Читать книгу Wasserstandsmeldung - Wilhelm Gruber - Страница 15
Оглавление… wer weiß, wofür das gut ist …
Wir haben uns doch voneinander verabschiedet!“ David sieht in den Rückspiegel, er spricht laut. „Ich habe rechtzeitig den Blinker gesetzt, mit der Hand durch das offene Fenster ein deutliches Zeichen gegeben. Warum ist sie nicht geradeaus weitergefahren?“
Linda macht keine Anstalten zum Wenden. Sie fährt unbeirrt hinter ihm her.
‚Ach lass sie. Sie kennt sich aus. Was hat sich hier am Obenende schon verändert? Oder spinnt vielleicht ihr Navi und sie glaubt ihm mehr als mir? Hauptsache, sie fährt nicht in den Kanal, da wär’ sie nicht die Erste. Ertrinken würde sie nicht, keine Gefahr; so wenig Wasser, wie der im Moment führt. Ein Moorschlammbad soll gesund sein’. David lacht. Er beobachtet sie weiter im Rückspiegel.
‚Nennt man das aufdringlich?‘, überlegt er. ‚Nach Papenburg ja, aber doch nicht hierher, zu Ernis kleinem Haus, in sein Paradies an der Vosswiek. Hierhin hat sie keiner eingeladen. Gesperrt! Zugang nur für Patolaken, für niemanden sonst. Bescheidenheit sieht anders aus, Frau Dr. Buchholz. Ob ich sie abhänge?
Ach, Unsinn! Wie denn? Mit quietschenden Reifen? Und was sag ich ihr beim nächsten Behandlungstermin im Krankenhaus?‘
Linda bleibt ihm auf den Fersen, immer am Kanal entlang. Er setzt den Blinker zur Einfahrt, sie tut es ihm nach. ‚Jetzt ist nichts mehr abzuwenden.‘
David lenkt ein. ‚Wer weiß, wofür das gut ist? Das sagt Ernst immer. Aus seiner Zeit lebt hier an der Vosswiek kaum noch jemand. Und nur wenige waren ihm so nahe wie Linda. Sie gehört zur Familie, fast hätte ich nicht mehr daran gedacht.‘
Die Türen beider Autos öffnen sich gleichzeitig.
„Haben Sie noch was vergessen?“
„Ach nein. Ich weiß selbst nicht, was in mich gefahren ist oder sollte ich besser sagen, wer in mir gefahren ist. Ich hatte eindeutig vor, geradeaus weiterzufahren, völlig klar. Bin dann trotzdem hinter Ihnen her, nolens volens sozusagen, wie ein Pferd mit Stalldrang. Ich war doch früher so oft hier. Es hat mich wieder hierhergezogen. Stört es Sie, wenn ich Ihnen etwas Gesellschaft leiste?“
David kramt umständlich in seiner Hosentasche nach den Schlüsseln. ‚Ein klares Ja oder wenigstens ein verärgerter Blick wären zwar ehrlich‘, denkt er, ‚aber Ehrlichkeit, was ist das schon? Sie schließt kleine Lügen mit ein.’ Er lächelt einladend in ihre Richtung und bietet ihr einen Platz auf der Bank an.
Frau Buchholz strahlt. Sie reckt die Arme weit auseinander, als wollte sie das Haus, den Garten und das ganze Anwesen umarmen. Dann setzt sie sich auf die Bank neben der Tür und lässt alles auf sich wirken.
David zeigt auf den Rhododendron. „Ernis ganzer Stolz! Die Blätter sind eingerollt. Ein deutliches Zeichen für Trockenheit! Wenn wir heute Abend wieder fahren, sehen sie schon frischer aus. Dann gibt es nochmal eine Kanne Wasser.“ Er schließt den Schuppen auf, holt eine Gießkanne, lässt sie volllaufen und kriecht damit unter das weit verzweigte Geäst bis zum Stamm. Der angehäufelte Gießrand sorgt dafür, dass nichts zur Seite rinnt und das Wasser sich um den Wurzelballen verteilt. Ein Rotkehlchen fliegt herbei. „Na? Schon auf mich gewartet?“
Linda sieht sich um. Die grünen Netze der Meisenknödel hängen leergepickt an den Zweigen. Sie bewegen sich im Wind. David holt neue und hängt sie auf.
„Ernst füttert im Winter wie im Sommer. Der Vogelprofessor im Fernsehen empfiehlt das neuerdings auch, der muss das von ihm haben. Ernst hat das immer schon gemacht. Er liebt seine Vögel. Nach jedem Frühstück putzt er die Krümel vom Tisch und bringt sie auf dem Brotschneidebrett zum Futterhäuschen. Als Dank dafür halten sie ihm die Zikaden vom Rhododendron und die Zünsler-Raupen am Buchsbaum kurz.“
Das Gras wächst zwischen den Pflastersteinen durch die Fugen. ‚Da muss ich bald mal ran, nur heute wird das nichts‘, denkt er.
„Ein Kleinod, das Ihr Opa sich hier erhalten hat“, schwärmt Linda, „da haben Sie recht. Und hinter dem großen Garten das Moor. Ich wollte das so gern noch einmal sehen. Hoffentlich sind Sie mir nicht böse.“
„Nein wirklich nicht, Frau Buchholz, alles gut!“, beteuert David mit einem nachsichtigen Blick. „Opa‘ mag Ernst übrigens nicht heißen; er war verhältnismäßig jung, als ich zur Welt kam. Er hat sich auch nie zu einem typischen Opa gewandelt, eigentlich ist er immer noch Erni.“
„Das ist wichtig zu wissen. Jeder sollte so genannt werden, wie er es wünscht. Ich habe mich damals mit dem Namen ‚Linda’ schwergetan. Die andere Gerlind in der Klasse blieb Gerlind. Nur ich wurde ungefragt zur Linda. Das war nicht in Ordnung! Aber mittlerweile macht mir der Name nichts mehr aus, im Gegenteil; meine Großnichte heißt wie ich, sie ist nach mir benannt. Ich bin ihre Patentante und stolz darauf. Wenn es Ihnen recht ist, Herr Patolak, dann nennen Sie mich gerne Linda, ich sage dann David zu Ihnen, wenn das für Sie ok ist.“
„Danke, Linda!“
„Bitte, David“, antwortet sie und zeigt auf die offene Schuppentür. „An diesen Schuppen erinnere ich mich genau. Mir kommt es vor, als wären die Schwalbennester unter dem Dachüberstand noch immer dieselben. Früher hat Elfriede Kaninchen und Hühner darin gehalten. Ernst und ich suchten Löwenzahn und Wegerich. Wir hatten beide unsere Lieblingskaninchen, meins war schwarzweiß gescheckt und seins grau, es sah mehr nach einem Wildkaninchen aus. Sie ließen sich gern durch ihr weiches Fell kraulen und mümmelten immerzu. Beide hießen sie ‚Mucki‘. Seitlich vom Schuppen, wo jetzt die Bank steht, gab es damals einen Freilauf für Hühner. Er war in halber Höhe mit Maschendraht überspannt, damit der Habicht nicht zu Besuch kam. Mit den Eiern hatte es seine Bewandtnis; sie wurden warm unter dem Hintern der Hühner weggeholt und sorgsam an die Seite gelegt. Eier waren ein Ersatz für Bargeld. Ernst schämte sich, wenn Elfriede ihn damit zum Einkaufen schickte. Im Kolonialwarenhandel, so hieß damals der Laden, wurden die Eier zum Weiterverkauf angenommen und verrechnet.“
David bestätigt: „Ernst hat oft erzählt, dass er mit Eiern zum Einkaufen geschickt wurde. Es war ihm peinlich, das klang deutlich durch. An den Freilauf habe ich ebenfalls meine Erinnerungen, obwohl das zwei Generationen später war. Die Überdachung aus Maschendraht war genauso hoch, dass ich als Kind aufrecht darunter herging, nur in der Mitte hing sie ein wenig durch. An der Stelle strich mein Kopf unter dem Draht her. Die Federn, die sich in den Maschen verfangen hatten, blieben bei mir im Haar hängen. ‚Indianer’ nannte Oma Mia mich und rubbelte mir den Kopf frei.
Ich mochte die Hühner, ihre eigenartigen Laute hatten es mir angetan. Bald kannte ich ihr Gackern und Kakeln, wurde schlau daraus und ahmte es nach. Schade nur, dass wir uns von den Hühnern trennten, wo ich doch kurz davor war, ihre geheimnisvolle Sprache zu entschlüsseln.
‚Der Fuchs!‘, sagte Ernst. ‚Eines Nachts bricht er durch die morschen Bretter in den Hühnerstall ein.‘ Damit war das Thema erledigt. Ich habe mich lange geweigert, Hühnersuppe zu essen. Bis heute gehört sie nicht zu meinen Lieblingssuppen. Nur wenn ich mich stark erkältet habe, wenn ich schniefe und huste, fällt sie mir als Ernis Geheimrezept gegen Grippe ein.“
David öffnet den Briefkasten, sieht die Post durch, sortiert die Werbung und das Anzeigenblatt heraus und wirft sie in die blaue Tonne. Er sperrt die Haustür weit auf, klemmt sie mit einem Holzkeil fest, betritt das Haus, öffnet die Fenster, sorgt für Durchzug und bittet Linda herein.
„Mir ist, als käme Elfriede mir jeden Moment entgegen, um mir frisches Gemüse aus dem Garten mit nach Hause zu geben, so wie früher.“
„Kommen Sie mit mir zu den Fotos, ich zeige Ihnen Elfriede, meine Urgroßmutter.“
Linda kramt ihre Brille hervor und folgt ihm. Durch das breite Wohnzimmerfenster sieht sie über die Rasenfläche hinaus auf das Moor mit dem verblühten Wollgras. An der Wand gegenüber hängen die Fotos.
„Hier ist sie, zusammen mit Kurt, meinem Urgroßvater.“
„Ja, Elfriede!“ Linda zeigt auf ein kleineres Bild. „Hier ist sie schärfer zu erkennen. Das wird aus der Zeit sein, zu der sie bei uns im Haushalt war. Und da ist Ernst. Sehen Sie denn nicht die Ähnlichkeit mit Ihnen?“
„Doch, ja. Nicht ausgeschlossen, dass er mir aus dem Gesicht geschnitten ist.“
Linda lacht. „Umgekehrt: Sie ihm!“
David zeigt nach rechts. „Von Ernst gibt es an der Wand neben der Terrassentür mehr zu sehen: seine Bildergalerie der Lehr- und Wanderjahre. Hier hängen die Bilder der Familie, zum Beispiel dieses hier von Mia und Ernst, in der Mitte zwischen ihnen Thomas, mein Vater. Aus der jüngeren Zeit gibt es ein paar Aufnahmen von Ernis Auftritt zusammen mit mir in Münster auf der Promenade, das Duo ‚Pat O’Luck‘; er mit seiner Konzertina und ich mit der Gitarre.“
Linda versucht, sich auf die Bilder zu konzentrieren. Die Menge scheint sie zu überfordern. Ihr Blick wandert hin und her und dann wieder auf und ab.
David setzt sich. „Hier habe ich mich oft hingelümmelt und mir zu jedem Bild etwas von Ernst erzählen lassen. Er fand manchmal kein Ende.“
„Die Zimmermannskluft steht ihm“, sagt sie voller Bewunderung, „der breitkrempige Hut, Schlaghose und Weste aus schwarzem Cord, ein weißes Hemd ohne Kragen mit kurzem Schlips, dann der Stenz und das Bündel, zünftig. Ich wusste gar nicht, dass er auf die Walz gegangen ist. Wie lange war das?“
„Nicht ganz drei Jahre. Ernst hat leider die von seiner Zunft vorgeschriebenen ‚drei Jahre und einen Tag’ nicht geschafft.“
„Die Zeit der wandernden Handwerksburschen war doch längst vorbei. Wie kam er dazu? Andere gingen auf die Barrikaden, er auf die Walz.“
„Die Barrikaden hat er mehr für eine Sache von verrückten Studenten gehalten, die gern mal ihre Arbeiterfäuste ballten. Ernst hatte nichts damit am Hut, er sieht sich als ehrbarer Handwerker. Der Altgeselle, der für seine Ausbildung zuständig war, hatte ihm etwas von der Walz vorgeschwärmt: ‚Bis Portugal gekommen! Zu Fuß! Die Welt gesehen!‘ Ernst fing Feuer, ließ sich vom Wandervirus infizieren und war nach seiner Gesellenprüfung nicht mehr zu halten.“
Linda grinst. „Vom Ende der Welt in die weite Welt hinein.“
Das ‚Ende der Welt‘ will David ihr nicht durchgehen lassen. Er setzt einen entrüsteten Blick auf. „Das sitzt aber tief bei Ihnen. Wenigstens sprechen Sie nicht vom Arsch der Welt.“
Linda beißt sich auf die Unterlippe und senkt beschämt den Kopf. „Entschuldigung! Sie haben recht. Das ist so ein blöder Spruch, den ich von meiner Mutter übernommen habe. Ich lösche ihn sofort aus dem Wortschatz.“
Dann fragt sie weiter: „Was sagten seine Eltern zu den Wanderplänen? Haben sie ihn gelassen? Wenn ich da an meine Mutter denke,“ sie schüttelt den Kopf, „die hätte sich quergelegt.“
„Er hat nie irgendwelche Probleme erwähnt. So etwas lief unter ‚Hörner abstoßen’. Sogar vom Wehrdienst wurde er zurückgestellt mit der Auflage, sich in drei Jahren wieder zu melden.“
David sieht aus dem Fenster. „Nach meinem Plan würde ich jetzt mit dem Aufsitzmäher ein Stündchen auf dem Rasen umherkurven. Aber ich kann es mir sparen; das Gras ist verdorrt. Da ist seit dem letzten Mal nichts nachgewachsen. Ich hol’ uns mal Mineralwasser. Mit oder ohne Zisch?“
„Am liebsten Naturell, sonst Medium. Ich halte Sie doch nicht von Ihrer Arbeit ab, David? Erledigen Sie alles, was nötig ist. Und wenn ich Ihnen helfen kann, sagen Sie bitte Bescheid.“
„Vielen Dank, aber die Sonne hat ganze Arbeit geleistet. Vielleicht regnet es ja bald mal. Dann wächst das Gras und ich darf wieder auf den Mäher, mein Lieblingsjob, fast wie Treckerfahren, ein Traum von früher, als ich noch Bauer werden wollte.“
David stellt Flaschen und Gläser auf den Wohnzimmertisch. „Sie bedienen sich bitte selbst. Und vielleicht, wenn Sie Lust dazu haben, könnten Sie eben mit dem kleinen Akkusauger die toten Fliegen von den Fensterbänken saugen. Die mag Ernst nicht; sein Ordnungssinn! Ansonsten ist nicht so viel zu tun. Ich schneide an der Einfahrt ein paar Zweige zurück, dann sieht es nicht so zugewuchert aus. “
Linda kümmert sich gründlich um die Fensterbänke, einige Spinnweben verschwinden ebenfalls im Rohr des Saugers. Dann gießt sie sich Wasser ein, trinkt und findet die Ruhe, sich ausgiebig bei den Bildern umzusehen. „Wer mag das sein?“, fragt sie sich immer wieder. Sie erkennt einiges: Ernst vor Windmühlen und Grachten in Holland, neben der Rodin-Skulptur mit den Bürgern von Calais, am Mont St. Michel oder vor dem heiligen Berg der Iren, dem Croagh Patrick. Immer wieder sind Landschaften und Sehenswürdigkeiten im Hintergrund, die sie Holland, England, Irland oder Frankreich zuordnet. Ein Foto, das Ernst neben Charles Aznavour zeigt, weckt ihre Neugierde. Unter dem Rahmen steckt eine Karte mit Autogramm und Widmung auf Französisch.