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Ein Sommer wie er sein soll

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Am Sonntag kriege ich Besuch. Meine Mutter kommt mit einem Sonderzug von Stuttgart nach Neckargmünd. Sonderfahrt. In Neckargmünd steigt sie auf einen Dampfer um, der sie nach Heidelberg bringt. Gegen zwölf wird sie im Werk eintreffen. Mit dem Bus, in den sie von der Straßenbahn umsteigt. Ich weiß das alles aus Briefen und Telefongesprächen, die wir vor ihrer Reise geführt haben. Ich zeige ihr die einzelnen Schul- und Werkstätten. Dann fahren wir mit der Straßenbahn zurück in die Stadt und hocken in einem Kaffeegarten drunten am Neckar. In großem Bogen beginnen wir zu reden. Meine Mutter fragt: wie gehts, und ich antworte, gut! Sie möchte wissen, wie es an der Schule geht. Ich sage wieder, gut – es macht Fortschritte. Aber alles kostet Kraft und Ausdauer.

Meine Mutter fragt: Ißt du auch? Ich sage – ja! Schläfst du auch genug? Ich sage: ja! Und dein Herz; deine Allergie? Ist besser geworden. Achtgeben, Bub. Ja, sage ich.

Ich habe auf der Herfahrt mit einem Herrn gesprochen, berichtet meine Mutter in ruhigem Ton; er hat mal Medizin studiert, jetzt fährt er in Kur. Er hat eine ähnliche Krankheit gehabt wie du; vom andern wollen wir gar nicht reden.

Ist auch nicht nötig, Mutter! Ich komme hier gut zurecht. Alles bestens; prima!

Und die Kameraden?

Auch gut! Jeder möchte vorankommen und mit dem Nachbarn in Frieden leben.

Wohnen alle in Zweibettzimmern?

Ja!

Konntest du deinen Zimmergenossen auswählen?

Nein! Aber ich glaube, da haben sie schon darauf geachtet: Alter, Landeszugehörigkeiten undsoweiter.

So? Woher ist er denn?

Ich komme gut mit ihm aus.

Das ist die Hauptsache.

Auf dem Fluß treiben jetzt die Kähne. Segelboote spiegeln auf und ab. Motorschiffe dazwischen, braune Badehosenkörper hinter sich herziehend. Ein Wasserskifahrer stürzt; es dauert einen Augenblick, bis er auftaucht und wieder steht. Am Ufer wird er sich zuerst duschen müssen. Denn das Öl der Fähren und die Abwässer der Industrie kleben an seinem Körper. Hat er nicht auch davon getrunken? Dann hilft nur erdulden.

Ich könnte mit Ernst im Auto mitfahren, fahre ich in der Beschreibung meiner Lage fort. Aber ich will nicht.

Das mußt du auch nicht, erklärt meine Mutter. Und dann berichtet sie von daheim: Deine Schwester will heiraten.

So? tue ich überrascht, und bin es wohl auch.

Ja, und der Nachbar ist gestorben.

Krank?

Er war immer noch rüstig; gerade siebzig: da muß man nicht sterben.

Blickst du in den Menschen hinein?

Das hast du von deinem Großvater.

Wie gehts dem?

Nun, der ist in einem Alter! Aber Gott sei Dank, der kann von einem Kind zum andern. Wenn ich darauf nur auch einmal hoffen kann ...

Nun bin ich an der Reihe, zu fragen: Wie geht es dir selbst, Mutter? Hast du Sorgen?

Ach ...

Was macht dein Knie? Bist du immer noch in Behandlung?

Ja; es wird besser. Der Nachbar will sein Dach ausbauen. Wir sollen die Genehmigung geben, weil es die Sicht auf den Garten und die Kirche versperrt.

Wirst du dich weigern?

Ihnen zum Possen möchte ich es tun! Aber das alles ist eine Last, die ich mir nicht aufladen möchte. Komm jetzt!

Wir mußten gehen. Um 17.54 Uhr fuhr der Zug vom Heidelberger Hauptbahnhof aus. Wir waren rechtzeitig da. Ich stellte mich an den Bahnsteig, folgte dem aus der Halle hinausrollenden Zug und winkte. Der Arm meiner Mutter war noch lange in dem Abteilfenster zu sehen. Hoffentlich hatte ich nichts falsch gemacht, hatte nicht zuviel oder zuwenig gesagt. Aber wir würden uns ja bald wieder sehen.

Ein Sommer wie er sein soll: heiß und lang! Ich dachte immer noch über die Geschichten nach, die mir meine Mutter über die momentanen Vorgänge erzählt hatte. Das bestimmt dich auch weiterhin, sagte ich mir, ob du willst oder nicht. Davon gehst du aus und dahin kehrst du auch irgendwie in deiner Not zurück. Und es ist immer Not; es ist immer Ungewißheit, ob das das Richtige ist, was du gerade machst oder sagst. Davon kommst du auch nie los: von den Bauern, von den Arbeitern, den Haushaltsmädchen, den Straßenwarten, den Schreinern, den Bibellesern – lauter Knechte! Nie Herren! Und da will man mir weismachen, ich lebte in einer besseren Gesellschaft; es gäbe bei uns keine Klassen, keine Unterschiede zwischen den Ständen mehr, und wenn man vorankommen wollte, brauchte man nur das zu machen, was alle machen. Ich mache doch schon, was ich kann – und ich höre nur Schweigen von allen Seiten!

Freitag, 23. 6. 1961 – Betriebsbesichtigung durch die Klasse. Wie besprochen. Es wird interessant sein. Ein Bus steht an der Pforte des Werks, nimmt eine Truppe auf und schaukelt sie in die Nachbarschaft: nach Friedrichsfeld bei Mannheim. Gießerei und Gesenkschmiede. Riesige Dampfhämmer arbeiten unter den Augen der Besucher. Schade: Die Erklärungen durch die einzelnen Meister der Abteilungen werden nur in der vordersten Reihe verstanden.

Anders, deutlicher wird es danach in der Kantine, wo für uns die Tafeln gerichtet sind. Ein kleines Vesper und Getränke. Ein Herr in Krawatte hält eine Ansprache, unsere Lehrer bedanken sich. Solche Vororterkundungen verfolgen ja eine bestimmte Absicht: einmal sollen die Schüler ein Bild von der Praxis erhalten, zum andern wollen Betriebe auf die eine oder andere Begabung im laufenden Kurs aufmerksam gemacht werden. Tatsächlich fand man den Betriebsleiter einigemal mit Heinz und dem Zeichenlehrer im Gespräch. Auch andere herausragende Talente, zu denen ich natürlich nicht gehörte, wurden auffallend um den einen oder anderen Meister, der uns durch die Fabrik führte, herumgestellt.

Am Nachmittag setzt sich eine Gruppe ins Schwimmbad nach Schwetzingen ab. Ich bin dabei! Auch Karlheinz schließt sich an. Er ist, wie wir alle, in bester Stimmung; krault am Beckenrand entlang und kann sich sogar selber heraushieven. Er muß einmal ein guter Schwimmer gewesen sein, vor dem Unfall, wenn auch nicht von der Klasse unseres Zeichen- und Rechenlehrers, der sich schwimmend, tauchend und am Ball – im Wasser wie auf dem Rasen – wieder einmal hervortun muß. Dann zieht plötzlich einer einen Fotoapparat aus der Tasche und knipst die fünf Männer in Badehosen, alle im Gras sitzend, und vier davon die Arme um die angezogenen Knie geschlungen. Alle sind wir käsweiß am ganzen Körper und setzen uns zum erstenmal in diesem Jahr der prallen Sonne aus. Wenn wir das nur nicht büßen müssen! Und ich merke es dann wirklich in der Umkleidekabine: zwischen den Schulterblättern spannt die Haut, Arme und Beine wirken trocken und brüchig; das Fleisch auf den Knochen brennt Das kann eine angenehme Nacht werden.

Sonntag, 25. 6. 1961 – Ich bleibe auf dem Zimmer. Zwischen den Mahlzeiten ein paar Gehübungen durchs Haus. Am Nachmittag kommt endlich ein Gewitter, und die Affenhitze ist im Nu verflogen. Doch am Abend kriecht sie bereits aus allen Ecken wieder hervor. Das ist das berühmte Heidelberger Wetter, das schon Schopenhauer verjagte! Zeitung gelesen: Rhein-Neckar-Zeitung und Die Welt – Heiratsmarkt und Politik! Eine Kleinanzeige in der Rhein-Neckar-Zeitung fällt mir auf: »Zwei unternehmungslustige Mädchen, 20 und 21, suchen zwei ebenso bewegliche, nette Herren zwecks Freizeitgestaltung. Spätere Heirat nicht ausgeschlossen.«

Ich bin zu Karlheinz hinuntergegangen. Gemeinsam haben wir einen Brief entworfen. Wir wollen ihn wirklich abschikken.

Montag, 26. 6. 1961 – Der Nachmittag ist frei; wir dürfen ihn nach unseren Vorstellungen (und wohl Bedürfnissen) gestalten. Ich fahre mit Karlheinz, trotz Nachwirkungen eines unleugbaren Sonnenbrands, wieder nach Schwetzingen ins Freibad. Als wir ankommen, beginnt es zu regnen. Aber wir bleiben und lassen es donnern. Um 18 Uhr verlassen wir die Arena: 2 Mann und 1 Stock, wobei Stock wichtiger ist als Mann; denn Stock stützt Mann – ohne Stock fällt Mann um! Ein Mann! In Heidelberg gehen wir noch einen trinken.

Dienstag, 27. 6. 1961 – Fachkunde: 11.2 Druck in Gasen. Die Erde ist von einer Lufthülle umgeben (wir schreiben: Atmosphäre). Durch das Gewicht dieser Lufthülle herrscht auf der Erdoberfläche eine Pressung ... Wärmetechnik: In der Technik muß man genau unterscheiden zwischen Temperatur und Wärme. Die Temperatur sagt etwas aus über den Wärmezustand eines Körpers. Die Wärme hingegen gibt an, welche Wärmemenge in einem Körper von einer bestimmten Temperatur steckt (Energie). Sind alle mitgekommen, fragt der junge Dozent. 12.1. Temperatur –.

Wenige Tage später schrieb ich, nach einigen Überlegungen, diesen Brief, mit dem alles begann:

»An den FDGB der DDR, Berlin-Ost. Betrifft: Freistellen an den Erholungsorten der DDR. Sehr geehrte Herren! Es ist mir zu Ohren gekommen, daß die Deutsche Demokratische Republik dem Volk innerhalb ihres ganzen Landes Erholungsorte eingerichtet hat, an denen sie westdeutschen Bürgern sogenannte Freistellen einräumt.

Ich bitte um Auskunft hierüber und um die Gewährung einer solchen Freistelle! Ich bin 27 Jahre alt, von Beruf Schreiner; aus gesundheitlichen Gründen kann ich dieses Handwerk nicht mehr ausüben. Heute nehme ich an einem Umschulungslehrgang für Technisches Zeichnen des Allgemeinen Maschinenbaus am Berufsförderungswerk des Landesarbeitsamts Baden-Württemberg in Heidelberg teil. Die Dauer des Kurses beträgt ein Jahr. In meinem Leben war ich noch nie in Mitteldeutschland oder in den Gebieten, die heute eine aus dem verlorenen Krieg hervorgegangene Grenze von uns abschneidet. Natürlich möchte ich einmal mein Vaterland insgesamt kennenlernen.

In die Zeit vom 28. 7. bis zum 21. 8. 1961 fällt an unserer Schule die große Sommerpause. Ich habe noch keine andere Reise vor, möchte aber ebenso wie meine Kameraden im Urlaub irgendwohin fahren. Wenn das System des Sozialismus in der DDR mir einen solchen kostenlosen Erholungsaufenthalt in seinem Bereich gewähren könnte, wäre ich sehr glücklich. Um Nachricht bitte ich allerdings bis spätestens zum 28. Juli. Vielen Dank im voraus. Es grüßt Sie mit vorzüglicher Hochachtung Ihr Karl Simpel, Heidelberg-Pfaffengrund, Kranichweg 51. Bundesrepublik Deutschland!«

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