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… mit Pfannkuchen zugenagelt …

Ernsts kleiner Trecksack scheint Linda zu interessieren. „Ein Kuriosum“, sagt sie. „Klingt großartig. Dabei haben Sie es ohne Bässe gespielt. Welche Aufgabe hat der Lederschaft auf der linken Seite? Die Tasten sind verdeckt.“

‚Sie will aber auch alles wissen’, denkt David, packt in Ruhe die Konzertina wieder in den Kasten und stellt ihn ins Regal.

„Ach, die linke Seite, das wissen Sie ja noch gar nicht. Er hat die Bilder so ausgewählt, dass man es kaum merkt. Er kam nicht zu Fuß aus Frankreich zurück, wie es sich für einen Wandergesellen gehört, sondern mit dem Zug. Im Grunde hatte er nach fast drei Jahren schon langsam an den Rückweg gedacht mit einem Umweg über die Schweiz, Österreich und die damalige Tschechoslowakei. Budweis, Pilsen und vor allem die goldene Stadt Prag reizten ihn. Den Frühling wollte er dort miterleben, den Sozialismus mit menschlichem Antlitz kennenlernen. Er bedauert, dass er diesen ‚kleinen Schlenker‘ nicht mehr geschafft hat. Vielleicht wäre er vor den Panzern dagewesen. Aber leider kam er nicht so weit. Auf einer Baustelle in der Dordogne passierte ihm ein folgenschwerer Unfall an der Kreissäge. Die linke Hand wurde ihm abgetrennt. Er war lange im Krankenhaus, bis er sich endlich auf die Rückreise machte.

Zurück in Papenburg bot man ihm beim Arbeitsamt eine Umschulung zum technischen Zeichner an. Er griff zu.“

„Mit rechts“, ergänzt Linda.

David nickt. „Er überwand alle Hürden und schaffte die Prüfung, auch mit rechts. Vom Wehrdienst wurde er ausgemustert. Er fand eine Stelle in der Kreisverwaltung und arbeitete sich langsam nach oben, bis ins Hochbauamt; letztlich Glück im Unglück! Im Laufe der Zeit sortierte er für sich, was alles mit nur einer Hand möglich war und auch, was zwecklos war. Glücklicherweise war es die Rechte, die ihm geblieben war. Er setzte sich wieder aufs Fahrrad, lernte, einhändig zu lenken, bestand die Führerscheinprüfung und kaufte sich bald ein Auto, einen holländischen DAF mit schaltfreiem Variomatik-Getriebe und einem Knauf am Lenkrad.

Große Unterstützung fand er beim Schuster und Lederwarenhändler Eduardo‚ genannt: ‚Leder-Ede’. Er ist der eigentliche Grund, warum wir nie einen Mai- oder Augustmarkt ausließen; denn da ist er mit seinem Stand vertreten, immer an derselben Stelle. Nach eigenem Bekunden gibt es bei ihm alles, von ‚A wie Arschleder bis Z wie Zaumzeug’. Mit Punziereisen verziert er seiner Kundschaft die gekauften Waren, die Initialen sind im Preis inbegriffen, auf Wunsch gibt es mehr. Mittlerweile ist Eduardo ein treuer Freund von Ernst. Knöpfe, Reißverschlüsse und alles, wofür beim Öffnen oder Schließen zwei Hände nötig sind, ersetzt er so geschickt, dass kaum etwas auffällt, immer ist er auf dem neusten Stand der Technik, früher mit Druckknöpfen, später mit Klett, jetzt auch mit Magnetverschlüssen. Die Hosentaschen auf der rechten Seite baut er mit diversen Einschüben aus und verwandelt sie zu wahren Bunkern. Alles was wichtig ist, findet Platz in den Tiefen dieser Taschen. Bei Ernsts Taschenmesser, ohne das er nicht einen Tag zurechtkäme, springt die Klinge per Knopfdruck heraus. Ich habe ihn nie gefragt, ob es waffenscheinpflichtig ist. Auch dafür fertigt Eduardo ihm einen Köcher unterhalb des Gürtels an. Ede liebt sein Handwerk. Auf dem größeren Bild rechts unten, sehen Sie ihn zusammen mit Ernst. Bestimmt erzählen sie sich Geschichten von all den Gegenden dieser Welt, die sie kennengelernt haben.

Bei Ernst wartet immer etwas, von dem er möchte, dass Ede es noch einmal ‚durch die Finger gleiten’ lässt. Dabei gehen seine Wünsche oft genug gegen jede ‚Flickschuster-Ehre’. Für Fusch ist Ede aber nicht zu haben. So dauert es meist etwas länger, wenn er sich mit Ernst trifft. Als Kind war mir das immer sehr recht. Sladdi, so hieß mein Freund von früher, und ich, wir durften uns währenddessen auf dem Markt umsehen. Wenn wir zurückkamen, winkte Eduardo zu seiner Standnachbarin hinüber, einer etwas kräftigen Dame im ‚Frau Antje’-Kostüm mit blondem Haar. Eduardo hob die Arme und zeigte mit den Fingern von oben auf unsere Köpfe, dann reichte Frau Antje uns beiden jeweils eine Tüte mit gebrannten Mandeln herunter. Auf dem Rückweg naschte Ernst abwechselnd bei Sladdi und bei mir, bis die Tüten leer waren. Eduardo war es auch, der Ernst ermunterte, die Konzertina wieder auszupacken. Er wollte erst nicht. Er meinte, dass er dann nur noch aus Mitleid Applaus bekäme. Mitleid mag er nicht. Aber Ede ließ nicht locker und erwähnte Django Reinhardt. Er pries ihn als den besten Gitarristen aller Zeiten. Beim Brand seines Wohnwagens habe er sich schwer verletzt. Sein rechtes Bein war gelähmt und die linke Hand so übel zugerichtet, dass er Ring- und Zeigefinger fast gar nicht mehr bewegen konnte. Sein Gitarrenspiel musste er sich komplett selbst beibringen, es gab ja kein Vorbild. Unvorstellbar, mit welcher Geschwindigkeit Django trotz dieser Beeinträchtigung spielte. Ede nahm sich der Konzertina an und weckte Ernis Ehrgeiz. Er designte passgenau für die linke Seite einen Schaft, so dass er mit dem Stumpf gegenhalten kann. Mit rechts bewegt er den Balg und spielt die Melodietasten. Auch ohne Bass lockt er eine mitreißende Musik aus diesem wunderlichen Instrument hervor. Seit der Überarbeitung heißt der alte Trecksack nur noch ‚Tina‘, Ede nennt ihn so; Konzertina ist ihm zu lang. Wenn es mal wieder etwas Kompliziertes zu werkeln gibt und Ernst immer wieder anprobieren muss, nimmt er Tina mit und spielt Eduardo bei der Arbeit etwas vor.“

Linda hört wortlos zu. Sie wechselt den Standort. „Wo finde ich denn weitere Bilder von Mia?“, fragt sie vor der ‚Ahnengalerie’.

David folgt ihr und zeigt geduldig Bild für Bild. Lindas Fragen scheinen beantwortet zu sein, bis auf eine.

„Thomas, Ihr Vater? Ich habe ihn nirgendwo gefunden, außer als kleines Kind zwischen den Eltern.“

„Nein, Thomas ist hier nicht vertreten. Da haben Sie recht. Das müssen wir ändern, unbedingt. Aber wissen Sie, was ich jetzt habe, Frau Dr. Buchholz?“

„Hunger, Herr Dr. Patolak!“

„Wie können Sie das wissen?“

„Mir geht es doch ebenso. Ich weiß auch, was wir dagegen unternehmen könnten: Wenn Sie ein Restaurant kennen, würde ich Sie gern einladen. Außer Erdbeertorte hab’ ich seit dem Frühstück nichts wieder gegessen. Nach den vielen Eindrücken hier ‚muss ich mir erst tüchtig was essen’. Diese eigentümliche Redewendung habe ich übrigens von Elfriede.“

David lächelt. „Kommt mir bekannt vor. ‚Denn man zu’, würde Oma Mia antworten. Auch Ernst pflegt gern die Eins-zu-eins-Übertragungen vom Platt ins Hochdeutsche. Wenn ihn irgendein Zipperlein plagt, ist er ‚schlecht zufrieden‘. Wenn ich ihn besuche, fragt er zur Begrüßung: ‚Gut zufrieden? Magst noch wohl tun?‘ Wenn er sich über irgendetwas ereifert, schüttelt er den Kopf und sagt: ‚Ist alle was.‘ Und wenn er etwas anstrengend findet, heißt es: ‚’Hört was zu.‘

Aber zu Ihrer Frage: Die ‚Crêperie Janhinnerk’ ist nicht weit von hier. Sie liegt direkt an der Kanaleinmündung. Dort könnten wir gemütlich draußen in der Abendsonne sitzen. Es gibt Pfannkuchen nach Rezepten aus aller Welt und die üblichen Standards wie Schnitzel, Pommes und Co. Die besondere Spezialität ist der Baukweiden-Janhinnerk. Der Teig wird aus Buchweizen, Dinkel und was nicht sonst noch alles zusammengerührt. Dabei hat jeder sein eigenes, streng geheimes Rezept. Er schmeckt … ?“, David überlegt, „na eben wie Buchweizenpfannkuchen. Schwer zu beschreiben, muss man probieren!“

„Unter Buchweizen kann ich mir so recht gar nichts vorstellen; nur mal davon gehört. Als Futtergetreide spielte es wohl keine Rolle, sonst müsste ich was davon wissen.“

„Trauen sie sich da gern mal ran. Nur Mut! Hat mit Weizen nichts zu tun, ist nicht mal ein Getreide, sondern ein Knöterich-Gewächs. Es kommt ursprünglich aus den Steppen Zentralasiens, vom Ende der Welt, wie Sie früher gesagt hätten. Der Buchweizen war die erste Kulturpflanze, die nach dem Abbau der Torfschicht auf dem kargen Sandboden wuchs.“

„Sie haben mich überzeugt. Ich probiere. Pfannkuchen und Papenburg, das passt zusammen. Ich habe schon seit Tagen immer mal wieder an Pfannkuchen gedacht. Wo genau ist die Crêperie?“

David zeigt in die Richtung. „Dor achtern, wor’t so wiet is, wor de Welt mit Pannkauken tauspiekert is.“

„So ganz habe ich das nicht verstanden.“

„Dahinten, wo ’s so weit ist, wo die Welt mit Pfannkuchen zugenagelt ist. ‚Irgendwo am Kanal‘, das stimmt in Papenburg auch fast immer. Ich wässere noch eben den Rhododendron, mach’ einen Kontrollgang und schließe ab. Dann geht’s los.“

Auf dem Parkplatz am Restaurant holt David Frau Buchholz vom Auto ab. Er hält die Tür auf und überreicht ihr eine CD.

„Bevor ich es vergesse; hier ist ein Exemplar der ‚Pat O’Luck’-CD. Sie lag noch im Handschuhfach. Jetzt haben Sie Musik für den Rückweg, Ernis Mucke. Ein hoffentlich angenehmer Ausklang des Tages, wenn Sie nach dem Essen gemütlich am Küstenkanal entlang hinter mir herfahren.“

Wasserstandsmeldung

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