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Оглавление… catfish blues …
Am nächsten Vormittag hat Dr. Patolak nur auf der Station zu tun, nicht im OP. Er muss auch nicht an einer der vielen Besprechungen teilnehmen. Für Zimmer vierzehn will er sich Zeit nehmen. Alle anstehenden Routinearbeiten sind erledigt, ehe er kurz vor seiner Mittagspause bei ihr anklopft. Er öffnet die Zimmertür. Frau Buchholz sitzt aufrecht im Bett.
„Puls und Blutdruck in Ordnung“, sagt sie, „die Stationsschwester war hier und hat alles gemessen. Sie heißt auch Gerlind, aber sie hat daraus Gerda gemacht. Namen kann man sich nicht aussuchen, höchstens etwas daran drehen. Wenn Sie nicht diesen ungewöhnlichen Namen hätten, hätte ich mich bei Ihnen nie nach Ernst erkundigt. Wissen Sie eigentlich, was Patolak bedeutet?“
David grinst. „Es gibt keine Frage, die ich öfter beantworte. Ein garantiertes Alleinstellungsmerkmal. Lange Zeit hab’ ich es trotzig abgelehnt, nach der Bedeutung meines Namens zu forschen, habe falsche Schreibweisen, Verdrehungen und Ärgereien mit Großmut ertragen. Von ‚Pattjack’ über ‚Pastinak’ bis ‚Pottlecker’, immer kam etwas Neues, über das man lachte. Mitlachen war am besten.
Aber dann kam Zlatko, ein Schulfreund aus dem ehemaligen Jugoslawien, er nannte mich immer ‚Zwerg’. Erst dachte ich, er fände das bei meiner Körpergröße nur lustig, bis er mir irgendwann beiläufig verriet, dass in seiner Sprache ‚Patolako’ soviel wie Zwerg heißt. ‚Keine Patoleika?‘, fragte er mich eines Tages, als bei einer Party alle in Begleitung einer Freundin erschienen, nur ich nicht.
‚Keine Patoleika’, antwortete ich.“
Frau Buchholz will mehr wissen. Dr. Patolak sieht es ihr an. „Seinen Namen sucht sich niemand selbst aus, da haben Sie recht“, sagt er, „ich heiße Ronald David. Hier in der Klinik bin ich Dr. David Patolak, aber als Kind war ich nur Ronni. Der Wechsel beim Vornamen war leicht. Ich musste, als ich hier anfing, nur einmal sagen, wie ich es auf den Namensschildern haben wollte. Aber am Familiennamen ist nicht so einfach etwas zu drehen, Pech gehabt. Ernis Vater brachte den Namen mit. ‚Wer Kurt Patolak heißt, braucht keinen Spitznamen.‘, soll er gesagt haben. Kurt fand sein Glück bei Elfriede. Sie wohnte mit ihrer Tochter in dem kleinen Haus an der Vosswiek. Ihr erster Mann war im Krieg gefallen.“
„Elfriede!“, fällt es Linda wieder ein. „Für meine Mutter hieß sie ‚Frau Patolak‘. Ich durfte sie beim Vornamen nennen. Sie hat bei uns den Haushalt gemacht. Wann immer sie gebraucht wurde, kam sie und blieb, bis sich kein Staubkörnchen mehr regte. Wenn mir der Geruch von grüner Seife in die Nase kommt, sehe ich sie noch heute vor mir, wie sie sich die Hände an der Kittelschürze abwischt. Ich hab’ sie gemocht. Sie hatte etwas Warmherziges, brachte Blumen aus ihrem Garten mit und stellte sie bei uns auf den Tisch. Ein paar Brocken Plattdeutsch habe ich von ihr gelernt. Wenn ich sie aber später bei der Arbeit im Stall zum Besten gab, erntete ich nur abfällige Blicke, als wollte man sagen: ‚Die denkt wohl, wir können kein Hochdeutsch.“
„Schade, dass ich sie nicht mehr kennengelernt habe, meine Urgroßmutter Elfriede“, bedauert David Patolak. „Sie ist alt geworden, nur wenige Jahre vor Oma Mia gestorben. Aber ich habe keine Erinnerungen mehr an sie.“
Frau Buchholz fragt weiter: „Darf ich mich denn auch nach Ihrem Vater erkundigen? Sie haben ihn ja schon erwähnt.“
David zögert.
„Entschuldigen Sie bitte, Herr Patolak, wenn ich mit meiner Neugierde zu weit gehe.“
„Kein Problem, Frau Buchholz. Ich erzähle Ihnen alles. Mein Vater spielte in einer Band. Benannt hat er mich übrigens nach Ron Wood, einem Gitarristen von den Rolling Stones. Denen eiferte er nach. Am liebsten stand er groß auf der Bühne als Sänger und Frontmann. Die Fans jubelten, kreischten und stampften, sie liebten ihn und er liebte sie. Leider blieb dabei für mich und für meine Mutter nicht viel übrig.“
„Wie heißt denn die Band? Muss man die kennen?“, fragt Frau Buchholz.
Davids Handy klingelt. Schon beim ersten Signal greift er danach, nimmt das Gespräch an, dreht Linda den Rücken zu und ist eine Weile beschäftigt.
„Wenigstens hat mein Vater die Leidenschaft für Musik in mir geweckt“, führt David das Gespräch mit Frau Buchholz fort. „Mit dem Catfish Blues von Muddy Waters brachte er mir die ersten Riffs auf der Gitarre bei.
“Well, my mother told my father
Just before hmm, I was born
I got a boy child’s coming
Gonna be, he’s gonna be a Rolling Stone”
Ich übte mit Feuereifer, rauf und runter. Ernst gefiel das. Es war nicht seine Art von Musik, aber das war für ihn nicht entscheidend; er sah meine Begeisterung und lobte die Fortschritte; denn mit Ausdauer und Konzentration hatte ich bis dahin eher weniger geglänzt. Oma Mias Gesicht dagegen verriet unverhohlen, dass sie unter Musik etwas anderes verstand. Sie hätte die alte Gitarre, die mein Vater mir überlassen hatte, am liebsten im Kanal versenkt.“
„Und das konnten Sie als Kind schon so auf Englisch singen?“
„Nein, Englisch habe ich erst in der Schule gelernt. Aber den Blues, den hatte ich als Kind schon. Und es war mir damals schon klar, dass es eine ganz besondere Musik ist. Oma Mia sagte immer: ‚Spiel doch lieber schöne Lieder.‘ Sie wollte so gern das Lied vom Mond und dem lieben Nachbarn hören.“
„Sie meinen vom kranken Nachbarn.“
„Stimmt, aber meine Oma Mia sang immer vom ‚lieben Nachbarn‘.“
„Zurück zu Ihrem Vater“, sagt Frau Buchholz, „was macht er denn jetzt?“
„Musik. Einmal Rockstar, immer Rockstar. Er lebt für die Musik und von der Musik, wahrscheinlich gar nicht mal so übel. Sie wollen mit ihrer Band bis in alle Ewigkeit spielen, vor ihren alten und jungen Fans aus mehreren Generationen. Mein Kontakt zu ihm war nie eng. Ich habe seine Handynummer, er meine. Das muss genügen. Von den Auftritten schickt er mir gelegentlich ein paar Selfies.“
Dr. Patolak fasst sich an die Tasche, holt das Handy hervor, liest eine Nachricht, tippt die Antwort hinein und behält es in der Hand.
„Das war er nicht. Die andere Station. Ich muss gleich nach der Pause dorthin“, sagt er und wendet sich wieder Frau Buchholz zu.
„Es bliebe meine Mutter. Das schaffen wir noch und dann sind wir durch, vorerst. Ich fasse mich kurz, aber von ihr erzähle ich Ihnen gern, ohne dass Sie ausdrücklich fragen: Meine Mutter steht für die bürgerliche Seite der Familie und arbeitet als Lehrerin an einer Grundschule. Sie hat eine Tochter, meine Halbschwester Birgit, die tut es ihr gleich, das heißt, sie steckt in der zweiten Phase der Lehrerausbildung. Sicher lädt sie bald zu ihrer Examensfête ein.
Im letzten Jahr habe ich meine Mutter auf ihrer Klassenfahrt hier in der Jugendherberge besucht. Ein unvergessliches Erlebnis: die vereinten Nationen in einer Klasse und mitten im Gewusel der lebhaften Kinder, souverän: meine Mutter. Ich war stolz auf sie. Sie machte mich mit ihren reizenden Eleven bekannt und schon stürzten sie sich förmlich auf mich. Ein kleiner Bulgare stellte mir die wichtigste aller nur denkbaren Fragen:
‚War deine Mutter mit dir auch so streng?‘
Für eine Antwort musste ich nicht lange überlegen: ‚Oh ja, das war sie! Aber sie ist immer lieb dabei geblieben.“