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… Sekte auf Seelenpirsch …

Am Anfang des nächsten Semesters sah ich Susanne wieder. Für mich schien es ein Zufall zu sein, aber sie sagte mir, dass sie beim Parkplatz vor dem Institut schon länger neben meinem Mini gewartet hatte. Ich verstand sofort: der Zimmerschlüssel und überhaupt. Ich vertröstete sie und bot an, dass wir uns in zwei Stunden, nach dem nächsten Seminar in der Cafeteria zusammensetzen könnten.

Es wurde eine lange Sitzung. Die Kasse schloss, die Tische wurden abgeputzt, die Stühle hochgestellt und wir waren noch immer nicht fertig.

‚Wir gehen zu mir’, sagte ich, ‚das Wohnheim ist nicht weit.‘

Dort saßen wir noch einmal so lange. Ich wurde müde und wollte ihr den Schlüssel, den Hammer und den Keil geben. Aber sie zögerte.

‚Das ist keine Lösung’, sagte sie. ‚Ich weiß mich meiner Haut jetzt zu wehren, ohne Hammer und Keil. Ich hab‘ dazugelernt. Das ist nicht mehr das Problem. Hast du denn nur halb zugehört? Kapierst du nicht? Ob mein Fahrrad draußen oder drinnen steht, ist nicht so wichtig. Aber, warum ist plötzlich der Keller zum ersten Mal abgeschlossen? Warum finde ich mein Fahrrad neben der Haustür wieder, ohne dass mir nur einer etwas davon gesagt hat, nicht mal abgeschlossen? Als ich nachfragte, bekam ich lapidar zur Antwort: ‚Dein Fahrrad? Es gibt Wichtigeres!‘

Mein Fahrrad ist bei ihren umstürzlerischen Plänen nicht relevant. Ich bin nicht blind und mein Gehör funktioniert. Irgendwas ist über Nacht in unserem Keller deponiert worden. Was ist, wenn die ganze revolutionäre Zelle von der Polizei ausgehoben wird? Dann stecke ich mit drin. Ich muss da raus, am besten noch heute.“

Linda holt tief Luft. Sie nippt wieder vorsichtig an ihrem Kaffee und redet weiter.

„Ich gab meinem Herz einen Ruck. ‚Wenn dir eine Luftmatratze für heute Nacht genügt, ziehen wir gleich los und holen schon mal raus, was wir schleppen können. Der Rest kommt morgen.‘

Susanne sah schon etwas besser aus. Ich kippte meine Reisetasche und den halb gefüllten Koffer aus und fuhr mit ihr los. Wir nahmen die Straßenbahn, der Mini war uns zu auffällig. Es war schon dunkel. Gegenseitig sprachen wir uns Mut zu. Bevor Susanne die Haustür öffnete, checkten wir nochmal das Areal. Wessen Autos standen geparkt an der Straße? Welche Fenster waren beleuchtet? Wir überprüften die nächste Telefonzelle, ob sie funktionierte. Die Nummer 110 schrieb ich mir mit einem Kuli in die Hand. Sie würde mir bei der zu erwartenden Aufregung bestimmt nicht mehr einfallen. Ich überprüfte, ob mein Kleingeld zum Telefonieren genügte. Wir waren zu allem entschlossen. Was Susanne mir erzählt hatte, reichte für eine Anzeige bei der Polizei.

Ich schlich mit dem Koffer in der Hand hinter ihr her die Treppe hinauf. Leise öffnete sie die Wohnungstür und hielt den Zeigefinger vor die Lippen. Bei Almut war Musik zu hören. Wir kamen unbehelligt in Susannes Zimmer. Ich schloss die Tür mit dem teuren Schlüssel hinter uns ab, Susanne holte ihre beiden Taschen aus dem Schrank. Wir packten. Drei Reisetaschen, einen Koffer! Ich stopfte alles hinein, was im Kleiderschrank hing, auf Bügelfalten nahm ich keine Rücksicht.

‚Warum so hektisch?‘, fragte ich mich. Eigentlich musste es überhaupt nicht schnell gehen und auch nicht leise, wir trieben ja nichts Unrechtes. Warum flüsterten wir? So ein Quatsch! Je länger ich überlegte, desto mehr kam ich zu dem Entschluss, hier nicht als heimliches Kommando aufzutreten, sondern als zwei selbstbewusste Frauen, die sich ihr Recht nahmen. Aber wenn ich mir Susanne ansah, war sie weit von ‚selbstbewusst’ entfernt und mir ging es nicht besser: Unablässig zitterten meine Hände, eher ein Zeichen für Krampf als für Kampf.

‚Egal, wie es läuft’, dachte ich, ‚wer immer hier gleich aufkreuzen mag und sich in den Weg stellt‚ wir ziehen das durch und machen uns mit Susannes Sachen aus dem Staub.‘

Die Musik in Almuts Zimmer blieb laut, es war die LP der Stones. “Get off of my cloud”, hörte ich Mick Jagger schreien. Bald müsste die erste Seite zu Ende sein. Dann wäre es einen Moment leise und Almut würde die Platte umdrehen. Außer der Musik war nichts zu hören. Susanne hatte alles zusammengerafft, was ihr gehörte. Wir packten die letzten Sachen ein und behielten sogar noch Platz im Koffer. Leise schlichen wir über den Flur ins Treppenhaus, in beiden Händen je ein Gepäckstück.

‚Halt!‘, fiel es mir ein. Ich wurde inzwischen etwas mutiger und konnte nicht widerstehen. Eine kleine Spur wollte ich hinterlassen. Die Kommune Fortschritt sollte sich gern mal an mich erinnern. Im Dunkeln tappte ich zurück durch den Flur. Der Zimmerschlüssel, er steckte noch von innen. Ich zog ihn ab, verschloss Susannes Zimmer von außen und nahm meinen Schlüssel mit. Jetzt hatte ich mit diesen Fortschrittsfanatikern endgültig abgeschlossen.“

Frau Buchholz lächelt. Dr. Patolak rückt seinen Stuhl so zurecht, dass er die Uhr an der Wand der Cafeteria im Blick hat. Zehn Minuten sind es noch. Er wundert sich über ihre Energie und will sie nicht weiter unterbrechen.

„An der Haltestelle atmeten wir auf und setzten uns Rücken an Rücken auf den Koffer. Er ließ sich seitdem nie wieder ordentlich schließen, ein Andenken an Susannes Exodus. Wir räumten mein enges Zimmer im Wohnheim um. ‚Besuch und Fisch – drei Tage frisch’, ging es mir beim Aufpusten der Luftmatratze durch den Kopf. Aber ich hatte ja genügend Erfahrung, einen lästigen Gast aus meiner Bude loszuwerden. Gar nicht nötig: Mit Susanne war es angenehm; sie nahm sich so bescheiden zurück, wie ich es noch nie erlebt hatte, nicht bei meiner Mutter und erst recht nicht in der ‚Kommune’. Die Erfahrung, dass es auch liebenswerte Menschen gab, tat mir gut. Bisher hatte ich noch nicht so viele davon kennengelernt. Einige Wochen später fand Susanne eine dauerhafte Bleibe. Jetzt hatte sie meine Adresse und ich ihre.

Schon ein paar Tage darauf wartete sie wieder neben meinem Auto auf dem Parkplatz. Sie hatte festgestellt, dass sie schwanger war. Zu einer Anzeige gegen Diethard ließ sie sich nicht bewegen. Ich drängte sie nicht weiter. Schon am nächsten Morgen fuhr ich mit ihr nach Holland. Die Abtreibung kostete. Die Klinik stellte zwar eine Rechnung aus, aber eine Rechnung für einen Eingriff, der in Deutschland unter Strafe verboten war, konnte man natürlich nicht bei der Krankenkasse einreichen. Ich lieh Susanne den größten Teil des Geldes, von dem ich zu Beginn des Studiums die Ente kaufen wollte. Sie zahlte es mir monatlich in Raten zurück, ohne dass ich sie jemals daran erinnern musste.

Noch heute sind Susanne und ich befreundet. Wir denken immer mal wieder an ihren Exodus und an unsere Emanzipation vom Affentheater.“

Lindas Erzähltempo wird langsamer. „Dass ich für die Liste Fortschritt kandidiert hatte, lief mir lange hinterher. Als gegen Ende des Studiums die Letzten, die meine Kandidatur erlebt hatten, ihre Examen machten und die Uni verließen, fühlte ich mich wie befreit. Endlich! Aber das Kapitel war noch nicht abgeschlossen. Die Freundschaft mit Susanne wäre eingeschlafen, wenn ich nicht viele Jahre später einen Anruf von ihr bekommen hätte, in den Achtzigern.

Vorangegangen war ein unangemeldeter Besuch. Eine Dame und ein Herr hatten an einem Samstagmorgen nach dem Frühstück geklingelt. Ich drückte auf den Summer, aber sie standen schon direkt bei mir im dritten Stock vor der Wohnungstür, korrekt gekleidet.

‚Sekte auf Seelenpirsch‘, dachte ich, ‚irgendwelche Heiligen der letzten Tage, die sich berufen fühlen, mich früh am Morgen auf den rechten Weg zu bringen. Vielleicht haben sie den Zeitpunkt des Weltuntergangs neu berechnet.‘ Ich wollte ihnen die Tür vor der Nase zuschlagen, ohne sie zu Wort kommen zu lassen. Aber die Dame hielt mir eine Marke hin und riskierte, dass ich ihre Hand einklemmte.

‚Polizei’ sagte sie.

Ich zog die Tür wieder auf. ‚In Zivil?‘ Ich verglich die Fotos auf ihren Dienstausweisen mit ihren Gesichtern und ließ sie herein.

‚Ich bin eine unbescholtene Bürgerin.’

‚Wir vermuten auch nichts anderes, Frau Dr. Buchholz. Wir ermitteln nicht gegen Sie. Es geht um eine Zeugenaussage.‘ Die Dame führte das Wort. Der Herr beobachtete mich von der Seite.

‚Es kann einen Moment dauern. Dürfen wir uns setzen?‘, fragte sie.

Ich schob die Frühstückssachen beiseite, legte die Zeitung weg und stellte zwei Stühle hin, nebeneinander. Ich setzte mich ihnen gegenüber. So hatte ich sie beide im Blick. Vielleicht waren die Ausweise doch nicht echt. Auf Trickbetrüger hereinfallen, das sollte mir nicht passieren.

‚Wir stellen uns gern noch einmal ausführlich vor’, sagte die Dame. Beide legten ihre Dienstausweise auf den Tisch.

‚Cornelia Weiß, Kriminalhauptkommissarin, Weiß mit dem vom Aussterben bedrohten Eszett am Ende.‘

‚Mein Name ist Thorsten Schmitt, Kriminalkommissar, Schmitt mit einem doppelten T am Ende.‘

‚Gerlind Buchholz mit Zett am Ende. Zwei Bäume spielen in meinem Namen verstecken.‘

Ein Lächeln auf unseren Gesichtern löste die angespannte Stimmung. Noch nie im Leben war ich um Worte verlegen; die Gene meiner Mutter. Sie konnte eine Wendeltreppe beschreiben, ohne die Hände dabei zu bewegen.“

Dr. Patolak nickt zustimmend und verkneift sich ein Grinsen.

„Ich übernahm die Gesprächsführung: ‚Kommissar Schmitt-Doppeltee, worum geht es?‘

Der junge Mann spielte mit. ‚Es geht um die Zeit nach achtundsechzig. Die Älteren von uns erinnern sich.‘ Er holte ein Foto aus der Innentasche seines Jacketts und legte es auf den Tisch.

‚Diethard Wagner. Der ist aber ganz schön fett geworden‘, sagte ich.

Herr Schmitt nickte. ‚Haben Sie Herrn Wagner jemals unbekleidet gesehen?‘

‚Nackt? Aber ja, er posierte gern, zeigte sich von vorn und von hinten. Auf dem Weg vom Zimmer ins Bad trat er als Nacktfrosch auf. Er war ständig in Sorge, übersehen zu werden.‘

‚Haben Sie ihn dabei auch von hinten gesehen?‘

‚Sie möchten wissen, ob ich seinen nackten A – Allerwertesten gesehen habe?‘

‚So könnte man das auch ausdrücken. Falls ja, können Sie uns bitte beschreiben, wie er ausgesehen hat?‘

‚Ich kann Ihnen versichern, dass ich von Herrn Wagner mehr gesehen habe, als ich jemals sehen wollte, sein Hintern war auch dabei. Da gibt es aber nichts zu beschreiben, der war ganz normal, wie so ein Hintern eben aussieht.‘

Schmitt-Doppeltee steckte das Foto wieder ein und stand auf. ‚Das war es schon’, sagte er. ‚Vielen Dank.‘

Frau Weiß nahm die Ausweise an sich, klappte ihre Protokollmappe zu und folgte ihm in Richtung Tür.

‚Halt, halt!‘, rief ich. ‚Was ist mit meinen Fragen?‘

Frau Weiß wiegelte ab: ‚Bitte haben Sie Verständnis, dass wir Ihnen zum jetzigen Zeitpunkt keine weiteren Auskünfte geben können, um den Ermittlungserfolg nicht zu gefährden.‘

Bevor die beiden gingen, drehte Frau Weiß sich noch einmal um. ‚Ich verstehe ja, dass Sie auch Fragen haben. In absehbarer Zeit wird es einen Prozess geben, der wird öffentlich verhandelt, die Medien werden sicherlich darüber berichten.‘

Als sie weg waren, öffnete ich erst mal das Fenster und holte tief Luft.

Das Telefon klingelte: Susanne.

‚So ein Zufall. Ich wollte gerade bei dir anrufen, ich hatte Besuch.‘

‚Etwa von der Polizei?‘

‚Woher weißt du das?‘

‚Weil sie auch bei mir waren. Aus ermittlungstechnischen Gründen arbeiten sie offenbar zeitgleich. Mir wär’ fast die Kotze gekommen, als ich das Bild sah. Dieser widerliche Dreckskerl! Endlich haben sie ihn geschnappt! Hoffentlich wird er anständig verdonnert. Glaubst du mir die Sache mit dem Keller jetzt? Das waren keine Kisten mit harmlosen Knallfröschen, für die mein Fahrrad vor die Tür musste. Das war todernst damals!‘

Für mich sprach Susanne in Rätseln. Ich unterbrach sie: ‚Kannst du mir bitte sagen, um was es geht?‘

‚Liest du denn keine Zeitung mehr? Diethard Wagner steht unter Verdacht, an einem bewaffneten Banküberfall beteiligt gewesen zu sein. Der Überfall diente zur Geldbeschaffung für terroristische Aktionen. Es gab dabei einen Schusswechsel. Einer der Bankräuber wurde verwundet, entkam und tauchte unter. Das war unser Alpha-Männchen Diethard. Jetzt, viele Jahre später, ist er festgenommen worden, Kommissar Zufall.‘

‚Und was hatte das mit dem Hintern auf sich?‘

‚Durch den Schusswechsel hat er jetzt am Hintern eine Narbe. Wenn er sie schon seit früher Jugend gehabt hätte, wie er wohl behauptet, könnte sie nicht von der Schussverletzung herrühren. Den Reim habe ich mir darauf gemacht. Die Polizei hat ja nicht auf meine Fragen geantwortet. Aber so macht es Sinn.‘

‚Schießt die Polizei denn in den Hintern?‘

‚Nein! Die zielen auf die Beine! Aber die treffen nicht immer und so ein Schuss kann auch mal ein bisschen höher gehen.‘

Wir nahmen uns Zeit für ein ausführliches Telefongespräch, fast der ganze Samstagvormittag ging dabei drauf. Dass Almut schon länger tot war, erfuhr ich so ganz nebenbei. Ich war erschüttert. Die Mutter hatte angerufen, Susannes Namen in einem der hinterlassenen Kalender gefunden und ihre aktuelle Telefonnummer ausfindig gemacht. Almuts Mutter wollte sich nicht mit den Informationen aus der Akte zufriedengeben. ‚Bei einem Verkehrsunfall tödlich verunglückt, Unfallhergang nicht geklärt.‘

‚Vielleicht wusste sie zu viel‘, sagte ich und Susanne bestätigte: ‚Da sollten wir nicht zu viel drüber nachdenken.“

Dr. Patolak stellt die Kaffeetassen ineinander.

Linda setzt noch einmal nach: „Nur eben das mit meiner Mutter zu Ende. Wir blieben eine Weile auf Distanz, für mich durchaus erträglich. Ein Jahr später aber, als ich leichtsinnigerweise erwähnte, dass mein Studium anstrengend war, holte sie zur nächsten Attacke aus, als hätte sie auf eine solche Breitseite nur gewartet. Sie schickte mir eine Aufstellung über die Anerkennung von Studienleistungen beim Wechsel des Faches. Sie gab nicht auf. Das Fach ohne zeitliche Verluste zu wechseln, so etwas versuchte sie, mir schmackhaft zu machen. Ich schickte ihr den Brief zurück, urschriftlich mit dem Vermerk ‚Zwecklos!‘. Damit verlängerte sich ihr Besuchsboykott. Für mich war das angenehm.

Erst Jahre später, nach den bestandenen Prüfungen wendete sich das Blatt. Eine Tochter mit Doktortitel, darauf war sie dann doch stolz. Nach meiner Promotion gratulierte sie.“

Frau Buchholz merkt, dass ihr Gegenüber sich langsam auf die Tür zubewegt.

„Danke für alles“, leitet sie die Verabschiedung ein. „Nur eines liegt mir noch am Herzen. Apropos Papenburg, ich würde so gern mal dorthin fahren, selbst wenn man nichts wiedererkennt.“

„Nichts wiedererkennt? Warum nicht? Natürlich ist auch da die Zeit nicht stehen geblieben“, antwortet Dr. Patolak mit einem besorgten Blick auf die Uhr, „aber einiges wird noch immer wie im Zeitalter der strammen Lastexhosen sein.

Wenn Sie Lust haben, lade ich Sie gern mal zu einer Führung ein. Da geht bestimmt was, nur im Moment ist es zeitlich knapp! Melden Sie sich doch bei mir, wenn Sie zu Ihren Terminen ins Krankenhaus kommen, möglichst in meiner Pause. Sie kennen die Zeiten, so wie jetzt.“

Wasserstandsmeldung

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