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Das Heidelberger Tagebuch

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In Heidelberg im Jahre 1961 habe ich, mit einigen Unterbrechungen, auch wieder Tagebuch geführt, so wie es über die fünfziger Jahre regelmäßige bis unregelmäßige Aufzeichnungen gibt. Es beginnt exakt:

Montag, 2. 1. 1961 – In Heidelberg eingetroffen.

Dienstag, 3. 1. 1961 – Erster Schultag. Begrüßung, Namensnennung der Lehrer und der Schüler. Werkzeugempfang. Tastaufgaben: Einübung in eine neue Zeit.

Mittwoch, 4. 1. 1961 – Also Heidelberg! Schloß und die Alte Brücke. Hölderlin: »Lang liebe ich dich schon/Möchte dich mir zur Lust Mutter nennen/und dir schenken ein kunstlos Lied,/du, der Vaterlands Städte ländlich schönste, so viel ich sah ...« Der Strom! Überhaupt: Ich muß mir das bei Tag und im Sonnenschein noch mal anschauen. Der Neckar übersteigt ja schon bei stärkerem Wellengang die Umfriedungen der Hotelgärten. Welch ein Leichtsinn, so nahe ans Wasser zu bauen. Dafür gibt es hier keinen Schnee mehr. Der Winter blieb schon bei Heilbronn zurück. Es regnet sogar. Deshalb habe ich mir auch nicht alles ansehen können. Aber ich habe ja genug Zeit.

Donnerstag, 5. 1. 1961 – Ich bin hundemüde. Das Zeichnen ist doch eine größere Anstrengung als vermutet. Da stehen wir den ganzen Tag über die Reißbretter gebeugt, mit Ausnahme der Pausen, die auch nicht viel Auflockerung bringen. Gestern hat bis neun Uhr das Licht im Saal gebrannt. So eine Zeichnung ist schnell verpfuscht. Runter also mit dem Papier und ein neues Blatt draufgeklebt.

Das Essen im Heim – ich bezeichne es ab heute als Werk – ist gut und reichlich. Im Speisesaal kann man, sofern einem der gereichte Tee nicht schmeckt, auch Bier trinken. Der Wirt, ein maulflinkes Männlein mit Hinterkopfglatze, ist Heidelberger. Er sei damals mit dem Direktor ans Werk gekommen. Obs ihm immer noch gefällt oder nicht, das möchte er nicht so genau sagen. Keiner von uns ist ihm eine Überraschung, und Bier hat er allemal verkauft. Ganz Verfressenen macht er auch mal ein Schinkenbrot, paniertes Schnitzel mit Ei. »Sauft mehr Bier!« schreit er.

Freitag, 6. 1. 1961 – Feiertag! Freier Tag.

Samstag, 7. 1. 1961 – Am Vormittag arbeiten wir allein, ohne Lehrer, und stellen eine Zeichnung fertig: Geometrische Übungen in Tusche auf DIN-A-4-Format. Abklatsch aus Lehrbüchern, vom Lehrer als Kreidegerippe an die Tafel geworfen.

Jetzt ist schon die erste Woche herum. Man kennt sich gegenseitig beim Namen, hat seinen ersten Wohnsitz bekanntgegeben; weiß, wer ledig, wer verheiratet ist und wieviel Kinder einer hat. Ich brauchte nicht zu erzählen, daß ich ohne Anhang sei; es gibt Leute hier, die sehen es einem an oder riechen es – ich weiß auch nicht, warum sie so sicher sind. Ach, sollen sie doch sicher sein: auf welche Überraschungen in ihrem Leben haben sie auch noch zu hoffen? Auf wenige! Ja, ich bin gerne hier, das kann ich sagen und aufschreiben. Wenn die Zeit im Werk herum ist, eröffnen sich mir neue Möglichkeiten – natürlich, mir mein Brot zu verdienen. Das ist ja auch der Sinn der Sache!

Donnerstag, 12. 1. 1961 – Endlich einmal wieder allein. Das ist gar nicht so selbstverständlich. Schließlich leben wir hier in einer Gemeinschaft; sie soll uns auch helfen, uns gegenseitig anzuspornen, miteinander und voneinander zu lernen. Ich sitze auf meinem Zimmer und schreibe einen Brief an das Mutterhaus. Auch das muß sein! Woher soll ich nur die Zeit nehmen? Es ist eine richtige Hetze hier, fast möchte ich es so ausdrücken. Gestern abend z. B. habe ich ferngesehen unten im Gemeinschaftssaal. Du könntest jeden Abend in diesen Kasten glotzen. Dann wäre dir sehr viel abgenommen. Und gelernt und geschrieben hättest du auch nichts: keine einzige Formel, keine einzige Zeile ... Z. B. mußt du dir alles wiederholen, wenn es sitzen soll – es wird Zwischenprüfungen geben –: nehmen wir mal die Werkstoffkunde, für mich ist es neu ... Heute hat er uns diktiert – ich schreibe sehr schnell, nicht unbedingt auch so leserlich, bin immer als erster in der Klasse fertig, ich schaue mich um, obs auch stimmt, das machen andere auch, sie holen mich aber nicht ein ... also hat Gott das Erz geschaffen, es in der Erde vergraben, der Mensch findet es ... Es gibt zweierlei Aufbereitungsarten: 1. die mechanische: Eisenstücke werden zerkleinert, in Trommeln gewaschen, gesondert und gemischt mit anderen Erzarten: das reine Erz wird vom tauben Gestein (taubes Gestein: Ton, Schiefer, Quarz, Kalk) geschieden durch Elektromagnete oder durch Schwimmaufbereitung ...

Montag, 16. 1. 1961 – Die Tage vergehen wirklich wie im Flug; oder als wäre ich vollauf damit beschäftigt, sie zu zählen. Es gibt keine Pausen. Das Jahr ist kurz, sagen sie: wir müssen in euch soviel hineinstopfen wie nur möglich. Es ist ohnehin zuviel ausgespart. Was denn? Wenn wir euch das sagten, hätten wir gleich wieder ein neues Fachgebiet. Also lassen wir das. Das Wenige ist schon genug! Viel zu zeichnen: schließlich wollen wir daraus einen Beruf machen! Ich denke noch mal an unsere erste Deutschstunde im Werk. Der Lehrer, ein Studienrat, den man sich aber gut in Pantoffeln und Hosenträgern vorstellen kann, hat uns eine Seite aus einem kaufmännischen Buch vorgelesen und sie uns mitschreiben lassen. Es war die erste Arbeit dieser Art. Jetzt gibt sich alles gespannt! Am nächsten Dienstag, also morgen, will er uns die Blätter korrigiert zurückgeben. Ich mache mir weniger Sorgen über meine Schreibfehler als über meinen Zorn, der mich packt, wenn er über Politik zu reden anfängt ... Ich weiß nicht, warum ich mich so aufrege; ich habe mich eigentlich noch nie mit Politik beschäftigt, ich bin auch noch nicht festgelegt in irgendeiner Richtung ... Vielmehr ist es eine gefühlsmäßige Abwehr (Gegenangriff).

Dienstag, 17. 1. 1961 – Heute war Besuch da. Unsere Kostenträger wollten sich mal an Ort und Stelle überzeugen, für was sie eigentlich Geld ausgeben. Ich sprach auch kurz mit dem Vertreter meiner Behörde. Außer mir leben noch drei oder vier auf seine Kosten bzw. auf Kosten seiner Behörde hier, wie er mir offenbarte. Die Hefte wurden zurückgegeben. Hatte einen Fehler, den ich lange verteidigte ...: schrieb »so daß« zusammen, anstatt getrennt. Auch andere sind hereingefallen. Nun war es mir peinlich, weil ich vorher geschworen hatte, nichts falsch gemacht zu haben. Vergessen! Von Politik war heute nicht viel die Rede. Vielleicht will er mich zappeln lassen, oder die Sprüche sind ihm ausgegangen!

Sonntag, 9. 4. 1961 – Ganz eingeschlossen!

Dienstag, 11. 4. 1961 – Wechselhaftes Wetter über Heidelberg. Am Mittag hat es noch 25 Grad – und abends regnets! So etwas zermürbt – dees brengt ao da Gsendaschta om, wie es bei uns heißt!

Mittwoch, 12. 4. 1961 – Pip-pip-pip! Telegramm: erster mensch stop gagarin stop umkreist stop mit raumschiff stop wostok I stop den planeten erde stop runden um runden stop zieht ein russe stop seine bahn stop gefahr stop für den frieden stop rettet stop rettet die freiheit stop rettet ein russe stop gagarin stop wostok I stop

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