Wären Sie fit für einen Gang zur Cafeteria?“

Linda nickt. Sie machen sich auf den Weg. „Ich würde gern etwas über Ihre Mutter hören. Es gibt doch sicher auch Gutes von ihr zu erzählen.“

„Aber ja! Ich hoffe, Sie haben keinen falschen Eindruck von ihr bekommen. Solange es nach ihrer Mütze ging, war meine Mutter eine herzensgute Frau; sie tat alles für mich. Ich trug als erstes Mädchen in der Klasse Lastexhosen, die kennt heute keiner mehr, hauteng, knallige Farben, der letzte Schrei. ‚Schinken in Lastex’, frotzelten die Jungen.

Meine Mutter machte alles mit: Zuerst waren es die Petticoats, auf die ich so stolz war. Dann bekam ich Nietenhosen, so hießen die ersten Jeans, und später konnten meine Miniröcke nicht kurz genug sein; wir gingen mit der Mode. Sie war schon damals eine Helikopter-Mutter. Ballett, Tennis, Klavier, es gab keinen Wunsch, den sie mir nicht ermöglicht hätte, abgesehen vom Reiten. ‚Nach Pferdestall stinken‘, sagte sie, rümpfte die Nase und schüttelte den Kopf. Dabei blieb es. Außer Katzen war nichts Vierbeiniges zugelassen. Sie liebte ihre ‚verschmusten Samtpfötchen‘, die ihr um die Beine strichen und die Krallen am Sofa wetzten. Ein Buch wollte sie über Katzen schreiben, nur ein passender Titel fiel ihr nicht ein. Mit dem Buch war es wie mit dem Messer ohne Klinge, bei dem auch noch der Griff fehlt. Ich habe nie eine Zeile davon gesehen. Ich interessierte mich auch nicht dafür; ihr Katzengespann war widerlich. Die Pickel in meinem Gesicht verschwanden erst, als ich auszog und das Studium in Hannover aufnahm. Seitdem mach’ ich einen Bogen um Katzen, daran hat sich bis heute nichts geändert.

Das Ärgerlichste für meine Mutter war der Studienwunsch Tiermedizin. Sie schlug mir alle möglichen anderen Fächer vor. Wenn wir diskutierten und nicht weiterkamen, hielt sie ihren Kopf schief und saß mit trübsinnigem Blick da, als hätte sie Essiggurken an Sauerkraut gegessen.

Meine Mutter wusste, was für mich gut war. Sie ließ keine Gelegenheit aus, mir das zu erklären. Manchmal fing sie schon zum Frühstück damit an, um beim Abendessen die Lektion zu wiederholen. Ich glaube, dass ich mein Studium nur zu Ende gebracht habe, um es ihr zu zeigen. Wenn ich ein halbes Jahr vor dem Examen alles hingeschmissen hätte, wäre sie mir jubelnd um den Hals gefallen. Als sie erkannte, dass das Schicksal Tiermedizin nicht mehr abzuwenden war, schaltete sie um und legte einen anderen Gang ein.

‚Hannover’, so tönte sie vor ihren Clubschwestern, ‚wir haben uns umgesehen; eben doch eine richtige Großstadt, erstklassige Angebote! Mit der Auswahl hier nicht zu vergleichen. Es steht in einer Reihe mit Alternativen wie München oder Berlin, nur dass es nach Hannover nicht so weit ist.‘

Wenn ich davon erzähle, klingt mir ihre Stimme noch jetzt im Ohr. Manchmal sehe ich sie vor meinen Augen wie im Film. Sie gefiel sich, bei den Damen ihres Bridge-Clubs die Vorzüge von Hannover zu preisen. Dabei war für mich diese Stadt alles andere als liebenswert.“

„Was haben Sie gegen Hannover?“, fragt David.

Linda winkt ab und redet weiter. „Zur Zimmersuche fuhr meine Mutter mit, obwohl ich sie nicht eingeladen hatte. Viel lieber wollte ich alles selbstständig in die Hand nehmen und ließ sie das auch merken, aber sie stellte sich taub. Andeutungen reichten nicht und einen handfesten Krach mochte ich nicht vom Zaun brechen. Ich brauchte nur einzusteigen. Sie fuhr mit mir von einem Maklerbüro zum nächsten. Etwas anderes kam für sie nicht in Frage. Von Anschlagtafeln an der Uni wollte sie nichts hören, von Annoncen in der Zeitung auch nicht; das kostete nur Zeit. Die Vorauswahl gab sie in professionelle Hände. Überall hatte sie vorher angerufen und wurde dementsprechend in Empfang genommen.

Sie ließ sich gern die Tür aufhalten, Frau Buchholz hier, Frau Buchholz da. So etwas genoss sie und entschied sich für ein teilmöbliertes Zweizimmer-Apartment. Das war für meinen Bedarf zu groß und zu teuer, aber sie genehmigte es mit geübtem Gönnerblick. Sie ließ sich den Mietvertrag vorlegen, obwohl es einen Haken gab: Er war auf ein halbes Jahr befristet; dann käme die Eigentümerin zurück und würde selbst wieder einziehen.

Nun ja, ein halbes Jahr sollte reichen, um etwas Anderes zu finden. Meine Mutter unterschrieb. Sie hatte die Zimmersuche an einem einzigen Tag erledigt. Jetzt lief sie zur Hochform auf, kaufte dies und kaufte das.

Während meines letzten Schuljahres befürchtete ich, dass meine Eltern mir die finanzielle Unterstützung wegen des ‚falschen’ Studienfachs verweigern könnten. Außerdem wollte ich mir gern zum Studienbeginn eine gebrauchte Ente kaufen. Ich jobbte deswegen an der Kasse einer Tankstelle und sparte eisern. Meiner Mutter gefiel das überhaupt nicht. Damals gab es noch Tankwarte. Ihre Tochter eine Tankwartin? Das war für sie unerträglich.

Mein Vater war glücklicherweise anderer Meinung. Die Erfahrung zu machen, dass man Geld verdienen muss, fand er unterstützenswert. Es kann ihm dabei nicht ums Geld gegangen sein; denn als es mit dem Studium losging, kamen ihm auf einmal ganz andere Bedenken: Ein Gebrauchtwagen zu einem Preis, den ich bezahlen konnte, sei für eine Fahranfängerin mit viel zu hohen Risiken verbunden. Ein neuer Mini stand vor der Tür, für mich. Es war halt nicht die Ente, die ich wollte, aber ein bisschen freute ich mich trotzdem. Das verdiente Geld blieb mir so für etwas anderes.

Der Mini war schnell mit den nötigen Utensilien bepackt, die ich für das Apartment brauchte. Meine Mutter fuhr mit und blieb erst mal ein paar Tage; es gab ja zwei Zimmer. Sie ging shoppen und genoss die ‚richtige Großstadt’. Wenn sie vor den verspiegelten Wänden ihrer Haute Couture-Häuser wie auf einem Laufsteg hin und her stöckelte, fühlte sie sich wie vor einer Jury, einer jury imaginaire. Die Model-Nummer zog sie gerne ab. Bald verlor ich die Lust, sie zu begleiten. Nur, weil sie Spaß daran hatte, mir die exquisiten Novitäten der Herbstkollektion vorzuführen, sollte ich mit. Ich weigerte mich.“

„Das Semester fing doch sicher auch bald an“, wirft Dr. Patolak ein.

Frau Buchholz schüttelt den Kopf. „Darum kümmerte sie sich nicht, zum Glück. Ich war ihr dankbar dafür. In meinen schlimmsten Fantasien hatte ich schon befürchtet, dass sie mich in die Einführungsveranstaltungen für Erstsemester begleitete und dort wichtige Fragen stellte.“

In der Cafeteria ist noch ein Tisch am Fenster frei. Dr. Patolak holt zwei Tassen Kaffee, aber Linda nippt nur daran. Sie redet weiter: „Der befristete Mietvertrag erwies sich als vorteilhaft. Bald würde ich mir selbst meine Bude suchen und dann war ich frei. Emanzipation hieß das große Schlagwort. Es galt, sich von den Zwängen der etablierten Gesellschaft zu befreien. Ich war mit dabei und übte, die Faust zu ballen. Zuallererst rührte ich die Klamotten nicht mehr an, die meine Mutter mir aus den ‚Einkaufsparadiesen’ anschleppte. ‚Exzellente Angebote’, sagte sie und packte ihre Tüten aus. ‚Wie soll man da widerstehen?‘

Mit keinem Blick würdigte ich die Ausbeute ihrer Shoppingtouren. Ich praktizierte die ‚Befreiung vom Konsumterror’. Um meine Mutter zu vergraulen, schaltete ich auf stur, trug den verfilzten Norwegerpullover, die speckigen Jeans und den Parka.

Sie war empört. Statt mir nichts mehr zu kaufen und wütend abzuziehen, was ich bezweckt hatte, belämmerte sie mich unablässig und fuhr kaum noch nach Hause.

Ich stockte im Gegenzug meine Zeiten an der Uni auf, ließ keine Vollversammlung, kein Teach-in und keine Kundgebung aus. Es war die achtundsechziger Zeit, die ihre Boten vorausschickte. Der Kampf um die Rücknahme der Fahrpreiserhöhung, die Proteste gegen den Krieg in Vietnam und die Wahlen zur Fachschaft beanspruchten mich vollends und so merkte ich kaum, dass meine Mutter irgendwann nicht mehr da war. Abgezogen. Beleidigt und eingeschnappt nahm ich an. Ein Telefon hatte ich nicht, so dass ich mir den Grund ihres Rückzugs nicht anhören musste.

Wasserstandsmeldung

Подняться наверх