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Unterm Schirm

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Schließlich fand ich dort in Friedrichroda, was ich immer gesucht hatte, und zwar über und jenseits aller Politik, was ich weder in Heidelberg (gerade da nicht) noch zuvor gefunden hatte: eine Hand, dazu ein Gesicht, einen Körper, eine Stimme und einen Namen: Heidemarie!

Die Ellbogen auf der Tischplatte aufgestützt, oder ein Arm hängt am Körper lose herunter, der andere grabscht nach etwas zwischen den Gläsern, spielt mit einem Zündholz, beobachte ich sie. Starkknochig, groß, blondes Haar, grünes Kleid; der Gesichtsausdruck aber gutmütig und warm. Wir hätten uns schon früher begegnen müssen. Wenn es beim ersten Versuch nicht klappt, haben wir nicht mehr viel Zeit. Es ist ein Gefühl, Westdeutscher zu sein, hier inmitten von Ostdeutschen, das man ausschwitzen muß – oder hinunterspülen! Über uns alle wird bestimmt. Was für breite Hände sie hat – jetzt ein Sprung hinüber, und ich habe sie im Arm! Nicht zittern, Mädchen; ich fürcht’ mich genauso – oder jetzt nicht mehr. Nach diesem ersten Schritt. Nein, auf Händen forttragen könnte ich dich nicht, dazu wärst du mir zu schwer. Im Flur stauen sich dann noch mal die jungen Männer und Mädchen. Die meisten sind ohne Schirm. Heidemarie aber grinst, greift in ihre Tasche und holt so einen sozialistischen Knirps heraus: »Da haben wir Glück gehabt, was? Was würden Sie jetzt machen, wenn ich nicht wäre?« »Hier übernachten!« Wir zwängen uns zwischen den anderen durch ... Entschuldigung, wir haben hier nur etwas abgeholt, das vor kurzem für uns im Saal abgegeben wurde. Jetzt müssen wir aber schnell raus!

Wir entfernten uns rasch von dem ohnehin verebbenden Lärm aus der Gaststätte, in dem wir den Abend verbracht hatten. Es war bestimmt keine verlorene Zeit gewesen. Im Gegenteil: ich hatte sie gefunden. Wir strichen den Gehsteig hinab. Immer spitzer und in den Einschlägen treffsicherer werdend, prasselte der Regen auf den Schirm über unseren Köpfen herab.

Wir hatten es Heidemaries Umsicht zu verdanken, wenn wir in dieser Nacht nicht naß wurden. Die Kette der matten Straßenleuchten machte vorn am Rand des Schirmdachs einen langen Bogen. Aber wir schwenkten vorher schon nach rechts. Ich muß zugeben, alles war mir in diesem Augenblick fremd: die Stadt; die Straßen; die Häuser; der Staat – das Mädchen! So weit hatten sich Josef und ich zuvor noch nicht verirrt.

Ich konnte es längst nicht mehr sagen, wer von uns – der Bayer-Sepp oder ich (Siegfried-Heinrich war wieder auf Kaffee-Wanderung, unter der Führung älterer Damen; Manfred studierte auf unserem gemeinsamen Zimmer) – die Idee hatte und bestimmte: da probieren wir es heute; vielleicht beißen zwei an. Immer wieder wollten wir die Stadt kennenlernen, über die Hauptstraße kamen wir doch kaum hinaus. Ohnehin reihten sich hier die meisten Geschäfte und Trinkstuben aneinander.

Dies war die größte, die belebteste und beliebteste Wirtschaft der Stadt: die HO-Gaststätte »Weißer Hirsch«; warmes und kaltes fließendes Wasser. Kein Zimmer mehr frei. Heute abend Tanz – das war es doch, was wir suchten!

Ich bemühte mich, mir vorzustellen, wohin der Bayer-Sepp so schnell mit seinem Kurschatten verschwunden war. Doch nicht nach Hause? Nicht daß ich den Bayern für einen Verführer gehalten hätte – das war keiner von uns!

Ich greife vor: Josef gestand mir, schon bald nachdem wir uns kennengelernt hatten, daß er sofort in den ersten Arbeiterund Bauernstaat auf deutschem Boden übersiedeln würde, wenn er dort einem passenden Mädchen begegnete. Da wollte er sich auch von Empfehlungen oder guten Ratschlägen besorgter SED- oder Gewerkschaftsfunktionäre wie: »Genosse, mit deiner Überzeugung nützt du uns drüben mehr; also halte aus« nicht abhalten lassen.

Demnach wäre er nun möglicherweise und tatsächlich auf dem Heimweg oder Hinweg – oder beides –, genauso wie ich. Andererseits würden Heidemarie und ihre Freundin bereits morgen mittag in dieser Gaststätte wieder ihre Suppe löffeln, würden Hauptgang und Nachtisch verspeisen, gleichgültig, was am Abend davor in diesen Räumen und draußen geschehen war, und was sich an den folgenden Nachmittagen und Abenden noch ereignen würde.

Helke, die Freundin Heidemaries, die uns jetzt zusammen mit dem Bayer-Sepp entschwunden war, war um einen halben Kopf kleiner als meine neue Partnerin. Sie war schlank, aber irgendwie auch knochig – zäh, ausdauernd, viel ertragend, aber auch verletzbarer und nervenschwächer im Vergleich zu ihrer Freundin. Diesen Eindruck hatte mir Heidemarie später bestätigt. Helkes Haar war voller als das von Heidemarie und rötlich schimmernd. Kleine Wasserwellen überzogen den Kopf und stützten die Frisur, wogegen Heidi es der Natur ihrer kürzeren Strähnen überließ, eine Form zu finden. Diese Sorglosigkeit in bezug auf ihr Äußeres gab Heidemaries Gesicht einen etwas spitzbübischen Ausdruck. Helke dagegen blickte ernster und schwermütig drein. Sie hatte, wie sie später offenbarte, eine Operationsnarbe am Hals, darum trug sie auch stets ein Halstuch.

Sie paßte zu dem Bayern mehr, als sie zu mir gepaßt hätte. Natürlich hatten wir vorher im Saale gewitzelt: du kriegst die, und ich kriege die. Daß es dann wirklich dazu kam – nennen wir es Zufall oder Schicksal; oder auch Vorahnung.

Alle vier waren wir weder verheiratet noch versprochen. Zunächst mußte man natürlich zweifeln. Und Heidemarie bestand da schon sehr früh auf Klarheit:

»Bist du noch ledig?«

»Ledig!«

»Ach, das sagen doch alle –«

»Ich bins aber!«

»Jetzt ist mir leichter. Wenn du verheiratet gewesen wärst, hätte ich dich gar nicht mit hierher genommen. So was mache ich nicht. Wie kommst du jetzt wieder heim?«

»Zu Fuß!«

»Ach, so meine ich das nicht! Ich meine, wegen dem Regen ... Ich gebe dir meinen Schirm mit. Du wirst ihn mir ja wieder bringen?«

»Alles! Und den Schirm dazu.«

So gings nach einer weiteren, schmerzhaften Umarmung auseinander.

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