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Aufenthaltsgenehmigung

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Die Antwort erreichte mich noch rechtzeitig und mit allen notwendigen Angaben in Heidelberg, von wo ich dann alles mit nach Hause nahm. Das kurze Schreiben mit beigefügter Aufenthaltsgenehmigung lautete: »Werter Kollege Simpel! Wir laden dich zu einem Erholungsaufenthalt nach Friedrichroda im Thüringer Wald ein, und zwar in der Zeit vom 10. 8. bis 20. 8. 1961. Anreisetag ist der 9. August ...«

Ich offenbarte mich niemandem, weder Heinz noch Karlheinz – nur meiner Mutter gegenüber konnte ich mich nicht verschließen. Und sie sagte: Das mußt du wissen, Bub! Ich gönne es dir. Das genügte mir. Natürlich freute ich mich; hätte schon vorher mit mehr Menschen darüber sprechen mögen – vielleicht auch mit Rotha-Hermann! Aber es war meine Angelegenheit; es war meine Freude – und auch mein Risiko – ganz allein! Statt nach möglichen Gesprächspartnern oder nach mehr oder weniger zuverlässigen Beratern zu suchen, forschte ich im Lexikon über mein Reiseziel und las: Thüringer Wald: Waldreiches Mittelgebirge zwischen der Werra westlich von Eisenach und dem Frankenwald, in den es etwa an der Bahnlinie Saalfeld – Lichtenfels übergeht. Höchste Gipfel: Schneekopf mit 978 m; Inselberg mit 918 m. Den Kamm entlang verläuft der Rennsteig (alter Grenzweg von der Saale zur Werra) ...

Saale, überlegte ich: gibt es da nicht auch das Lied, im Radio kommt es öfters – »An der Saale hellem Strande stehen Burgen stolz und kühn, ihre Dächer sind zerfallen, und der Wind streicht durch die Hallen, Wolken ziehen drüber hin ...« Na, wir werden sehen!

Ich nahm den Brief von drüben zunächst in meinem Gepäck mit zum Heidelberger Hauptbahnhof. Dort blieb mir noch etwas Zeit bis zur Abfahrt des Zuges. Schließlich saß ich wieder neben Herbert, dem Ulmer, im Abteil, den ich vor den Heimfahrten immer hier traf, weil er in die gleiche Richtung mußte wie ich.

Ich sagte ihm natürlich kein Wort von meinem Vorhaben, und er bohrte auch nicht lange. Er selber blieb in Ulm, wie er mir offen gestand. Er hatte irgendein Steckenpferd, das er in dieser Zeit dort reiten mußte. Doch Herbert und ich trafen uns nicht nur auf dem Bahnhof: Es gab Geschichten gemeinsamer Unternehmungen in der Stadt, und auch am Werk besuchte ich ihn dann und wann in seinem Zimmer – oder er kam zu mir, wollte mir etwas zeigen oder nur reden.

Herbert ging auf die Vierzig zu, war aber noch ledig. Hier und da erzählte er etwas von einer Freundin; ich nahm ihn nicht ernst. Denn sofort setzte er hinzu: Keine Zeit für Familie und so. Weißt du: Ich bin in den Krieg gezogen und aus diesem Krieg mit einem Unterschenkel weniger zurückgekehrt.

Da mußte man aber genau hinschauen, wenn man auf den Gedanken an ein Kunstbein kommen wollte. Selbst wenn einem eine gewisse Holprigkeit seines Ganges aufgefallen wäre, kaum jemand, selbst unter den in diesen Dingen Bewanderten, hätte an ein fehlendes Glied gedacht. Freilich bemühte sich Herbert auch, seine Versehrtheit zu verdecken. Ich erinnere mich, wie erstaunt ich war, als ich eines Morgens unangemeldet in sein Einzelzimmer im Neubauteil trat und ihn auf einem Bein zwischen Tisch und Bett, zwischen Waschbecken und Kleiderschrank herumhüpfen sah. Er lachte, so als hätte er meine Gedanken – mein Erstaunen – erraten.

Dieses Lachen, das war alles: nie wurde über den körperlichen Zustand gesprochen, weder über den meinen noch über den seinen. Ich hatte auch gar nie den Eindruck, daß Herbert unter seiner Schwerbeschädigung litt oder daß sie ihn in seinen Handlungen wesentlich bestimmte. Doch manchmal wünschte ich, daß er wenigstens vorgäbe, darunter zu leiden. Vielleicht hätten sich dann einige Fragen von selbst beantwortet: warum war er eigentlich hier? Es mußte doch für ihn – bei seiner Begabung, darin glich er Heinz – andere Möglichkeiten in diesem Land geben, sich fortzubilden. Ich begriff das nicht, und das machte mich zornig. War er zum Beispiel deshalb immer noch allein, weil sich die meisten Mädchen von dem Stumpf abgestoßen fühlten? Aber da kannte ich andere Beispiele! Dann sah ich ein, daß ich das nicht länger wünschen konnte – daß er unter seinem Zustand litt. Ich hätte mir nur selber geschadet auf die Dauer.

Aber was hätte ich noch von Herbert lernen können? Er war tüchtig, lebenstüchtig. Er war überpünktlich und überaufmerksam – und geduldig. Das hat mir doch am meisten gefehlt in dieser Zeit: Geduld für die Gesellschaft, für den Staat; Geduld für meine Lehrer, für meine Mitschüler; Geduld für mich und andere. Das steigerte meinen Zorn von Zeit zu Zeit – gegen alle und alles!

Genau genommen hätte Herbert, der Ulmer, sogar so etwas wie ein Vorbild für mich sein können – neben Heinz. Doch zwischen Heinz und mir war zu dieser Zeit noch nicht alles besprochen. Herbert konnte dauernd lächeln; er büffelte und büffelte auf ein bestimmtes Ziel zu, das ich für mich noch nicht sah. Da war etwas – eine Mauer, eine Wand –, die Herbert für mich umgab, die ich nicht zu überwinden vermochte, nicht einmal eindeutig zu erkennen. Deshalb diese Unruhe – bei aller Freundschaft; darum diese Vorsicht – bei allem Vertrauen! Da mußte man in der Tat warten und Geduld haben.

Bestimmt hatte er von meinen Auseinandersetzungen am Werk – in Schulzimmern, im Speisesaal, in Unterkünften und Gemeinschaftsräumen – im Laufe der Monate gehört; sie hatten, selbst bei standhaftem Unbeteiligtsein, auch einmal bis zu ihm durchdringen müssen. Er hätte Stellung beziehen müssen. Aber das tat er nicht. Er äußerte sich nie zu einem Vorfall, dessen Echo uns gerade noch in den Ohren gebraust hatte. Man konnte ihm dieses Schweigen keineswegs als Stehen über den Dingen auslegen – ich tat es nicht, und ein anderer beobachtete ihn nicht so genau wie ich! Auch glaubte ich nicht, daß ihn die Dinge so wenig berührten. Fehlte ihm der Ausdruck? Gehörte er zu den Spätzündern? Fiel ihm das Beste nachher ein, wenn alles vergangen und vergessen war? War er schüchtern? Eine gewisse natürliche Zurückhaltung machte sein Gepräge aus ... Nein! Er war kein Versager, auch auf dieser Ebene nicht. Er war nicht von Hemmungen eingeschnürt. Vielmehr war er ein sehr auskömmlicher Mensch, der gerade jüngeren, aufbrausenden Menschen viel nachsah. Ich hätte ihn mir gut als Lehrmeister vorstellen können, als Beamten, als Polizisten. Er wäre immer und gegen jedermann gerecht gewesen. Und gleichwohl kam es zwischen uns nie zu einem ernsthaften Gespräch. Versuche dazu fing er in einem Lachball auf.

Etwas mußte ihm verlorengegangen sein – etwas mußte sich in ihm zu einem leeren Raum entwickelt haben: eine Pflanze, die in meinem Feuerkopf blühte; etwas mußte gewaltsam in früheren Jahren zerstört worden sein. Oft brachen völlig unerwartet faschistische Begriffe aus ihm hervor: Rasse, Auslese, Schande, Reinerhaltung der Sippe. Er wandte sie an auf Personen und Umgebungen, die sich ihm gegenüber scheinbar hervorhoben. Ich protestierte auch. Aber es war bei mir etwas anderes: ich suchte nach den Gründen und nach Mitteln zur Beseitigung – Herbert aber begnügte sich mit der Klage und der Anklage. Meine Erklärungen lehnten sich der Umwelt sozusagen an. Herbert fuhr uraltes Geschütz auf, das weder in diese Landschaft noch in dieses Jahrhundert paßte.

Hier fand ich die Erklärung, weshalb ich mich ihm mit meinem Ortswechsel nicht anvertrauen wollte. Ich hätte nicht zu befürchten brauchen, daß er mich an irgendeine Stelle verriet. Ich mochte ihm diese Last nicht aufladen. Er hätte sie nicht schätzen können – schon gar nicht als Geschoß, als Kraft gegen ihn, der sich ausschloß, obwohl ihn als Betroffenen meine Befreiungsgedanken einschließen mußten. Ihn konnte ich nicht treffen: da war kein Fleisch ...

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