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Streit um Deutschland

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Unterdessen war es Juni geworden; ich hatte mich längst an Schule, Stadt und Umgebung gewöhnt. Einige Zwischenprüfungen waren bestanden, und ich war dreimal wieder daheim gewesen. Bezahlte Heimfahrten nannte man das. Bis zum Jahresschluß sollten drei weitere folgen. Und vom 28. Juli bis zum 21. August war Sommerpause. Das entwickelte sich zusehends zum Hauptgesprächsthema: Wo gehts hin? Und für wie lange? Ich würde mich wohl wieder in meinem Dorf in dem Tal am Fuße der Schwäbischen Alb verkriechen, würde schlafen, Spazierengehen und nochmal schlafen und Spazierengehen.

Vor einer Woche hatte ich den Posten eines »Klassensprechers« abgegeben, zusammen mit der Kasse, in die jeder von uns eine Mark pro Woche für Ausflüge und sonstige gemeinsame Freizeitunternehmungen werfen mußte. Das war meine Idee. Aber ich mochte nun nicht mehr. Am Sonntag hatten die andern eine Rheinfahrt unternommen; da hatte ich mich bereits ausgeschlossen.

In der Klasse gab es, wie in den übrigen Lehrgängen am Berufsförderungswerk und in der gesamten Bevölkerung unseres Landes, einen großen Anteil von »Flüchtlingen«: Leute von drüben, die im Westen ihr Paradies suchten – und zum Teil wohl auch fanden! Mit den einen konnte man reden, über die guten wie über die schlechten Seiten ihrer Heimat, mit den anderen nicht. Überhaupt wurde mir das Problem Deutschland, deutsche Teilung erst in Heidelberg und im Umgang mit diesen »Übersiedlern« bewußt. Sicher führten mich meine Wege in den fünfziger Jahren schon mal an die Grenze: aber damals war es eine Absperrung wie jede und zu jedem Land. Ich habe sie dann auch nicht überschritten; es gab zu diesem Zeitpunkt keinen Anlaß dafür.

Zu den Leuten von drüben, mit denen ich über das Thema Deutschland stritt – weil man mit ihm streiten konnte –, gehörte besonders unser bester Mann: bester Zeichner, bester Rechner, bester Fachkundler. Bei Darstellungsschwierigkeiten richtete man sich nach ihm. Er war eine Begabung – die Lehrer bestätigten es! Aus ihm könnte ein Ingenieur werden. Heinz hieß er, Heinz Stack, war etwa 38 Jahre alt und verheiratet. Ansonsten: Kriegsteilnehmer, stark asthmatisch; seine Bewegungen waren sehr gemessen. Früher war er Bauschlosser oder so etwas, bevor er »rübermachte«. Er sprach auch öfters vom Motorenbau, doch da keiner von uns etwas davon verstand, ging niemand darauf ein. Sein Vater betreibe drüben eine kleine Werkstatt, in der er auch gelernt habe; später wurde die Werkstatt – ein Kleinbetrieb also – verstaatlicht; deshalb sei er geflohen. Er habe sich in die Lage nicht mehr länger einfügen können. Inzwischen sei sein Vater Rentner, die Mutter gestorben. Sein Vater könnte nun legal zum Sohn ziehen – aber wozu? Er habe seine Rente, und es ginge ihm gut; er habe seine Freunde auf der anderen Seite – was er denn noch mehr wolle in seinem Alter? Ja, so konnte Heinz sprechen. Außerdem werde sein Vater drüben von den neuen Herren immer noch um Rat gefragt, das gefalle ihm. Doch damit könne sich er, der Sohn, nicht zufriedengeben.

Wenn ich Heinz so offen und frei reden hörte, dann hatte ich immer öfters das Gefühl, daß ich ihn mit meinem Widerspruch – mit meinen Ansichten über ein System, das ich ja noch gar nicht kannte, aber im Grunde irgendwie wollte, wenn ich auch nur ahnte, weshalb – verletzte. Doch Heinz schien mir nichts über den Unterricht hinaus übel zu nehmen. Überhaupt drehte er manchmal mitten im Gespräch, das andere nur zum Teil verfolgten, weil es durchgehend über ihrem Niveau lag, den Spieß plötzlich herum, mochte er an der DDR – oder Ostzone – nicht alles schlechtmachen.

»So?« fragte ich verblüfft.

»Ja«, wiederholte er, holte tief Luft und stieß sie, über das Zeichenbrett gebeugt, hörbar aus.

Natürlich mußte auch ich bei ihm kiebitzen. Er hatte nichts dagegen. Irgendwie schien er sein Talent als etwas allen Gehöriges zu betrachten, das sich nur zufällig in ihm entwickelt hatte. War das nicht schon ein Ergebnis seiner »sozialistischen« Erziehung – paßte diese Haltung nicht mehr nach drüben als hierher? Fragen, die unsere unmittelbaren Aufgaben betrafen, beantwortete er mit einem verstehenden Lächeln. Darüber hinaus war er zu keiner politischen Stellungnahme zu bewegen, zu provozieren. Er ist, soweit ich mich erinnere, eigentlich nie zornig geworden – wie ich und die anderen, die bei manchen Äußerungen rot vor Zorn anliefen. Vielleicht lag es an seiner gesundheitlichen Verfassung. Denn man merkte, jede Erregung – und sei sie noch so klein – kostete Kraft; die Atemzüge gingen schneller und wurden immer tiefer.

Nein, ich glaube nicht, daß Heinz ein Gegner des »Zonenregimes« war, dafür war er zu klug und rechnete mit künftigen Veränderungen – auch auf dieser Seite! Er hatte sein Land nur verlassen, weil er sein persönliches Fortkommen gefährdet sah – ist das nicht überall Grund genug, abzuhauen, und sei es aus dem Paradies (wenn dieses Paradies vorwiegend für andere gemacht ist)? Das, so schätze ich nach wie vor, war sein Problem – sein zweites Leiden. Neben dem Asthma. Hin und wieder beschlichen ihn Zweifel, gestand er mir, ob er nicht doch zu ungeduldig gewesen sei – mit sich und der Gesellschaft im Osten Deutschlands (Mitteldeutschland, sagte er dann in solchen Augenblicken dazu). Der Westen habe ihn in vielem enttäuscht. Es sei schon denkbar, daß er eines Tages zurückkehre ...

»Das ist doch nicht dein Ernst?« sagte ich und merkte, daß ich die Rückkehr solcher begabten Menschen nach Mitteldeutschland wünschte, konnte aber keine Gründe dazu angeben.

»Doch, doch!« wiederholte er. Er erhalte Briefe, in denen ihm Stellungen und Geld angeboten würden, und er beantwortete sie auch. Er schreibe sich mit seinem Vater und mit seiner älteren Schwester regelmäßig. Seit zwei Jahren lebe er nun in der Bundesrepublik. Damals sei er mit Frau und Tochter nach Niedersachsen »... sagen wir gezogen!« Ich nickte verständnisvoll.

»Freunde habe ich bis zum heutigen Tag nicht gefunden.« Ein paar Bekannte seien es natürlich geworden. Aber im allgemeinen würden die Leute in der Kleinstadt am Rande der Lüneburger Heide ihn und die Familie mit Mißtrauen betrachten. Denn ab und zu vertrete er schon Meinungen, die sie nicht von ihm erwarteten.

Und eines Vormittags, während der Pause, sagte Heinz unvermittelt zu mir: ich solle mir das Ganze doch einmal selber ansehen.

»Wie? Was?«

Die Möglichkeiten hierfür gebe es. Ich könnte sogar einen Erholungsaufenthalt bekommen. Der FDGB, die Einheitsgewerkschaft der DDR, stelle Freistellen für Westdeutsche zur Verfügung. Natürlich geschähe das nicht ohne Absicht. »Langfristig, meine ich! Aber das kann dir ja egal sein; du hast ja schon eine freundliche Einstellung zu dem System drüben ... Zehn oder elf Tage dauert so ein Ferienaufenthalt.«

Und Heinz fuhr so frei fort, als ob er keine Last mit der Luft hätte: Ich würde wahrscheinlich nach Thüringen oder in einen anderen schönen Teil der DDR geschickt werden. Es würde mich keinen Pfennig kosten – halt die Hinfahrt mit der Bahn! Die Rückfahrt würde bezahlt. Ich bekäme an Ort und Stelle sogar Taschengeld. Diese Heime – früher, zur Nazizeit und davor, bereits Kurheime – seien für Ostdeutsche, ausgenommen Funktionäre, verschlossen. Es gäbe aber viele andere Ferienhäuser und -orte für alle Bürger der DDR. Auf diesem Gebiet würde für die arbeitende Bevölkerung drüben mehr geboten als hier. Jedermann habe Anspruch auf Urlaub. Er könne sich gut denken, daß mir das gefalle.

Zuletzt waren an dem Gespräch mehrere beteiligt, lauschten den Erzählungen von Heinz – auch weitere »Flüchtlinge«. Die Angaben von Heinz wurden bestritten oder bestätigt, eingeschränkt oder ergänzt. In jedem Fall schien an der Geschichte etwas dran zu sein.

»Wenn du es genau wissen willst, dann wende dich doch an den FDGB. Schreib einfach hin!« schloß jemand; Heinz nickte.

»Und wo ist der? Wo hat dieser FDGB seinen Sitz?« fragte ich, griff dabei schon zum Rapidograph.

»Freier Deutscher Gewerkschaftsbund – Berlin/Ost: das kommt an!« meinte Heinz und wandte sich wieder seiner Arbeit zu.

»Gut; ihr werdet von mir hören«, erklärte ich.

Es war heiß, Mitte Juni des Jahres 1961 in Heidelberg. Auf den Straßen schmolz der Teer, und man konnte nur abends mit einigem Schwung arbeiten. Ist es nicht üblich, daß man bei solchen Außen- und Innentemperaturen hitzefrei bekommt? Aber nichts geschah; wir mußten Weiterarbeiten. Und dann kam es an einem der kommenden Abende doch im Speisesaal zum Krach zwischen mir, Mitschülern, Personal und Gästen. Das war noch vor dem Mittagessen. Schüler und ein Teil der Dozenten nahmen Aufstellung vor der Ausgabe, reichten die Marken hinein und empfingen beladene Teller, mit denen sie an ihre Stammplätze schlurften. Schon vorher waren mir – und wohl auch dem einen oder anderen, weniger Interessierten, der einen papierfreien Tisch gewohnt war – bunte Zettel auf den Platten aufgefallen.

Es waren Einladungen zu einem Vortrag eines Heidelberger Professors über den »17. Juni und die Lage Mitteldeutschlands« sowie seiner armen, unterdrückten Menschen.

17. Juni: Ein »Aufstand« in der SBZ (Sowjetisch Besetzte Zone), wie man es allgemein nannte, ein Arbeiteraufstand (ach ja, wie wichtig dem Westen plötzlich die Arbeiter im Osten waren!), von den Russen brutal niedergeschlagen.

Der Rotha-Hermann hatte mich einmal darauf angesprochen, als ich wieder für ein paar Tage in mein Dorf zurückkam, mein heimlicher Aufpasser im Tal und auf der Höhe durch die ganzen hellen und dunklen Jahre. Ich hatte mich damals dumm gestellt, vielleicht weil ich mir nicht sicher war oder vor einer Antwort noch mehr Informationen haben wollte, die ja hierzulande so offen und für jedermann zugänglich herumlagen – wenn man nicht achtgibt, fallen sie einem aufs Hirn, die objektiven Informationen über den »Klassenfeind« auf der anderen Seite.

War ich mir nun sicher? Oder nur sicherer? Vielleicht hatte ich meinen Landsmann nicht vor den Kopf stoßen wollen, mit ihm gerade darüber nicht händeln wollen. Über was dann? Über alles andere, doch gedämpft und im Bewußtsein, daß wir wohl noch lange am Ort Zusammenleben würden. Im übrigen war er selber Arbeiter, verfügte wenigstens nicht über andere, sondern über ihn wurde verfügt. Vielleicht hätten wir uns gerade deshalb in der Auseinandersetzung Klarheit, wenigstens im Prinzip, über Arbeiteraufstände oder Aufstände allgemein verschaffen müssen. In jedem Fall wäre es schmerzlich gewesen, für beide Seiten.

Diese Rücksichtnahme entfiel nun, denn meine Zeit am Werk war begrenzt, begrenzt aber auch meine Aufnahmefähigkeit für immer neue oder immer wieder aufgewärmte alte Dummheiten.

Arbeiteraufstand? Nun gut, in einem Arbeiter- und Bauernstaat konnte es auch einen Arbeiteraufstand gegeben haben. Aber vielleicht hatte man es nicht bedacht. Mochte das der erste Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden sein: der erste Arbeiter- und Bauernaufstand in Deutschland war es nicht. Weshalb plötzlich die Fürsorge? Da war für viele noch etwas zu lernen. Auch für mich, der von der Empörung über die Unterdrückung von unsereinem durch die ganze Geschichte geprägt war. Von daher wohl auch meine freundliche Einstellung zu dem System »drüben«, lange bevor ich mit ihm in Berührung gekommen war.

Kaum hatten wir die Stühle unter den Hintern gerückt und mit dem Essen begonnen, rauschte der Direktor heran. Man hörte ihn bereits im vorderen Teil des Speisesaals reden.

Über was wohl? Wir hätten die Einladung, besser den Hinweis auf unseren Plätzen sicher bemerkt. Der Direktor trug die Werbetrommel bis in die Mitte des Raums: Der Mann – der Doktor, der Professor –, der morgen abend hier sprechen wird, kenne die Lage im anderen Teil Deutschlands aus dem »ff«. Das sagte er wirklich und fuhr fort: »Wir bedauern alle, daß unser Vaterland geteilt ist, dieser aus diesem und jener aus jenem Grund – aber alle aus der Einsicht, daß das nicht aller Tage Abend sein kann!« So plauderte der Direktor munter darauf los; sich an dieser Aussprache zu beteiligen, sei wohl für alle Pflicht, meinte er – damit bringe man den Wunsch zum Ausdruck, daß sich das einmal ändere!

»Daß sich was einmal ändere?«

Mir klang das alles zu herablassend und zu überheblich. Da konnte ich nicht anders, als herauszuplatzen: »Was soll das, Herr Direktor? Dieser Herr kann zu Hause bleiben. Was kommt bei so einem Vortrag mehr heraus als was bisher bei so einem Geschwätz herausgekommen ist? Nichts! Antikommunismus, immer wieder neu angebraten: Mir hängt das alles zum Hals heraus! Volksverdummung ist das doch – 17. Juni! –, gerade jetzt vor der Wahl: Merkt das denn keiner? Und für so etwas bekommt der Herr Doktor wohl auch noch Geld? Das ist doch alles bodenlos und verlogen.«

Habe ich wirklich so viel geredet? Laut bin ich jedenfalls geworden, und die ersten Angriffe der Kollegen erfolgten bereits. Ein wahrer Bombenhagel ging auf mich nieder: »Selber Schwätzer«, »Schwätzen lassen!«

»Nein, nein«, wehrte ich mich, »ich weiß, wovon ich rede! Das ist unser Problem; das Problem von uns, die hier geboren und aufgewachsen sind, aber nicht von denen, die von drüben kommen.«

»Ihr Einsatz in Ehren, Herr Simpel«, unterbrach der Direktor, »– wenn er ehrlich gemeint ist, und jung genug für Irrtümer wären Sie. Aber lassen Sie sich eins gesagt sein: andere sind auch nicht dumm!«

»Wer hat denn von Dummheit gesprochen? Ach ja, Thomas Mann nannte einmal den Antikommunismus die größte Dummheit des Jahrhunderts.«

»Dann gehören wir wohl alle dazu, die nicht Ihrer Meinung sind?« Der Direktor versuchte ein Lächeln, und als er sich umschaute, leuchteten ihm auch einige entspannte Gesichter entgegen. Freilich im Moment noch wenige.

»Ich will sagen, daß ich für Verhandlungen bin; man soll die sowjetische Denkschrift vom 11. Juni zur Deutschlandfrage ernstnehmen.«

»Wenn die beiden deutschen Staaten – die beiden deutschen Staaten: als Wort schon eine Provokation! –; wenn Ost- und Westdeutschland sich nicht innerhalb von sechs Monaten über einen Friedensvertrag einigen, schließt die Sowjetunion einen Sonderfriedensvertrag mit ihrem Satelliten, der SBZ: ich weiß, junger Mann!«

»Erpressung«, tönte es dem Direktor zur Unterstützung entgegen.

»Was heißt Erpressung? Das ist ein Angebot!« wehrte ich ab.

»Ach was«, fuhr es aus der Menge fort: »Mit denen kann man doch gar nicht verhandeln ...«

»Und mit der Ostzone schon gar nicht!« bekam da einer Schützenhilfe.

Gegen mich aus einer anderen oder aus der gleichen Richtung: »Er soll doch rübergehen! Hau doch ab, wenns dir hier nicht paßt. Keiner hält dich!«

Ich versuchte zu lächeln, wirkte aber wohl immer hilfloser:

»Aber man muß es versuchen ...«

Darauf folgten weitere Beschimpfungen und Flegeleien:

»Daß es so was noch gibt! – Abschießen! – Bei Hitler vergessen zu vergasen! ...«

»Jetzt ist es aber genug! Das dulde ich an der Schule nicht!« Nur mühsam vermochte sich der Direktor in dem allgemeinen Trubel durchzusetzen: »Wir sollten uns dem Problem in der Tat stellen, auch wenn es einmal unangenehm wird«, fuhr der Anstaltsleiter fort. »Wie soll uns die Welt sonst glauben?« »Der Kerl verdirbt uns den ganzen Appetit!«

Nach dieser Äußerung eines namenlosen Mitbürgers und Mitumschülers am Berufsförderungswerk glätteten sich die Wogen. Die Stühle wurden wieder an die Tische herangerückt. Der Direktor nahm zwischen Karlheinz und mir Platz; hier war noch eine freie Stelle. Es war mir recht so, wollte ich mit dem Direktor doch schon immer in Verbindung kommen, ich weiß nicht warum, sei es nur, daß wir uns nicht mehr so fremd waren. Irgendwelche Vorteile konnte ich mir davon nicht versprechen.

Ich blickte auf Karlheinz. Dem schien es weniger angenehm zu sein, denn er drehte sich von uns weg. Aber so war es die ganze Zeit schon gewesen: während der Auseinandersetzung hatte ich seinen Beistand erhofft. Aber er wich meinen Augen aus; ihm war offenbar alles gleichgültig.

Ich faßte die Gelegenheit beim Schopf und legte los:

»Gut, daß Sie noch dableiben, Herr Direktor. Dann will ich Ihnen meine Einstellung erläutern. Zuerst muß im Westen doch eine andere Partei gewählt werden, bevor mit der anderen Seite geredet, vernünftig und von einem gemeinsamen Standpunkt aus geredet und verhandelt werden kann, mit dem Ziel – ja, mit was wohl für einem Ziel? Mit dem Ziel eines friedlichen Nebeneinanders und Miteinanders! Wir können uns nicht länger von anderen bestimmen lassen. Deutschland hat einen Krieg angefangen, ist über Nacht in fremde Länder eingefallen, hat Millionen Menschen umgebracht – inwieweit alle unschuldig waren, danach frage ich jetzt nicht! Das wird die Geschichte klären. Tatsächlich haben wir, die überlebenden Generationen, geradezustehen.« Ich staunte selber über meinen Redefluß. Der Direktor nickte immer wieder. Schließlich setzte er zu einer Antwort an, die auch die Aufmerksamkeit von Karlheinz erregte:

»Ich gehöre auch zu der Generation, die überlebt hat, junger Mann. In Ihren Augen habe ich mich vielleicht schuldig gemacht, weil ich mich nicht wirkungsvoll widersetzt habe – ja, es ist richtig, ich war kein Widerstandskämpfer; bin während der Nazizeit nicht in den Untergrund gegangen, so wie es Millionen Deutsche hätten tun können oder sollen – sondern bin in die Schlacht gezogen gegen Rußland und andere Nationen, jung, dumm und verblendet! Das Ganze ist nicht wie eine Sintflut über uns gekommen, vielmehr Tag für Tag und Stück für Stück: aber wer konnte das Ausmaß ahnen?«

In diesem Augenblick wurde der Name des Direktors gerufen; er wurde an einem anderen Ort des Hauses gebraucht. Das war auch verständlich. Er stand auf und reichte jedem die Hand. Wir blieben zurück und löffelten allein die Suppe aus – symbolisch gesprochen! Tatsächlich war es eine kalte Platte.

Am anderen Morgen schien alles vergessen, jedenfalls redete man wieder allgemein miteinander. Die anderen waren es, die mir zuerst den Gruß boten; ich wollte mich nicht so schnell versöhnen. Aber was blieb mir nun anderes übrig? Doch eins stand fest, ich würde unter keinen Umständen zu dem Vortrag gehen. Sondern mich ins Bett schmeißen und lesen: Henry Miller, Wendekreis des Krebses. Ich hatte mir das Buch von Ernst ausgeliehen; er schien über die Neuerscheinungen mehr auf dem laufenden zu sein als ich. Was die andern machten, das war mir egal; sollten sie doch hingehen und sich von dem Professor das Hirn vernebeln lassen – ich ließ es mir lieber von Henry Miller aufreizen!

Noch vor dem Mittagessen lief ich Heinz in die Arme – oder er mir, wie mans nimmt! Plötzlich wußte ich auch, was mir gefehlt hatte: ein Mann seiner Art; eine Vertrauensperson, die sich hüben wie drüben auskannte und die, trotz aller Enttäuschungen – gerade auch drüben – zu keinen Extremen neigte. So stufte ich ihn inzwischen für mich ein.

»Heinz?«

»Karl?«

Der allgemein anerkannte Musterschüler wirkte gelöst; seine Krankheit war ihm nicht anzusehen.

»Gehst du heute abend hin?« fragte ich, um eine Spur verkrampfter.

»Ach, ich weiß noch nicht. Aber was ich dir sagen wollte, Karl, zu dem 17. Juni 1953 ...«

»Ja?« Wir blieben vor dem Speisesaal stehen.

»Ich hätte ja gestern abend etwas sagen können ...«

»Und warum hast du nicht?«

»Alle waren so verbissen. Bis auf den Direktor; den solltest du nicht verkennen, Karl! Der ist gar nicht so hinter dem Mond.«

»In Ordnung, Heinz! Das sehe ich inzwischen auch so. Aber was ist mit dem 17. Juni? Es soll damals in Strömen geregnet haben. Trotzdem hätten sich in den frühen Morgenstunden Tausende Arbeiter auf dem Strausberger Platz in Ostberlin versammelt. Warst du dabei?«

»Nein, ich war nicht dabei. Aber ich weiß sicher mehr als du.«

»Um was ging es überhaupt?«

»Der Grund für den Aufstand – nein, sagen wir Streik: dieses Wort paßt mehr zu den Arbeitern, und um die geht es ja! – der Grund für den Streik waren Normerhöhungen. Ich nehme an, du weißt nicht, was eine Norm ist?«

»Nein!«

»Also das ist das Pensum, das man erfüllen muß, um einen gewissen Betrag, also seinen Lohn, zu bekommen! Und dieses Pensum – diese Norm – wurde zum 1. Juni 1953 heraufgesetzt. Mit anderen Worten, für das gleiche Geld mußte man plötzlich mehr schaffen als zuvor – und das in einem Arbeiter- und Bauernstaat! In Zahlen ausgedrückt: Der wöchentliche Prämienlohn eines Facharbeiters ging von 168 auf 72 Ostmark zurück. Der Wochenlohn weiblicher Bauhilfsarbeiter nahm um 6 Mark 80, von 52 Mark 80 auf 46 Mark Ost ab. Am 15. und 16. Juni traten die Ostberliner Arbeiter in den Ausstand, andere Städte und Ortschaften der Republik schlossen sich an.«

»Und wie ist die Geschichte ausgegangen?« erkundigte ich mich. Wir mußten uns in die Ecke drücken, da die andern an uns vorüber zu den Freßnäpfen drängten.

»Wie ist es ausgegangen?« wiederholte Heinz, etwas spöttisch – oder verletzt? Ich vermochte es gerade nicht zu unterscheiden. »Tausende waren auf der Straße – nicht nur in Berlin! Gefängnisse, Parteizentralen wurden gestürmt; sicher waren von Anfang an antikommunistische Töne dazwischen, die sich vermehrten, von Westberlin aus wohl genährt – das lasse ich mir auch heute noch nicht nehmen! Dann kamen die Russen mit Panzern, und es gab Tote – darunter auch Russen, die erschossen wurden, weil sie angeblich nicht rechtzeitig eingegriffen hatten. Und Funktionäre, die schwankend wurden. Es gab wirklich Leute unter den Demonstranten, die auf das Eingreifen des Westens hofften. Narren waren das, Illusionisten, die wohl nie begriffen hatten – und auch nie begreifen –, was 1945 (und vor allem davor!) geschehen war!«

»Eben«, bemerkte ich.

Heinz fuhr fort: »Da wäre, unter anderen Umständen, wohl so mancher weiter, zusammen mit den Amerikanern, gegen Rußland marschiert. Ich kenne solche Typen zur Genüge, hüben wie drüben. Sie sind mir alle zuwider!«

»Eine weitere Gemeinsamkeit zwischen uns«, erklärte ich und folgte dem Lehrgangskameraden zum Essen auf unsere Stammplätze.

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