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Оглавление… kalbender Eisberg …
Am verabredeten Mittwoch empfindet David Patolak die Strecke am Küstenkanal entlang nicht so eintönig wie sonst. Zuerst rechts vom Kanal, dann wieder links, in Gedanken ist er schon in Papenburg bei der Führung mit Linda. ‚Wie gut ist sie jetzt zu Fuß? Welchen Rundgang mute ich ihr zu und was für Schwerpunkte setze ich? Die Zeit ist knapp. Einiges lass ich besser weg.‘
Am Hauptkanal findet er einen Parkplatz direkt hinter einem Auto mit Oldenburger Kennzeichen. ‚Würde zu ihr passen, das Wägelchen.’ Er stellt sich Frau Buchholz am Steuer vor. An der Brunnenskulptur auf dem Kirchplatz entdeckt er sie neben der Statue von Antonius, der zu den Fischen predigt, Antonius von Padua.
„Ich bin schon heute Vormittag gekommen“, begrüßt sie David mit einem strahlenden Lächeln. „War gerade in der Antoniuskirche, von Grund auf renoviert. Die Backsteingotik kommt jetzt zur Geltung, ist mir früher nie aufgefallen. Hier ist so viel Neues zu entdecken. In meiner Vorstellung gab es noch die Bänke unter den hohen Linden an der Bushaltestelle. Mit Blick auf den Kanal und das Rathaus warteten wir hier auf den Bus. Und die erste Pommesbude der Stadt habe ich nicht wiedergefunden. Sie war direkt gegenüber an der Kirchstraße. Wenn Ernst mich an seinem Berufsschultag von der Schule abholte, aßen wir zuerst Fritten, ich mit Mayo, er rot-weiß. Wenn allerdings Augustmarkt war, gab es gebrannte Mandeln. Die kamen mir wieder in den Sinn, als ich heute Morgen sah, wie schon die Fahrgeschäfte für den Augustmarkt aufgebaut wurden, leider gibt es noch keine Buden, sonst hätte ich mir erst einmal eine Tüte gegönnt.“
„Gebrannte Mandeln sind Ernis Schwäche geblieben“, sagt David.
Linda zeigt auf die Skulptur. „Sagen Sie, was hat es mit den Fischen auf sich. Antonius ist doch zuständig, für alles, was verlorengeht. Beim Fundbüro könnte ich mir eine Statue von ihm vorstellen.“
„Toni wird verkannt. Er ist mehr als nur der Patron der Vergesslichen. Dass Franziskus mit den Vögeln redete, weiß jeder. Aber kaum einer kennt Antonius als den, der zu den Fischen sprach. Er war ein so mitreißender Prediger, dass sogar die Geschöpfe des Meeres ihre Köpfe aus dem Wasser reckten und ihm zuhörten. So etwas erfährt man in Papenburg.“
„Sehen Sie nicht, wie ich den Kopf recke? Ich muss jetzt unbedingt die ganze Geschichte hören.“
David lächelt. „Der Legende nach reiste Antonius von Padua nach Rimini. Aber die Oberen der Stadt waren ihm nicht wohlgesonnen, sie verboten ihm, in den Tempeln und auf den Plätzen zu predigen. Darüber war er traurig und begab sich zum Meer.
Nur dem Wasser, den Wellen und dem Wind zugewandt, wagte er es, dort seine Predigt zu halten, und siehe da: Augenblicklich schwammen Hunderte und Tausende von Fischen herbei und lauschten ihm. Das wiederum sahen die Fischer. Sie rannten zum Ufer, aber statt in ihre Boote zu springen und die Netze auszuwerfen, zog Antonius auch sie in seinen Bann. Sie achteten nicht mehr auf die Fische, sondern stellten sich um ihn herum und hörten seine Worte.“
Linda klatscht Beifall. „Die kleinen Geschichten am Rande,“ sagt sie, „dafür lohnt es sich doch immer, genauer hinzusehen. Jetzt erkenne ich die Wellenmuster in der Pflasterung. Sie stellen das tosende Meer dar. Davon habe ich in den Berichten der Kapitäne gelesen: Seeleute aus Papenburg auf allen Weltmeeren, nicht nur Männer, auch Frauen. Am Hauptkanal gibt es blumengeschmückte Inseln, auf denen die Erlebnisse der Seefahrer aus ganz verschiedenen Jahrhunderten in Szene gesetzt sind.“
„Darf ich Sie denn zuerst in ein Café einladen?“, fragt David, „es ist Tee-Zeit.“
Frau Buchholz nickt. „Ich kann Ihnen eins zeigen, in das ich gerne einkehren würde, aber nur, wenn Sie einverstanden sind.“
„Sie sind mein Gast. Sie haben die Wahl.“
„Ich bin schon etwas länger hier, ein bisschen herumgegangen und habe das Haus gesucht, in dem wir früher wohnten. Es steht nicht mehr. Dann war ich auf dem Museumsschiff ‚Friederike von Papenburg‘ und habe mir Prospekte geholt. Und natürlich konnte ich nicht an der Buchhandlung vorbei, ohne mich einzudecken.“ Sie zeigt auf ihre Einkaufstüte.
„Die ganze Stadt ist ein Blütenmeer. Papenburg hat sich gemacht“, schwärmt sie weiter. „Sie hatten recht. Einiges erkennt man zwar nicht wieder, aber es fügt sich in das Gesamtbild ein. Das Unverwechselbare einer Fehnkolonie kommt zur Geltung: die schnurgeraden Kanäle in strengen Winkeln zueinander mit den historischen Schiffen. Die Trauerweiden und Schwäne, genau wie ich sie in Erinnerung hatte. Dann das Rathaus, die kleine Schleuse und das Gebäude der Aufbauschule, meiner alten Schule. Alles habe ich mühelos wiedererkannt, nach so vielen Jahren.“
Im Café finden sie einen Platz am Fenster. Linda packt in aller Ruhe ihre Bücher über Papenburg aus und zeigt sie David. Die Serviererin steht mit dem Block in der Hand am Tisch. Sie wartet geduldig, bis Frau Buchholz ihren Platz eingerichtet hat, und macht dann mit einem freundlichen, langgedehnten „Mo-hoin“ auf sich aufmerksam.
„Die Erdbeertorte sieht vorzüglich aus“, sagt Linda, „ich habe mir heute Vormittag an der Kuchentheke schon einen Überblick verschafft. Die Erdbeeren schmecken selbst noch im Hochsommer nach Erdbeeren, bei so viel Sonne. Darf ich Sie dazu einladen, Herr Dr. Patolak?“
„Gern, Frau Dr. Buchholz. Mit Schlagsahne bitte, wenn ich mir das wünschen darf. Ich lade Sie dann zu einem Kännchen Ostfriesentee ein, den mit Kluntjes und Rahm, Sie wissen schon: für die Wolke.“
Die Serviererin notiert und wiederholt: „Zwei Kännchen Tee und zweimal Erdbeertorte, jeweils mit Sahne?“
„Ja bitte. Und ein Stövchen zum Warmhalten?“, fragt Frau Buchholz, „bringen Sie das auch mit?“
„Zum Ostfriesentee immer“, bestätigt die junge Frau.
Fast ist der Tisch zu klein, um für das Bestellte Platz zu finden. Frau Buchholz steckt ihre Bücher zurück in die Tasche und hängt sie an die Armlehne des Stuhles.
„Darf ich Ihnen eingießen?“, fragt David Patolak.
In den blau geblümten Porzellantassen brechen die Zuckerkluntjes unter dem heißen Tee auseinander. Dabei knistert es leise.
„Wie ein kalbender Eisberg; die Klimakatastrophe in der Teetasse“, beschreibt David den Vorgang. „Und jetzt das ‚Wulkje’, die weiße Wolke des Rahms im Tee. Bitte nicht rühren, das gehört zur Zeremonie; der Teelöffel dient ausschließlich der Verständigung. Wer keinen Tee mehr möchte, legt ihn in die leere Tasse.“
Am Hauptkanal entlang führt David seinen Gast in Richtung Bahnhof. Es geht nur langsam voran; für Linda gibt es überall etwas zu entdecken, die Zugbrücken mit dem weiß gestrichenen Gebälk, der üppige Blumenschmuck, als hätte Papenburg sich extra nur für sie geschmückt. Sie nimmt sich Zeit.
„Wo ist die große Werft mit den Kreuzfahrtschiffen?“, fragt sie.
„Die ist nach außerhalb verlegt, schon vor vielen Jahren. Auf dem ehemaligen Gelände ist das Forum Alte Werft entstanden mit der Stadthalle, einer Galerie und dem Theater. In der alten Kesselschmiede geben sich die Stars der Musikszene die Klinke in die Hand. Da ist immer was los, für Jung und Alt. Vielleicht finden wir irgendwo ein Programm.
Wenn Sie die Werft besichtigen wollen, nehmen Sie den Bus. Es lohnt sich, aber dafür sollten Sie wiederkommen und sich unbedingt vorher anmelden.“
„Es gibt so viele Gründe wiederzukommen. Die Stadt gefällt mir. Sie hat ihre Eigenarten so vorteilhaft herausgeputzt. Hoffentlich schaffe ich alles.“
„Es sieht doch gar nicht so schlecht aus bei Ihnen.“
Linda nickt. „Danke, dass Sie mir Mut machen.“
Eine schmale Fußgängerbrücke führt über den Kanal.
„Dann wechseln wir jetzt die Seite und machen einen Abstecher zum Ems-Center, für Sie auch neu. Von da aus geht es wieder zu ihrem Parkplatz am Hauptkanal. K’nal rauf, K’nal runter.“
„K’nal rauf, K’nal runter, K’nal voll“, ergänzt Linda. „Den Spruch kenn ich noch. Aber wo sind die Kneipen geblieben? Es gibt nicht mehr so viele wie damals, selbst in Papenburg nicht.“
Am Parkplatz verabschieden sie sich voneinander. Linda bedankt sich überschwänglich.
„Keine Ursache, Frau Buchholz. Da nicht für! Kommen Sie heil zurück, melden Sie sich bei Ihrem nächsten Behandlungstermin und bringen Sie bitte wieder gute Nachrichten mit.“
David will einsteigen, aber ihm fällt ein, dass er Linda noch kurz die Strecke erklären sollte: „Sie können ein ganzes Stück hinter mir herfahren, bei den schmalen Straßen ist es an manchen Stellen verwirrend. Am Obenende, wenn ich in die Vosswiek abbiege, müssen Sie geradeaus, immer weiter am Kanal entlang bis zum Küstenkanal und dann links in Richtung Oldenburg. Ich gebe Ihnen ein Zeichen.“