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… glaub’ ich jedenfalls …

Erst am späten Nachmittag ist Dr. Patolak zurück auf der Station. Schwester Gerda hat alles im Blick. „Sie vergessen es nicht: Zimmer 14? Frau Buchholz wartet sehnsüchtig auf Sie. Ich weiß schon: die Jugendliebe Ihres Großvaters. Sie ist ganz aus dem Häuschen. Das bringt sie auf andere Gedanken.“

„Hab’ ich auf dem Schirm, aber heute?“ Er schüttelt den Kopf. „Das wird nichts mehr. Morgen ist auch noch ein Tag.“

„Frau Buchholz wartet schon. Nur kurz. Es muss ja nicht lange sein.“

Dr. Patolak sieht ihren bittenden Blick.

„Frau Buchholz ist neugierig. Kurz, das wird bei ihr nicht gehen.“

„Neugierde ist eine Form von Interesse. Was soll daran schlimm sein? Frau Dr. Buchholz hat Ihnen bestimmt einiges zu erzählen. Wenn jemand nach Ihnen fragt, dann weiß ich, wo Sie sind.“

„Mir bleibt wohl nichts anderes übrig, ich tu ja immer was Sie sagen, Schwester Gerda.“

„So, Frau Buchholz, Puls und Blutdruck in Ordnung. Kommen wir zum Eigentlichen: Papenburg.“

Frau Buchholz strahlt. „Fahren Sie ab und zu noch mal hin?“

„Ja schon, im Moment sogar öfter; so weit ist es ja nicht. Ernst ist nicht da und der Nachbar auch nicht. Von Zeit zu Zeit mal nach dem Rechten sehen, Rasen mähen und seinen prächtigen Rhododendron gießen. Es hat ja so lange nicht geregnet.“

„Ist es noch dasselbe Haus?“

„Dasselbe kleine Haus am Ende der Vosswiek mit dem Moor dahinter, ein Kleinod im wahrsten Sinne des Wortes.“

„Und wo ist Ernst?“

„Ernst? Ernst, der ist gerade in Spanien.“

„Jetzt, im Sommer? Alle Rentner fliegen doch in der kalten Jahreszeit nach Spanien.“

„Ernst ist ja nicht zum Spaß da. Er bildet Jugendliche aus, ehrenamtlich in einem Camp der Senior Experten oder so.“

Frau Buchholz nickt anerkennend.

„Wie lange haben Sie in Papenburg gewohnt?“, fragt er.

„Genau weiß ich es nicht mehr. Bis zu dem Alter, in dem Mädchen anfangen, sich für Jungen zu interessieren, und sich gerne mal unsterblich verlieben. Wir waren mit der Volksschule fertig, das war damals nach der achten Klasse. Er fand eine Lehrstelle in der Zimmerei; ich bestand die Aufnahmeprüfung zum Gymnasium, seinerzeit Aufbauschule, und drückte weiter die Schulbank. Dann irgendwann zogen wir um.“

„Hierher?“

„Ja, nach Oldenburg“, bestätigt sie. „Für meinen Vater gab es als Notar in einer größeren Stadt mehr zu verdienen; die Landvergabe an die vertriebenen Bauern aus dem Osten war abgeschlossen, seit Jahren. Und meine Mutter war für diese Gegend nicht geschaffen, das behauptete sie. Sie hat sich immer nur abfällig geäußert. Für das Ende der Welt fand sie sich zu schön. ‚Im Moor versauern‘, so drückte sie sich aus. Das wollte sie nicht.“

„Klingt nicht sehr respektvoll. Keine lobenden Worte für Papenburg? Papenburg muss man doch lieben!“

Frau Buchholz beugt sich vor und schüttelt den Kopf. „Sie haben meine Mutter nicht gekannt; eine Frisur wie Marilyn Monroe, Pelzmantel, eine Art Diva, die ihr Rampenlicht nicht fand, zumindest nicht in Papenburg. Sie konnte meckern wie eine Himmelsziege und schöntun wie ein Hofschranz. Wenn jemand sagt, sie hätte so ihre Allüren gehabt, würde ich nicht widersprechen. Aber eigentlich wollte ich lieber etwas über Ernst hören, natürlich nur, wenn es Ihre Zeit erlaubt.“

„Schwester Gerda weiß, wo ich bin. Sie wird mich bei Bedarf abkommandieren. Einen Feldwebel muss es ja auf jeder Station geben. Also: Erni ist ein feiner Kerl, immer gewesen; glaub’ ich jedenfalls. Übrigens Erni darf nur ich zu ihm sagen, für alle anderen besteht er auf Ernst.“

„Ich durfte auch Erni zu ihm sagen“, unterbricht Frau Buchholz und scheint sich darüber zu freuen. „Ich erinnere mich aber, dass er schon damals mit dieser Lizenzvergabe sehr sparsam umging.“

David Patolak bleibt beim Thema: „Eigentlich bin ich bei Ernst groß geworden. Ich war ein Partykind. Meine Eltern gingen auseinander noch bevor ich zur Schule kam, natürlich in Freundschaft, wie sie mir versicherten. Das Sorgerecht wollten sie sich teilen. Formal stimmte das auch, aber in der Praxis wurde daraus nichts. Immer, wenn ich zu meinem Vater sollte, wurde ich zum Großvater gebracht. Darüber beklage ich mich aber nicht. Ernst hat sich rührend gekümmert. Er war mein Ankerpunkt und er ist es lange geblieben. Als meine Mutter einen neuen Partner fand, der mit mir nichts anfangen konnte, wurde Ernst sogar zur einzigen Anlaufstelle für mich. Auf ihn war immer Verlass.“

Dr. Patolak hält kurz inne. ‚Wer erzählt denn jetzt seine Lebensgeschichte, dazu noch einer wildfremden Frau?‘, denkt er. ‚Obwohl, Linda Buchholz? Nein Linda ist nicht fremd‘, entscheidet er kurzerhand, bevor sie sich mit der nächsten Frage weiter vortastet.

„Und Ihre Großmutter? Lebt sie auch noch?“

„Leider nicht. Sie ist gestorben, als ich ins dritte Schuljahr kam. Das war erschütternd für uns, für mich, für meinen Vater und am schlimmsten für Ernst. Ich sehe noch die vielen Leute, wie sie mir nach der Beerdigung über den Kopf streichen wollten. Ich rannte von der Kaffeetafel weg.

Mein Vater fand mich draußen und setzte sich zu mir auf die Bordsteinkante. Er hatte einen Teller Bienenstich dabei. Auf die Kuchengabel gesteckt, hielt er mir ein Stück hin. Ich mochte nicht, aber er sagte: ‚Oma Mia freut sich, wenn es dir schmeckt.‘ Ich sah die Mandelkruste und konnte nicht widerstehen. Wir aßen abwechselnd Stück für Stück, eins für mich, eins für ihn. Dabei merkte ich, dass auch er weinte.

Sie ist mir unvergesslich geblieben, meine Oma Mia. Wenn sie mir für das Abendbrot Pfannkuchen versprach, machte ich alles für sie, sogar die Schularbeiten. Die frühesten Erinnerungen habe ich an das Hühnerfüttern mit ihr. Wenn mein Vater mal wieder auf sich warten ließ, mich viel später abholte als vereinbart oder gar nicht kam, gingen wir nach draußen. Ich half ihr und streute Körnerfutter aus. Die Hühner kamen schon fast angeflogen, wenn sie mich nur sahen.“

‚Vielleicht erzähle ich ihr zu viel’, überlegt er. ‚Ob sie das alles hören will?‘ Aber Frau Buchholz hat schon die nächste Frage auf den Lippen. ‚Kurzfassen!‘, nimmt er sich vor.

„An was ist denn Ihre Großmutter gestorben?“

„Krebs!“, antwortet er und würde dieses grausam klingende Wort am liebsten zurückrufen. „Aber machen Sie sich keine Sorgen, daran muss man heute nicht mehr sterben“, fügt er schnell hinzu. „Die Medizin war damals nicht so weit.“

Einen Moment lang redet niemand.

„Und Sie? Haben Sie Familie?“, nutzt er die Lücke. Sie schüttelt den Kopf. „Ich bin allein geblieben, Single sagt man heute. Zu wählerisch“, sie lacht. „Ich war nicht adrett genug, wie meine Mutter es mir vorhielt. Mit Gummistiefeln im Kuhstall; das hatte so gar nichts von einer Dame, zu der Männer sich vielleicht eher hingezogen fühlten. Aber so war’s. Ich hatte mir einen Männerberuf ausgesucht, der fast ausschließlich an die Landwirtschaft gekoppelt war, an Schweinemast, an Rinder- und Pferdehaltung. Kleintiere spielten noch keine große Rolle, es gab nur wenige Praxen; kaum jemand ging mit einer Katze, einem Hund oder gar Meerschweinchen in eine Veterinärpraxis. Heute hat sich das Bild gewandelt. Die Behandlung von Kleintieren ist eine wichtige Einnahmequelle geworden und, was ich niemals erwartet hätte: Wir Frauen haben in der Veterinärmedizin die absolute Mehrheit erobert. Es arbeiten nur noch wenige Männer in diesem Beruf. Das war für mich so unvorstellbar wie Frauenfußball. Auch daran habe ich nicht geglaubt, so gern ich gegen jeden Ball trat.“

Schwester Gerda klopft. Sie öffnet die Tür nur einen Spalt. „Die Oberärztin ist da.“

Dr. Patolak steht auf. „Ich komm’ morgen wieder, Frau Buchholz, aber dann reden wir nur über Blutdruck, Puls und Co. Für alles andere habe ich keine Zulassung.“

Als David Patolak später nach Hause fährt, sind seine Gedanken sofort wieder bei Frau Buchholz. Er stellt sich Linda als junges Mädchen vor, in das Ernst sich verliebte oder sie sich in ihn.

‚Ihr Lächeln hat was. Immer noch‘, denkt er, ‚dazu die strahlenden Augen.‘

Wasserstandsmeldung

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