Читать книгу Wasserstandsmeldung - Wilhelm Gruber - Страница 16
Оглавление… a part of me still …
David kommt zurück ins Haus. „Moment“, sagt er, bevor Linda ihn mit Fragen überfällt. „Erst den Rückschnitt zusammenharken und für den Sperrmüll bündeln. Dafür brauche ich Packband und Schere. Dann komm’ ich wieder und steh’ Ihnen Rede und Antwort.“
Linda fällt das Warten schwer. Noch ehe David sich die Schuhe auszieht und ins Wohnzimmer kommt, schießt sie los: „Ist das Mia, die Frau neben Ernst?“
„Nein, hier sind nur die Fotos von der Walz. Oma Mia finden Sie nebenan in der ‚Ahnengalerie’. Das ist Betty. Fast wäre Ernst ihretwegen in England geblieben, aber ein anderer machte das Rennen und der Kraut zog weiter. Kraut war ein Spitzname für Deutsche.“
David sieht ihr an, dass sie mehr wissen will.
„Eine seiner ersten Stellen fand er bei einer Zimmerei in Dover. Die Arbeit gefiel ihm. Dort lernte er den Kollegen Alex kennen, ebenfalls ein ‚Kraut’, er kam aus Berlin. Nach seiner Kriegsgefangenschaft war er nicht zurückgekehrt; die Liebe zu Gwendoline war stärker als der Drang nach Hause, wo vermutlich niemand aus seiner Familie mehr lebte; das Rote Kreuz hatte ihm wenig Hoffnung gemacht.
Ernst kam bei Alex und Gwen in der Dachkammer unter. Bei ihnen lernte er Englisch, die Grundlagen. Alex beschreibt er als einen strengen Lehrmeister. Er feilte an Ernsts Akzent und ließ ihm keinen Fehler durchgehen. Er selbst war bei Gwendoline durch eine harte Schule gegangen. Der Mann an ihrer Seite sollte sich nicht schon als ‚Kraut’ verraten, sobald er nur den Mund aufmachte. ‚Moin’ war das Codewort für eine zu harte Aussprache der Endlaute. Ernst hat es später bei mir angewandt, wenn er Vokabeln abhörte. Bei seinem ‚gutt morning‘ hatte Alex immer nur mit ‚moin‘ geantwortet und auf ein weich ausklingendes ‚d‘ bestanden. Erst wenn das ‚d‘ korrekt war, gab es ein ‚good morning‘ zurück. Er wollte Ernst das ‚Kraut-Englisch‘ austreiben. ‚“Talk like a kraut, and be treated like a kraut”, sagte er. Nicht nur beim Englischlernen fühlte Alex sich für seinen jungen Landsmann zuständig, er gab ihm einiges andere mit auf den Weg. So hatte er ihm mehrfach gesteckt, dass Betty, die Dame im Bild, ihm schöne Augen machte. ‚Warum nicht?‘, hatte Ernst dagegengehalten. Es war ihm nicht verborgen geblieben; er hatte ja auch seine Fühler nach ihr ausgestreckt; das Natürlichste der Welt.“
„Good“, bemerkt Linda mit betont weichem ‚d‘. „Und was wurde daraus?“
„Die Geschichte hat ihm arg zugesetzt. So viel soll genügen: Betty arbeitete in der Buchhaltung und war in ‚festen Händen‘, die Auserwählte von Mike, dem Juniorchef. Darüber war Ernst nicht im Bilde. Vielleicht wollte er es auch lieber nicht sein. Er sah keine Probleme. ‚Fairer Wettbewerb!‘
Alex musste deutlicher werden: ‚Du kennst Mike nicht. Konflikte löst er mit der Faust oder schmerzlicher noch mit der Dachlatte.‘
Schon einen Tag nach dieser Warnung wurde Ernst ins Büro gebeten, vom Seniorchef persönlich, Mikes Vater. Der forderte ihn auf, sein Bündel zu schnüren, und zwar sofort. ‚Wenn du länger bleibst, verdrehst du ihr noch ganz den Kopf, bloody kraut!‘
Den Lohn für diesen Arbeitstag hat der Chef, obwohl es früh am Morgen war, noch großzügig ausbezahlt und auch einen freundlichen Spruch ins Wanderbuch geschrieben: ‚Good luck for Pat O’Luck‘. Der Seniorchef hielt große Stücke auf Ernsts Arbeit, aber er kannte Mike, seinen Sohn.
Ernst packte Hals über Kopf das Bündel, nahm die Beine in die Hand und tippelte bis tief in die Nacht hinein, so viele Meilen an einem Stück, wie nie zuvor. Schon einige Wochen später setzte er den Fuß auf die Fähre nach Irland und sah das Vereinigte Königreich hinter sich am Horizont im Meer versinken. Erst jetzt fühlte er sich in Sicherheit.
‚Hoffentlich ist es Betty mit ihrem Mike wohlergangen’, hat Ernst ihr noch Jahrzehnte später gewünscht, als er nach den Malerarbeiten die Fotos neu ordnete und wieder aufhängte. Er scheint sie nicht vergessen zu haben. Sonst würde nicht das Bild noch immer an der Wand hängen. Er war in Sorge, ob Betty mit diesem ‚brachialen Klopper‘, der zudem ein Säufer war, die richtige Wahl getroffen hatte.“
„Gibt es ein Foto von Mike?“
„Hier“, zeigt David, „die ganze Belegschaft der Zimmerei, hinten rechts, das wird er sein. Besitzergreifend legt er seinen Arm auf Bettys Schulter.“
Linda sieht genauer hin. Sie nickt. „Sein Oberlippenbärtchen unterstreicht, dass er die Nase etwas höher trägt.“
„Ich meine auch, dass man dem Gesicht eine gewisse Hochnäsigkeit ansieht“, antwortet David. „Alex soll ihn ‚Meister Meinicke’ genannt haben.“
„Meister wie?“
„Meister Meinicke, der nur von sich selbst redet und von dem, was er hat: von ‚mein‘ und von ‚icke‘.“
Linda lacht. „Muss ich mir merken. So ein paar ‚Meinickes’ hab’ ich im Laufe der Jahre auch kennengelernt. Ich höre nicht mehr so gut. Auf dem rechten Ohr fast gar nichts mehr, eigentlich ist es nur noch Deko. Zuerst habe ich Meister Reinecke verstanden. Dabei dachte ich nur an unseren verletzten Fuchs. Schade dass es von dem kein Foto gibt.“
„Ein Foto gibt es leider nicht, aber dafür etwas ganz Besonderes.“ David greift ins Regal. „Ein kleines Büchlein! Eine Geschichte über den Fuchs.“
„Von Ernst? Hat er die geschrieben?“
David nickt. „Nicht nur geschrieben, auch das Umschlagbild ist von ihm und die kalligraphisch gestalteten Initialen.“
„Darf ich es lesen?“, Linda streckt die Hand danach aus.
„Ja, Sie dürfen“, sagt er und reicht es ihr. „Nur sein Original mag ich hier nicht herausnehmen. Zu Ihrem nächsten Termin bringe ich Ihnen meine Kopie mit ins Krankenhaus.“
„Ein Buch über den Fuchs. Sie können sich nicht vorstellen, wie ich mich darauf freue“, schwärmt Linda. Sie setzt wieder ihre Lesebrille auf und blättert.
„Der Fuchs! Allerliebst, wie Ernst ihn zeichnet, dieser listige Blick. Und die Blaubeerkörbe! Ja, Blaubeeren haben wir gepflückt, es dauerte ewig, bis ein Korb voll war. Wir fuhren dafür nach Börgerwald. Ich kann es gar nicht mehr abwarten, die Geschichte zu lesen!“ Sie zeigt wieder auf ein Bild an der Wand. „So habe ich Ernst in Erinnerung, so wie hier. Das ist er, wie ich ihn kenne.“
David stellt das Büchlein zurück ins Regal. „Er hat sich nur wenig verändert“, antwortet er. „Stellen Sie sich statt der dunklen Locken eine braun gebrannte Glatze vor, auf der sich die Sonne spiegelt; dann haben Sie Ernst jetzt.“
Davids Blick huscht über die Bilder.
„Hier, das Foto von der Grünflächenunterhaltung auf der Promenade in Münster, ein paar Jahre erst alt. So sieht er jetzt aus.“
Lindas Augen glänzen. „Was ist das für ein Instrument?“, schickt sie gleich die nächste Frage hinterher.
„Seine Konzertina. Hier unten steht sie im Regal. Auf der Walz in England und Irland hat er sich vernarrt in diesen urig kleinen ‚Trecksack’, wie er das Instrument nennt. Er schleppte es mit sich und übte sogar beim Tippeln. Die sechseckige Form lässt sich ideal in das Bündel wickeln. Ernst war eine Weile mit einem Kollegen unterwegs, der Konzertina spielte und es ihm beibrachte.“ David bückt sich und kramt den Kasten vom untersten Regalbrett hervor. Er öffnet ihn, nimmt das Instrument heraus, spielt eine kleine Melodie und singt dazu:
“I found my thrill on Blueberry Hill
On Blueberry Hill when I found you
The wind in the willow played love’s sweet Melody
But all of those vows you made were never to be
Though we’re apart, you’re a part of me still
For you were my thrill on Blueberry Hill … ”
Diesen Klassiker von Fats Domino spielen wir immer zuerst. Er mit der Konzertina, ich mit der Gitarre. Mal singt er, mal ich. Erst die englische Version, dann die deutsche von Gerhard Wendland, immer im Wechsel:
‚Ein kleines Haus am Ende der Welt,
vom Glück hingestellt, sah unsere Liebe.
Der Wind in den Bäumen sang zärtlich ein Lied,
und du wolltest bei mir sein, was immer geschieht.
Nun bist du fern und kehrst nie zurück,
vergessen vom Glück, steht einsam ein Haus.’
Meist singt er den Anfang des Refrains noch einmal, nur leicht verändert: ‚Ein kleines Haus am Ende der Wiek … ’, dann summt er weiter und lässt das Lied mit einigen Variationen in der Melodie leise ausklingen. Wir haben eine CD davon aufgenommen. Die bringe ich Ihnen mit. Dann sehen Sie Ernst nicht nur auf Fotos, dann hören Sie ihn. Nicht nur, wie er herzerweichend singt, sondern auch, mit welcher Perfektion er die Konzertina spielt. Ein bisschen Frontmann ist er gerne und lässt auch mal die Rampensau raus. Sie werden dahinschmelzen.“
„Welche Stücke haben Sie noch gespielt?“
„Eine ganze Menge, immer nach demselben Prinzip: die Originalfassung auf Englisch oder Französisch im Wechsel mit der deutschen Version oder mit einem von ihm verfassten Text. Manchmal weichen die Inhalte voneinander ab, die Stilrichtung kann auch anders sein, aber die Melodie passt. Darin liegt der Reiz. Dazu seine Performance, perfekt! Sie bringt die Leute zum Mitsingen.“
„Sagen sie mal ein paar Beispiele.“
„Sein Lieblingslied vom Abstinenzler aus Irland. Das kennen Sie bestimmt. ‚The wild Rover‘, der schwört, nie mehr zu trinken:
“And it’s no, nay, never.
No, nay, never no more
Will I play the wild rover.
No, never no more.”
Dazwischen gibt es immer die vier Stampfer. Als deutsche Fassung singen wir unser Lied von den Zähnen im Sand, seine Version vom Nordseeküstenlied:
‚An der Nordsee küsste
ich ganz ignorant
die Schönste und Drallste
vom plattdeutschen Strand.
Ich sah nicht den Macker,
der hinter ihr stand,
und fand Knall auf Fall
meine Zähne im Sand.’
Statt der vier Stampfer gibt es bei uns jeweils vier Schmatzer: die Küsse für die Schönste und Drallste.“
Linda lacht, kneift die Lippen zusammen und hält sich den Mund fest. Sie fragt nach weiteren Titeln.
„Charles Aznavour: « Tu t’ laisses aller » und Udo Lindenberg: ‚Du lässt dich geh’n‘.
“I’m an Englishman in New York” von Sting und Otto: ‚Bin ein Friesenjung und ich wohne hinter dem Deich‘.
“Catfish Blues” von Muddy Waters und von mir, den ‚Kaulbarsch Blues‘.
Steve Goodman: “City of New Orleans, – Good morning America, how are you?” und dazu Rudi Carrell: ‚Wann wird’s mal wieder richtig Sommer?‘
Von Roberta Flack: “Killing me softly, with his song” und Ernst: ‚Sein Lied so schmalzig, bringt mich um‘.
Es gibt noch einige andere mehr. Sie fallen mir jetzt nicht ein. Aber, sie sind alle auf der CD zu hören. Klar doch, wie konnte ich das nur vergessen? Unser Finale: das afrikanische Lied vom schlafenden Löwen:
“Wim o way, o wim o way, o wim o way …
In the jungle, the mighty jungle,
the lion sleeps tonight …
Iiih, iiih iiih iiih … o wim o way.”
Dazu unser Lied vom heulenden Wolf:
‚Wo denn nur? Ja wo denn nur? Ja wo denn nur?
In der Stadt auf der Promenade,
der Wolf ist wieder da …
Uuu huu huu huu … Ja wo denn nur?‘
Die Zuschauer machten mit, sie sangen, hielten ihre Köpfe in den Nacken und heulten. Die Wölfe vom Zoo stimmten ein. Die ganze Promenade heulte mit den Wölfen. Die Stadt Münster war erfüllt von einem einzigen Geheul.“
David lacht und legt die Konzertina beiseite. „Ich übertreibe ungern! Hören sie selbst. Sie bekommen diese ultimative CD beim nächsten Treffen und werden restlos begeistert sein.“
„Das bin ich schon jetzt.“