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13 – eine Unglückszahl? oder Reisen, wohin man will
ОглавлениеDer 13. August 1961 fiel auf einen Sonntag, und die Lautsprecher des Heims, sonst mehr für Durchsagen und Unterhaltungsmusik eingerichtet, waren an jenem Tag auf Nachrichten und Marschmusik geschaltet. Marschmusik – man bedenke!
Es entstand Unruhe: Ewald und Hugo waren ständig umlagert: »Gibts Krieg?« wurde gefragt.
»Quatsch! Alles Quatsch. Wir haben uns ...«
Hugo drang nicht durch.
»Kommen wir auch wieder raus?« folgten weitere Stimmen aus dem Publikum.
»Unsinn! Leute, hört zu; regt euch nicht auf. Wir sichern unsere Staatsgrenze«, übernahm nun Ewald die Erklärungen. »Ihr wißt doch: Berlin, die Agentenschleuse! Dieser Sumpf wird jetzt trockengelegt. Ihr könnt ganz beruhigt sein; gegen euch gehts nicht. Aber gegen die Spekulanten und Kriegsgewinnler; gegen die, die die DDR um Millionen geprellt haben und immer noch um Millionen prellen – prellen wollen! Aber diesmal sind wir schneller, Genossen! Es darf nicht mehr soweit kommen wie 1933; die Arbeiter sind bewaffnet. Sie üben hier die Macht aus: Das muß klar zum Ausdruck kommen!«
Immerzu Marschmusik und auch am nächsten Tag wieder Balkenüberschriften im »Neuen Deutschland«, das hier natürlich auslag. Marschmusik ... Aber eigentlich hatten wir keine Angst. Berlin war auch weit. Nein, der Erholungsalltag kam nicht wesentlich aus dem Tritt.
Es kam weiter zu Gesprächen zwischen West- und Ostdeutschen untereinander und mit den Funktionären.
Die »Friedensgrenze« geschlossen! Wie war das nur möglich? Mit einem Schlag diese Menschen, dieses Material bereitzustellen? Bald wird es vergessen sein, wie es dazu gekommen ist, liebe Leute; erholt euch nur weiter, trinkt nur weiter, eßt nur weiter, setzt eure Spaziergänge nur fort; zum Kuchen gibts echte Sahne; der Kaffee ist heute Bohnenkaffee. Unsere Arbeit aber beginnt; vor allem den eigenen Leuten diese Maßnahmen zu erläutern: jetzt fällt der Samen in fruchtbaren Boden. Jetzt kann uns niemand mehr ausweichen. Die Gelder, die wir in die Ausbildung unserer Kader gesteckt haben, bleiben endlich im Lande. In unserem Lande! Hier bauen wir den Sozialismus auf. Niemand soll uns hindern.
Ewald und Hugo luden zu einem Diskussionsabend in den größten Saal der Stadt. Die Kollegen aus der DDR, unsere Gastgeber und Gönner, luden uns wirklich ein. Aber es wurde jedem »nahegelegt«, auch zu kommen. Wir, Hermann, Siegfried-Heinrich und ich wollten diesmal wenigstens nicht auffallen und unser Bekenntnissoll, so gut es ging, ableisten. So planten wir es wenigstens.
Die Veranstaltung vereinigte die überwiegende Mehrheit aller westdeutschen Bürger am Ort (Ewald und Hugo: »Einmal wollen wir doch alle beieinander sein, danach kann jeder wieder machen, was er will.«). Ein Staatsanwalt aus Berlin (Ost) war angereist. Er wollte Fragen zur Rechtspflege in der DDR beantworten – auf vielfachen Wunsch aus den Reihen der westdeutschen Gäste. Das Thema Staatsgrenze stand also doch nicht unmittelbar im Mittelpunkt des Aufklärungsabends.
Wir wollten, wie gesagt, nicht auffallen. Aber wenn es die Brüder und Schwestern aus dem Westen wieder übertrieben mit ihrem Bekenntnis zum sozialistischen Staat, dann wollten wir – nach außen – etwas dagegenhalten; wollten provozieren, damit es nicht gar so langweilig und einheitlich wurde. So dachten wir, ohne uns lange darüber abzusprechen.
Um einen Tisch an der Innenseite des riesigen Saales rückten wir erwartungsfroh zusammen. In einem schrägen Winkel blickten wir zur Bühne hinauf; da thronte der Genosse Staatsanwalt, zwei Schreiberinnen, Hugo und noch ein Herr in Grau. Getränkewünsche konnten noch an die Kolleginnen aufgegeben werden. Dann wurden wir begrüßt, von oben herab noch einmal willkommen geheißen. Und es wurde uns wiederholt ein guter Aufenthalt gewünscht sowie eine glückliche Heimkehr. Besonders diese letzte Bemerkung fanden wird doch beruhigend. Kurzreferat. Wir hörten nur mit einem Ohr zu; das Bier floß auch durch unsere Gehörgänge.
»Sind Fragen? Bitte, geben Sie sich ganz ungezwungen. Hier können Sie reden wie Ihnen der Schnabel gewachsen ist. Wir sind ja unter uns! Hier haben Sie nichts zu fürchten. Keinen Reinfall und keinen Rausschmiß!«
Lachen beim Herrn Staatsanwalt.
Räuspern im Saal.
Da ein Finger.
»Kollege Staatsanwalt ... ich möchte hier einmal zunächst im Namen aller Ihnen danken für diesen Aufenthalt –«
»– nicht mir müssen Sie danken, Genosse!«
»Ich meine der Partei! Dem Staat –«
»– sagen Sie doch einfach der Arbeiterklasse!«
»Ja, so mein ich es, Genosse Staatsanwalt; ich kann mich nur nicht so geschickt ausdrücken. Ich bin Ruhrkumpel, untertage ...«
»Gerade das hat sich bei uns hier grundsätzlich geändert. Bei uns kommt jeder zu Wort. Wenn einer etwas nicht kann, so hat er die Möglichkeit, es zu erlernen – kostenlos! Wir gewähren Stipendien für die Arbeiter- und Bauernkinder! Bei uns kostet die Bildung nichts – außer den Willen des einzelnen! Und da bei uns das Vermögen in der Hand des Volkes ist, müssen wir ganz andere Maßstäbe in bezug auf die Rechtspflege anlegen als in einem vorwiegend am Profit und nicht am Menschen orientierten kapitalistischen ... Deswegen sprechen wir auch nicht von Bestrafung. Wir sind überzeugt, daß der einzelne nur noch nicht die nötige historische Einsicht ... jemand hat in seiner Umgebung versagt, nicht unbedingt er allein: das wollen wir nachholen ... Da hinten bei den jungen Leuten war eine Wortmeldung. Bitte, Kollege, sprich!«
Ich stand auf und stotterte: »Warum darf hier nicht jeder reisen, wohin er will? Hat das mit der Revolution etwas zu tun?«
»Das hat mit der Revolution etwas zu tun! Richtig!«
»Wir konnten auch fahren, niemand auf unserer Seite behinderte uns –« Lachen beim Herrn Staatsanwalt.
Unruhe im Saal.
Zwischenrufe: »Wie kommen die hierher ...«
»Das ist es ja gerade ... warum soll man euch nicht fahren lassen; von euch hat man doch noch nichts zu befürchten. Das kommt später anders. Jawoll! Du bist wohl zum erstenmal hier, Kamerad ... dies ist doch ein sozialistisches Land ...«
»Maulhalten!«
Der Staatsanwalt: »Aber Kollegen und Genossen! Hier kann jeder frei reden – das ist es ja, was uns unsere Feinde unterschieben wollen: daß wir keine Fragen beantworten wollen und jede Opposition im Keim ersticken. Im übrigen bin ich noch gar nicht so sehr überzeugt, daß es sich hier um Opposition handelt: Wir können uns nachher noch gerne – eine Stunde habe ich noch Zeit – miteinander unterhalten, junger Freund! Wenn Sie wollen! Sie werden sehen, ich scheue keine Antwort – aber grundsätzlich ist es so. Es kommt keiner nach Sibirien, wenn er mal den Mund aufreißt –!«
»Hier sind Kollegen darunter, die im KZ waren und die jetzt noch in der sogenannten freien Bundesrepublik verfolgt werden wegen ihrer Gesinnung: oft klingelts an der Haustür, und der Verfassungsschutz steht draußen ... da bekommen Sie eine andere Meinung! Ich begrüße die Maßnahmen der Regierung in Verbindung mit der Arbeiterklasse an der Staatsgrenze ... In jeden Flüchtling sind Hunderttausende Mark zuvor hineingesteckt worden; die trägt der Kerl nun dem Gegner zu ... das mußte aufhören!«
»Kollegen, Kollegen, darf ich noch einmal ums Wort bitten! Der junge Kollege hat eine einfache Frage gestellt ... was glaubt ihr, welche Diskussionen wir intern durchzustehen haben? Wenn wir da jeden nach Sibirien schicken wollten! Wir müßten selber gehen ...«
Beifall!
»Es ist ein langer Weg zur Einsicht. Für jeden von uns. Erinnert euch, ihr alten Genossen der ersten Stunde, wie schwer war es oft für euch selbst, den historischen Notwendigkeiten immer zu folgen ...«
Ich wieder: »Was haben Sie denn im Dritten Reich gemacht?«
Stille im Saal.
Der Staatsanwalt: »Ich war Soldat, so wie die meisten meiner Generation, wenn sie nicht hinter Gittern oder im Konzentrationslager schmachteten.«
Neue Unruhe im Saal.
Wieder der Staatsanwalt: »Nein, Kollegen! Zweifel müssen durch Argumente ausgeräumt werden, das möchten wir unseren Gegnern schon voraushaben! Wir wollen doch niemanden verlieren, nur weil ihm im Augenblick etwas nicht paßt, oder weil er etwas nicht begreift. Hunderttausende kommen jährlich zurück. Du solltest mal einen Blick in unsere Rückkehrerlager werfen; das kostet uns ein Heidengeld! Wir sollten aber nun auf unser eigentliches Thema zurückkommen. Die Frage hieß: wie behandeln wir in der Deutschen Demokratischen Republik Verbrechen und Verbrecher? Zunächst ist dazu zu sagen: in unserem Staat gibt es im überlieferten oder kapitalistischen Sinn gar keine Verbrechen – mit Ausnahme von Raub und Mord; das ist ja klar! Es gibt Verstöße. Diese Erkenntnis ist wichtig, wenn wir sagen, daß unser System besser und das einzig richtige ist ...«
Unbehelligt verließen wir im Strom der anderen den Saal. Ich wollte kein Gespräch mit dem Staatsanwalt. Er hatte es vielleicht selbst schon vergessen. Auch im Heim nachher wurde nicht mehr darüber gesprochen. Der Staatsanwalt hatte sicher in einem Punkt recht: bei unserem Widerspruch ging es nicht um Opposition. Vielmehr drückte sich in meinen, einer aus dem Westen mitgebrachten Stimmung nachempfundenen Fragen ein Widerwillen aus – Widerwillen gegen die doch nicht zu leugnende Inanspruchnahme unserer Freizeit. Ich wollte mich doch hier nicht selbst bestätigen. Oder doch?
Jedenfalls nicht in dem Maße wie die übrigen Kämpfer aus dem Westen: VVN, Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Verfolgte des Naziregimes! Der Name fiel öfters, und er genoß meinen Respekt. Aber nicht aus Unterwürfigkeit, sondern aus neuer Erkenntnis und Einsicht. Aber auch aus Erfahrung in der eigenen Familie. Das sagte ich hier freilich nicht, da es mir vielleicht falsch ausgelegt worden wäre.
Diese Leute hatten in der Vergangenheit gelitten. Doch ich wollte hier nicht leiden. Auch Sepp, selbst Siegfried-Heinrich, der Niedersachse, nicht – gerade der nicht. Der litt sowieso schon genug an sich! Wir wollten hier etwas mitnehmen für drüben, Stärkung, Überzeugung – Bestätigung: Mehr Sicherheit in unserer Argumentation! Ja, das war es. Und den Widerspruch in Einzelheiten empfand ich als Training für größere Leistung im Gesamten. Es gab nie längere Gespräche über diese Dinge zwischen uns. Wenn wir uns auch in der Grundüberzeugung einig waren, so wußten wir doch, daß drüben andere Bedingungen galten – und daß jeder von uns aus einer anderen Richtung, auf einer anderen Ebene auf diese Seite Deutschlands und zu dieser Einstellung kam.
Wir hatten zwar Siegfried-Heinrich in seinen ureigensten Motiven rasch durchschaut, aber für den Anfang waren weder Josef, der Bayer, noch ich völlig frei von einem gewissen Egoismus. Denn wann und wie hatten wir sonst die Möglichkeit, »kostengünstig« aus unseren Gemeinden herauszukommen?
Der Staatsanwalt mußte das spüren. Das konnten auch Ewald und Hugo nicht überhören. Das war der Stand; davon mußte man ausgehen in der innerdeutschen Diskussion um Fortschritt und Bewahrung: diese Gegebenheiten oder grundlegenden Schwächen auf unserer Seite ließen sich mit keiner noch so ausgeklügelten Strategie und Taktik überspielen.