Читать книгу Wasserstandsmeldung - Wilhelm Gruber - Страница 13

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… nichts Menschliches fremd …

Schon nach der ersten Behandlung meldet Frau Buchholz sich auf der Station bei Dr. Patolak. „Alles problemlos vertragen, hoffentlich wirkt es.“

„Sie schaffen das!“, ermutigt David sie und bietet ihr einen Platz im Aufenthaltsraum an. „Die Tiermedizin ist ein weites Feld. In welchem Gebiet haben Sie da gearbeitet? Das war mir beim letzten Treffen nicht klar“, fragt er unvermittelt. Er sieht auf die Uhr.

„Unterschiedlich. Die ersten Jahre nach meiner Approbation war ich bei einer Großtierpraxis angestellt, überwiegend mobil, von Hof zu Hof, von Stall zu Stall mit viel Bereitschaftsdienst. Dabei schlich sich im Laufe der Zeit so etwas wie Verdrossenheit ein. Hengste kastrieren und mitten in der Nacht ausrücken, um Zwillingskälbern auf die Welt zu helfen, das waren nicht meine Lieblingsbeschäftigungen. Aber in eine der vielen Kleintierpraxen einzusteigen, kam für mich auch nicht in Frage. Sie schossen bald aus dem Boden. Die Katzenliebhaber hätten bei mir an der falschen Tür geklingelt. Sie wären nie wieder gekommen.

Eine nächtliche Fohlengeburt, für die ich zu einem Zirkus gerufen wurde, eröffnete mir eine neue Perspektive. Am Tag davor hatte ich eine Ausschreibung des Veterinäramtes gelesen, es ging um eine Stelle als Amtstierärztin. Mein Einsatz im Stallzelt bei den Zirkustieren brachte mich auf einen Gedanken: Ein Zirkus mit Tierhaltung muss an jedem neuen Standort amtstierärztlich kontrolliert werden, sehr zurecht, wie ich fand.

Am Tag danach bewarb ich mich beim Veterinäramt, erfolgreich. Ab jetzt war ich immer mal wieder im Zirkus, allerdings nicht zu den Vorstellungen, sondern zu amtlichen Kontrollbesuchen, die ich sehr genau nahm.

Die neue Stelle gefiel mir. Außendienst und Arbeit am Schreibtisch hielten sich die Waage. Aber, um auf Ihre Frage nach den Männern zurückzukommen, der Traumprinz lief mir auch da nicht über den Weg, nicht in den Amtsstuben und nicht außerhalb. Es hat nicht sollen sein. Schade, ich hätte gern eine Familie gehabt. Ist halt so.“

David weiß nichts darauf zu sagen. ‚Da kann ich nicht helfen. Tipps für den richtigen Mann? Dafür ist es jetzt etwas spät’, denkt er und geht achselzuckend über das Thema hinweg.

„Ernst ist übrigens Zirkusfan“, knüpft er an. „Wir besuchten jeden Zirkus, der im Umkreis gastierte, ließen nicht einen aus. Das gehörte zu den Höhepunkten unserer gemeinsamen Unternehmungen. Ich durfte andere Kinder dazu einladen; denn Ernst schaffte es immer, Karten mit ermäßigtem Eintritt oder gar Freikarten aufzutreiben.“

Schwester Gerda bringt eine Krankenakte.

„Ihr Termin, Dr. Patolak“, sagt sie und wendet sich dann Frau Buchholz zu. David macht sich auf den Weg.

Einige Tage später meldet Frau Buchholz sich wieder bei David. „Meine Ergebnisse sind im Grünen. Die Behandlung schlägt an“, verkündet sie.

Der Aufenthaltsraum mit den Getränkeautomaten ist frei, wie für beide reserviert. „Das freut mich“, antwortet Dr. Patolak, „bitte weiter so!“

Die regelmäßigen Gespräche mit Linda gehören bald schon zur Tagesordnung, etwa zweimal in der Woche. Manchmal reicht die Zeit, die David sich nehmen kann, nicht aus, dann bleibt für den Abend das Telefon.

Lindas Drang, von sich zu erzählen, flaut nicht ab. „Ich habe das Studium erwähnt und von meiner Mutter gesprochen, nur eines fehlt noch. Wir haben eine Gemeinsamkeit.“

David Patolak legt sein Handy auf den Tisch, macht es sich auf dem Kunstledersessel bequem und stellt sich aufs Zuhören ein.

„In Papenburg hatte mein Vater allein zu Hause gearbeitet. In Oldenburg dagegen bezog er ein Büro in einer Anwaltskanzlei. Die Arbeitszeiten wurden immer länger. Nach seinem Tod meldete sich kurz vor der Testamentseröffnung eine Miterbin, meine Halbschwester Verena.

‚Die hat mir gefehlt’, dachte ich, obwohl ich mir immer eine Schwester gewünscht hatte, aber jetzt noch? Etwas spät!

Als Jurist, korrekt wie er war, hatte mein Vater sie im Nachlass bedacht. Ich habe nie erfahren, ob meine Mutter von ihr gewusst hat. Sie war schon einige Jahre vorher gestorben. Ein richtiges Familienleben hatte es bei uns nie gegeben und wenn wir doch mal zu dritt zusammen waren, führte meine Mutter das Wort. Sie übertönte alle. Die späteren Telefonate mit meinem Vater änderten nur wenig daran. Sie ließen mich allenfalls die andere Seite des ewig abwesenden und mit Arbeit überlasteten Juristen kennenlernen, nämlich die eines ausgeglichenen, freundlichen Herrn, dem nichts Menschliches fremd war, wie es sich jetzt erwies.

Bei aller Liebe zu meinem Vater sah ich seine Tochter Verena als Eindringling an. Sie machte mir den Status der Alleinerbin streitig. Ich nahm nur über den Notar Kontakt auf und ließ ihr nicht mal meine Adresse oder Telefonverbindung zukommen. Trotzdem rief sie an. Ich legte auf, ehe sie sich vollständig gemeldet hatte.

So wie der Hörer in die Ladeschale klackte, dachte ich: ‚Mensch, Gerlind, überleg mal!‘ Ganz förmlich: ‚Gerlind’, wie ich im Personalausweis und in den Notarsakten hieß.

Gerlind überlegte nicht lange. Sie bemühte ihren gesamten technischen Sachverstand, um einen Rückruf zu aktivieren. Sie drückte alle Tasten, nur nicht die richtigen. Die Verbindung kam nicht zustande.

‚Gerlind, du A., du … ‘ Ich sah mich in dem kleinen Spiegel am Schlüsselbrett und schleuderte mir alle Schimpfwörter an den Kopf, die ich je gehört, aber nie zu benutzen gewagt hatte. Nach ‚Eisschrank’ kam nichts mehr. Aber ‚Eisschrank‘ das traf; sofort begann er abzutauen. Die einzige Verwandte ersten Grades, wie es im Notarsdeutsch hieß, hatte ich mir vergrätzt und vergrault. ‚Eisschrank’ fauchte ich noch einmal und sah mein wutentbranntes Gesicht im Spiegel.

Ich rief in der Kanzlei an, um nach der Nummer zu fragen. Die Sekretärin wusste Bescheid. Verena hatte angerufen und war jetzt auf der anderen Leitung mit dem Notar verbunden. Ich erklärte genau, was passiert war, und gestand ihr, wie sehr ich diese Kurzschlusshandlung bedauerte.

‚Moment‘, sagte sie verständnisvoll, ‚ich frage mal eben, ob ich das Gespräch unterbrechen darf’.

Es dauerte. Ich schmorte. Endlich meldete sich der Notar. Er gab mir Verenas Nummer mit dem Hinweis, dass seine Mandantin sehr kooperativ sei und sich in jedem Fall um einvernehmliche Regelungen bemühe. So war es dann auch, notariell bestätigt. Kooperativer und einvernehmlicher hätten die Angelegenheiten nicht geregelt werden können. Verena kennen zu lernen, war eine Bereicherung, sie hatte mir wahrhaft gefehlt. Immer wieder meldete sie sich bei mir, um etwas von ihrem und meinem Vater zu erfahren, anfangs fast täglich. Die Auskünfte, die ich ihr gab, waren aber nicht allzu erschöpfend; denn auch für mich ist er vielfach ein Buch mit sieben Siegeln geblieben.

Verena fasste bei der Auflösung des Haushalts mit an. Wir ließen uns Zeit und verzichteten auf den Dienst einer Entrümpelungsfirma. Es tat weh, so vieles in den Container zu werfen. Kein Antiquariat interessierte sich für meterlange Regale mit juristischer Fachliteratur. In den Aktenordnern mit der Aufschrift ‚Emslandplan‘ fanden wir nichts, was nicht andernorts schon dokumentiert war. Plan erfüllt. Alles Geschichte. Die Moore waren verschwunden, aber die dort angesiedelten Bauern hatten zum großen Teil ihre Landwirtschaft längst wieder aufgegeben.

‚Papier wird wenigstens recycelt‘, tröstete ich mich. Aber was sollte mit den Möbeln passieren? Sie waren aus Massivholz und gut erhalten, nur nicht mehr modern. Dann die Erinnerungsstücke an seine Studentenzeit in Münster: eine Hutschachtel zum Überquellen gefüllt mit den Devotionalien der alten Burschenherrlichkeit: seine Studentenmütze, ein Bierglas in Stiefelform, Anstecknadeln, Wappen, bunte Bänder und allerlei Nippes aus Bronze mit Eingravierungen der Namen und Widmungen seiner Leibfüchse und Leibburschen, wie sie sich in der Verbindungssprache nannten. Für die Möbel beauftragten wir dann doch noch eine Firma, immerhin einen Integrationsbetrieb, in dem auch Menschen mit Behinderung arbeiten. Die Artefakte der Burschenschaft mit all den Namen darauf mochte ich nicht als ganze Sammlung auf den Müll geben; das war mir zu persönlich. Es sollte keinem Trödler in die Hände fallen und sich auf irgendwelchen Flohmärkten wiederfinden. Woche für Woche verpackte ich ein Stück daraus in eine zerknüllte Zeitung und versenkte es am Abend vor der Leerung in der Mülltonne.

Übrig blieben einige Fotoalben und Aktenordner mit persönlichen Unterlagen, darunter Dokumente seiner Ahnenforschung. Die Familie gehörte zu den Urgesteinen der Stadt Papenburg und dahin hatte es den Rechtsanwalt und Notar Dr. Jos Buchholz im Ruhestand wieder zurückgezogen. Es stapelten sich Immobilienangebote. Er hatte offenbar bis kurz vor seinem Tod mit dem Gedanken an einen Umzug gespielt und nach einer altengerechten Wohnung in seiner Heimatstadt Ausschau gehalten.

Verena und ich pflegen seitdem unsere verwandtschaftliche Beziehung. Erfreulich, dass wir einander fanden, ohne uns gesucht zu haben. Wenn wir wieder mal vor einem Rätsel stehen, lachen wir herzhaft.“ Linda holt tief Luft. „Wer weiß schon alles von seiner Familie? Ein bisschen Geheimnis soll getrost noch bleiben.“

‚Lass gut sein‘, denkt David Patolak, ‚sonst bin ich es schon wieder, der auspackt.‘ Er sieht zur Uhr und steht auf. „Ein treffendes Schlusswort“, sagt er, aber so schnell kommt er nicht davon.

„Bevor Sie sich zur Station verabschieden, habe ich eine Neuigkeit. Ich bin zum ersten Mal wieder mit dem Auto hier“, verkündet sie. „Ich darf wieder fahren; es gibt ärztlicherseits keine Bedenken mehr.“

„Gratulation, Frau Buchholz! Heute bringen Sie ja nur erfreuliche Nachrichten mit.“ Er zieht sein Handy und drückt die Kalenderfunktion.

„Da fällt mir doch was ein: das Stichwort Papenburg. Jeweils am Mittwoch habe ich nachmittags frei und fahre gewöhnlich zu Ernsts Haus. Wie wäre es mit der versprochenen Führung? Das würde jetzt passen. Dringendes sofort! Von mir aus schon am nächsten Mittwoch; denn am übernächsten und auch in der Woche danach ginge es jeweils nicht. Wenn Sie Lust haben, können wir uns in Papenburg treffen: um halb drei am Arkadenhaus, direkt am Hauptkanal neben dem langen Anton.“

Linda strahlt. „An der Antoniuskirche? Gegenüber vom Rathaus? Ja klar, das lässt sich einrichten.“

David notiert den Termin und verabschiedet sich eilends von einer freudig dreinblickenden Linda. Am Abend telefonieren sie: die Feinheiten. Wie lange fährt man? Wo parkt man am besten? Wie ausgiebig wird der Rundgang sein?

„Eher kurz“, schlägt Dr. Patolak vor, „ich muss danach im Haus an der Vosswiek nach dem Rechten sehen. Da ist einiges zu erledigen.“

Wasserstandsmeldung

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