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Buchenwald und Weimar oder Der Wind hat mir ein Märchen erzählt
Оглавление»›... Dort drüben verbrennt man Menschen‹ – so erzählten es sich sogar die Kinder aus der Umgebung«, erklärte unser Führer, ein ehemaliger Häftling des Konzentrationslagers Buchenwald, vor dessen Eingang wir nun als Besucher standen. »Arbeit macht frei« lasen wir über dem Tor.
Wir waren in einem Bus hierher gefahren – alle: Hermann, Siegfried-Heinrich und ich. Nur Manfred, der DDR-Bürger, war zu Hause geblieben. Er hatte das alles schon mehrmals gesehen.
»Da der Wind, den Sie inzwischen sicher bemerkt haben werden – hoffentlich hat keiner seinen Mantel vergessen! –, den Leichengeruch weit über die Grenzen von Buchenwald hinausgetragen hat, waren alle informiert über die Vorgänge hier im Lager. Aber niemand hat dagegen etwas unternommen. Die Kinder haben draußen sogar KZ gespielt; es gab Häftlinge und die Wachmannschaft. Die Häftlinge stellten immer die schwächeren Buben und Mädchen dar. Die kräftigeren Buben schlugen auf ihre schreienden Mitspieler ein oder schickten sie in die Gaskammer oder zum Bäcker, so wie sie es gehört oder aus der Ferne beobachtet hatten. Mit der Drohung, die Kameraden zum Bäcker zu schicken, meinten die Kinder die großen Verbrennungsöfen – wir werden sie nachher besichtigen! Sie sind zum größten Teil noch erhalten. Samt den Schildern mit den Herstellernamen. Fragen Sie nicht, wie das alles geschehen konnte. Die ganze Welt hat es gewußt, und sie hat sich nicht gefragt, als es noch Sinn hatte, zu fragen und mit solchen Fragen Hunderttausende von Menschenleben hätten gerettet werden können. Hier ist die Flamme von Ernst Thälmann, dem Vorsitzenden der Kommunistischen Partei Deutschlands, erloschen. Wir befinden uns jetzt auf dem Boden des Krematoriums ... Ich bitte um eine Schweigeminute für unseren Genossen! – Für Ernst Thälmann! – Danke, meine Damen und Herren. Die Partei hat immer weiter bestanden. Gerade auch hier im Todeslager.«
»Für die, die es noch nicht wissen: Ernst Thälmann wurde 1886 geboren, war 1924–33 Mitglied des Deutschen Reichstags, seit 1933, also sofort nach der Machtergreifung durch die Faschisten, in Konzentrationslagern, zuletzt Buchenwald; erschossen im Jahre 1944 (am 18. August: ein Ofen blieb für die Nacht unter Feuer) ... Erster Führer der Deutschen Arbeiterklasse. Diese Treppe wurden die Opfer hinuntergestoßen. Unten kommen wir in einen betonierten Raum, der einer großen Waschküche oder einem Kartoffelkeller gleicht. Aber es war ein Schlachtraum. Ringsum an den Wänden sehen Sie Haken, hier wurden die Kandidaten aufgehängt. Sie mußten zunächst auf einen Schemel steigen, der Mörder legt dem Mann die Schlinge um den Hals, befestigt sie am Haken und reißt den Schemel unter seinen Füßen weg. Wer nicht gleich tot ist, der bekommt mit dieser Keule ein paar über den Schädel. Die Leiche wird heruntergenommen und in diesen Lastenfahrstuhl geworfen. Leiber sind über Leiber geschichtet. Sie können es auf dem Schild lesen – es ist ein Lastenaufzug: es heißt hier – Personenbeförderung verboten. Die Nazis haben gegen dieses Verbot nie verstoßen. Denn in ihren Augen waren das keine Personen, die befördert wurden, sondern Tiere; allenfalls Unter-Menschen, aber keine Personen, aus denen sich Persönlichkeiten ableiten. Es ging nur wenige Meter nach oben, unmittelbar in die ›Backstube‹ hinein.
Hier reihen sich die Verbrennungsöfen aneinander. Sie können noch die Hersteller dieser Öfen nachlesen. Die Firma existiert noch und produziert heute noch in Ihrem freiheitlichen Rechtsstaat. Ich erwähne das hier nur der Vollständigkeit halber. Ich weiß, daß viele Genossen unter euch sind und Kämpfer für den Frieden. Andere sind noch nicht soweit. Aber diese Dinge sollen doch das Mißtrauen gegen die Herrschenden in der Bundesrepublik erwecken. Wir beschäftigen uns mit der Vergangenheit, wir wollen sie in der Tat bewältigen und haben sie bewältigt, vielleicht deshalb, weil wir, die Herrschenden in diesem Teil Deutschlands, besonders von dieser Vergangenheit betroffen waren. Im Westen Deutschlands möchte man so schnell wie möglich vergessen und nichts mehr zu tun haben mit diesen Dingen – man hatte mit diesen Ereignissen zwar einmal zu tun; aber jetzt ist es vorbei, der Krieg ging verloren – und heute machen wir auch etwas ganz anderes, schaffen wieder die Voraussetzungen für neue Kriege. Das eine kann ich den Genossen hier sagen: das Kapital ändert sich nicht, es paßt sich höchstens der Umwelt an, aber nur in der Farbe, um sich besser tarnen zu können: Lernt von unseren Erfahrungen. Wir sind euch voraus!
Auf diesen Eisenwagen vor jedem Ofen wurden die Körper in die Flammen hineingestoßen. Ja, dieser Mann hat es gesehen, er hat überlebt – einmal wurde ich von einem Besucher gefragt: Warum nur, wie konnten Sie überleben, dann war es offenbar gar nicht so schlimm, wenn Sie überleben konnten? Oder haben Sie noch mitgeholfen, andere in den Tod zu treiben? Die gab es auch. Allein konnten die Nazis nicht alles schaffen. Sie haben sich ihre Helfershelfer unter den Gefangenen gedungen. Warum fanden sich so viele dazu bereit, den Bruder, die Schwester dem Tode zu überliefern? Vielleicht haben sie sich einen Aufschub des eigenen Untergangs ausgerechnet – oder sie haben wirklich geglaubt, daß sie mit diesem Dienst dem Zorn der Bestie entfliehen könnten. Die Rauchfahne war kilometerweit zu sehen. Es war weit über Weimar hinaus zu riechen, was auf dem Ettersberg gekocht wurde. Menschenfleisch!
Die Massengräber wurden nach dem Krieg angelegt und mit Steinen eingefaßt; die Denkmäler für jede Nation, der Friedensturm mit der Glocke. Das muß jeden überwältigen, der es zum erstenmal sieht, und er muß wieder und immer wieder kommen, wenn er wenigstens die Sprache zur äußeren Beschreibung wiederfinden will. Das muß im Inneren verstanden werden und eigentlich bildlos aufgehen in einen Kampf für den Zustand, der diese Vorgänge unmöglich macht. Die Erde sackt an dieser Stelle über den Toten immer wieder ab. Es will kein Gras wachsen über der Geschichte. Die nach Leben hungernden Münder können mit Erde nicht gestopft werden.
Zum Schluß möchte ich Ihnen noch ein Buch empfehlen, und zwar den Roman ›Nackt unter Wölfen‹ von Bruno Apitz. Es ist die Geschichte von einem Kind, das von einem Polen bis hierher durchgebracht wurde; es wird von der im Lager bestehenden Widerstandsgruppe aufgenommen und beschützt, obwohl es eine Gefahr für die Leute und eine Schwächung der Organisation darstellt. Schließlich aber gelingt der geplante Aufstand und die Befreiung aus eigener Kraft. Bruno Apitz schreibt: ›Ich grüße mit dem Buch unsere toten Kampfgenossen aller Nationen, die wir auf unserem opferreichen Weg im Lager Buchenwald zurücklassen mußten. Sie zu ehren, gab ich vielen Gestalten des Buches ihre Namen.‹«
Von Buchenwald fuhr die Gruppe nach Weimar. Besuch in der Fürstengruft. Die Särge Goethes und Schillers. Ein weiterer Schrein verstaubte in der Ecke. Zurück durch den Friedhof, dessen teils berühmte Gräber von Unkraut überzogen waren. Steine bröckelten aus der Mauer.
»In Deutschland gibt es wohl nur Tote«, bemerkte einer aus einer anderen Gruppe, die uns begegnete; vermutlich Ausländer oder doch ebenfalls so andere Deutsche wie wir. »Tote Helden«, ergänzte eine Begleiterin. »Ich bin mir gar nicht so sicher«, widersprach eine zweite Frau, »aber lassen wir es zunächst bei dieser Formulierung!«
Anschließend Einkehr im Hotel »Elephant«: Göring und andere Nazi-Bonzen waren schon vor uns hier. Wie immer!
Im Bus, auf der Rückfahrt, stimmte ein Kollege das alte Gewerkschaftslied an: »Brüder, zur Sonne, zur Freiheit/Brüder, zum Lichte empor!« – Aber nicht als Leiche im Fahrstuhl! »Hell aus dem dunklen Vergangnen/leuchtet die Zukunft hervor«. Es waren vorwiegend ältere Jahrgänge im Bus, aber auch Kinder darunter. Was besagte das schon? Das war wirklich eine bestimmte Klasse – keine Schulklasse: tatsächlich eine soziale Klasse. Die Arbeiterklasse. Hier konnte ich dieses Wort wieder ganz normal aussprechen. Und ich konnte es ganz ungezwungen über Auge und Ohr in mich aufnehmen: da ist doch kein Unterschied zwischen alt und jung; diese Leute sind alle noch sehr jung – minderjährig allesamt. Vielleicht enthält man ihnen deshalb bei uns einige Rechte vor, die das Bürgertum – die andere Klasse halt – offenbar hat. Und auch sie scheint irgendwie alterslos: Ihre Zeit will und will nicht enden. Mit der Hoffnung allein wird hier nichts verhindert oder vorangetrieben. Das muß sich die Arbeiterklasse merken.
Ich merkte, in mir war etwas vorgegangen; da dachte etwas selbständig neben meinem üblichen Denken her, und es verschlang mich immer mehr. Was würde einmal daraus werden?
Merkwürdig schweigsam verliefen die ersten Stunden im Heim nach der Rückkehr von Buchenwald. Es begann gleich das Abendbrot. Aber der Tee schmeckte nicht mehr. Eigentlich hatte er noch nie geschmeckt – wenigstens uns Biertrinkern nicht! Aber heute durchzog dieses Getränk ein bitterer Geschmack. Ein Leichengeschmack. Mußten diese vielen Toten nicht das ganze Grundwasser dieses Landes verseucht haben? Nachher standen wir noch in den Fluren herum, stolperten auf unser Zimmer. Aber es wollte nicht funken in uns. Fällt dir nichts ein, Hermann? Was? Na ... gehen wir einen saufen oder bleiben wir hier? Ich bin verabredet, erwiderte Hermann. Ich auch, sagte ich. Aber bis dahin haben wir noch etwas Zeit. Ewald und Hugo hatten uns beobachtet. Wir trafen uns in ihren Augen. Ich bin überzeugt, daß in diesem Augenblick nicht nur ich ein schlechtes Gewissen bekam. Warum nur? Machten sie uns Vorwürfe? Aber wir bemühten uns doch auch. Wir rührten mit an dem Zement, mit dem das Neue errichtet werden sollte – das Neue, ohne Leichengeschmack –, und der die Rattenlöcher für immer verschließen würde!
Dieses Buchenwald war schon ein Schlag, nicht so einfach wegzustecken. Danach taumelte man noch lange, auch wenn man sich längst nicht mehr an den Schlag erinnerte. Wir waren getroffen worden, und zwar schwer – an irgendeiner Stelle des Körpers, des Herzens oder des Hirns: das stand fest!