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Verschiedene Systeme
ОглавлениеDie Ausbildung erfolgte nach dem Berufsbild des Technischen Zeichners. Neben der theoretischen Schulung wurde besonderer Wert auf das Ausführen praktischer Arbeiten gelegt. Verschiedene Stoffgebiete wurden behandelt: Normgerechtes Zeichnen, darstellende Geometrie, Fachrechnen, Rechenschieberrechnen, Fachkunde, Werkstoffkunde, Maschinenelemente und Werkstattpraxis (Bescheinigung des Berufsförderungswerks e.V.).
Die Werkstatt – ein flacher, ebenerdiger Betonbau, der den offenen Winkel des Berufsförderungswerks gegen die Stadt Heidelberg hin halbwegs abschloß, war erst in unserer Zeit betriebsfertig geworden. Hier fielen wir an einem Vormittag und an einem Nachmittag in der Woche ein und beobachteten unsere ausgebildeten Mitschüler an den Maschinen: Drehbänke, Bohrmaschinen (Metallbohrmaschine: Radialbohrmaschine), spanabhebende Metallbearbeitungsmaschinen, spanabhebendes Werkzeug; die Drehbank (Schnelldrehbank, Metalldrehbank): das Schaltgetriebe (der Spindelstock), der Vorlegeschalthebel, der Hebel für Normal- und Steilgewinde, der Hebel für das Leitspindelwendegetriebe, die Drehzahleneinstellung, der Wechselräderkasten (Vorschubgetriebekasten, das Nortongetriebe)... die Nortonschwinge, ein Stellhebel, der Einschalthebel für Rechts- oder Linkslauf der Hauptspindel, der Drehbankfuß ... die Verstellspindel, mit Kurbel ... die Fallschnecke, zum Einschalten der Vorschübe, der Hebel für das Mutterschloß der Leitspindel ... der Längssupport, der Quersupport ... Kühlmittelzuführung, die Pinole, der Pinolefeststellhebel, der Reitstock, die Reitstockspitze, das Pinoleverstellrad, das Drehbankbett ... die Spannut, die Spannbacke ... der Mitnehmerklemmring... das Drehherz... Drehstähle, der Schruppstahl, der Schlichtstahl... Werkzeugkunde, Werkstoffkunde ... neu damals: ein Indexautomat.
Fortsetzung Fachkunde: Gewicht und Wichte. Punkt 1.
»Die Erde übt auf jeden Körper eine Anziehungskraft aus (Schwerkraft). Das Einwirken der Anziehungskraft auf einen Körper nennt man Gewicht. Die Maßeinheit ist das ...«
Das Gebiet Fachkunde wurde zunächst von unserem Zeichenlehrer, einem frühergrauten, trinkfesten Sportwagenfahrer, locker weitergeführt. Bis zur Übernahme dieser Unterrichtsstunde durch einen jungen Ingenieur. Er gab sich von Anfang an sehr ungezwungen – nachmachbare Haltung: linker oder rechter Ellbogen auf der Fensterbank abgestützt und in den Raum nasalierend: er versuchte den Eindruck zu vermitteln, als begänne er hier nichts Neues. Sondern führe nur eine etwas vernachlässigte Übung weiter. Tatsächlich war dies hier sein erster »Lehrauftrag«. Es sollte ihm nicht schwergemacht werden, solange er einsah und durch Handhabung des Belehrungsvorgangs bewies, daß er es ausschließlich mit »erwachsenen« Männern zu tun hatte. Der minderjährige Kellner wurde stillschweigend mit eingeschlossen. Herrn Knorr – »Sie können ruhig rauchen, meine Herrn, wenn Sie es unbedingt brauchen; ich hab’ nichts dagegen ... Ich stamme aus Mannheim, bin dort geboren, zur Schule gegangen, Realschule, aufgewachsen, Ingenieurstudium, ein Jahr Praktikantenzeit in den USA; die sind schon viel weiter dort als wir«, so hatte er sich uns in der ersten Stunde rauchend vorgestellt – wurde sodann auch das Fach »Rechenstab« übertragen. Jede Veränderung im Schulablauf teilte uns der Vertreter des Arbeitsamtes mit, der – mit Blick auf den Innenhof des Gebäudevierecks – zwischen den Schulräumen sein Büro hatte. Sekretärin, an die Schreibmaschine gekettet. Wenig beschriftete Ordner. Dafür verläßliches Gedächtnis. »Die Unterlagen sind in der Stadt ...« Herr Knorr gab sich einen Ruck. Mit ein paar seitlichen Ausschlägen war er an der Tafel. Die Kreide flog ihm voraus: »Damit es etwas anschaulicher wird, empfehle ich die Verwendung von Farben ... In den Staaten waren die Arbeitsbedingungen im wesentlichen nicht sehr viel anders, meine Herrn, dafür zielgerichteter; wer in den ersten Wochen nicht folgen konnte, blieb auf der Strecke, das war das Ausleseprinzip ... Wir aber leben in der Bundesrepublik. Es ist vielleicht gut so, möchte ich sagen ... Bitte, meine Herrn, beginnen Sie mit Blatt 1. Punkt 1: Allgemeines zum Rechenschieber. Der Rechenschieber ist ein sehr altes Rechenhilfsmittel. Man kannte seinen grundsätzlichen Aufbau schon im 17. Jahrhundert ... Kennen Sie denn den, meine Herrn: seit der Krieg aus ist, gibt es wieder Läuse in Deutschland ... hahaha! – Es gibt verschiedene Systeme ... Wir benutzen einen Rechenschieber des Systems Darmstadt in vereinfachter Weise ... Sein großer Vorteil liegt darin – sage ich es zu schnell? –, daß er eine versetzte Skala hat ... Siehe später!«
Schon während des Empfangs durch den Direktor und deutlicher während der Aufteilung der Ankömmlinge auf die einzelnen Lehrgänge war von jemandem der Zweifel in Umlauf gesetzt worden, wie denn der Abschluß am Ende des Jahres aussehen werde. Es war ein formales Problem zunächst: Zeugnis oder Bescheinigung, das hieß Anerkennung oder nur Beachtung. Wirklich erhielten wir am Ende dieser Zeit nur eine »Bescheinigung« ausgehändigt ... »Habe ich es euch nicht von Anfang an gesagt –?«
Wer hatte es denn gleich gewußt? Es war Friedhelm, der Kräutermann; der Heilgehilfe. Täglich drehte er seine Runden über den Platz Heidelberg und Umgebung. Keine Himmelsrichtung war vor ihm sicher. Er brauche die Bewegung, versicherte er immerzu; sie sei ihm sozusagen verordnet. Wirklich litt er an einer nie näher bekanntgemachten Überempfindlichkeit. Am Ende einer Schulstunde wirkte er blaß und blutleer; er zeigte uns seine Hände: Die Finger mit den großen Nägelflächen schienen abgestorben. Wenn er sich auch nicht selbst helfen konnte, so beschrieb er seine Beschwerden doch sehr genau und beurteilte auch die Krankheiten anderer. Er nannte sogar bestimmte Arzneien; medizinische Fachausdrücke gehörten zu seinem Sprachschatz. Während er zwischen den Feldern hindurchraste – meistens wurde er von seinem älteren, aber leichtfüßigen Zimmerbruder begleitet –, warf er sich von Zeit zu Zeit eine Tablette in den aufgesperrten Mund. Ohne anzuhalten. Es handelte sich vorwiegend um homöopathische Mittel, die ohne Wasser oder eine andere Flüssigkeit und in regelmäßigen Abständen einzunehmen waren. In dem ganzen Jahr, während ich täglich mit ihm zusammen war, nahm er ständig irgendein Mittel ein. Nie hatte ich ihn davon sprechen hören, daß sein Leiden nach einer gewissen Zeit verschwinden würde. Er selbst betrachtete sich keineswegs als Kranken. Denn krank war irgendwie jeder – hatte eine Neurose, litt unter einem Komplex –, und er war nicht schlimmer krank als alle andern. Wenigstens diejenigen andern, mit denen er es hier zu tun hatte. Er stammte aus Gelsenkirchen, wie sein Mitsprinter. Sie hatten dort beide als Schlosser gearbeitet; aus diesem Beruf brachten sie auch ein wenig materialtechnische Erfahrung mit. Jedoch fand sich keiner von ihnen an der Spitze. Beide trampelten redlich durch das Mittelfeld; hier fühlten sie sich wohl, und sie wären sogar eine Pedaldrehung zurückgegangen, wenn es einmal den Anschein gehabt hätte, daß sie ein Schwung weiter nach vorne tragen würde. Immerhin hatte es Gründe gegeben, weshalb ihnen diese Ausbildung genehmigt worden war. Daran zweifelte niemand. Nicht mal die beiden selbst. Und keiner unter den Mitstreitern. Wenn es auch Bedenken hätte geben müssen, gerade bei Friedhelm. Man nannte ihn auch den »TT«! Das bedeutete: »Tarnen und Täuschen«. Dieses Schlagwort hatte er in der Klasse eingeführt. Er meinte damit eine grundsätzliche Zurückhaltung und das Verschweigen der eigenen, eigentlichen Fähigkeiten!
Über seine Zukunft hatte er bereits feste Vorstellungen. Nie hatte er ernsthaft vorgehabt, sein weiteres Leben nun als Technischer Zeichner zu verbringen. Vielmehr dachte er an eine bequemere Tätigkeit, die neben einem geringeren persönlichen Einsatz auch mehr Gewinn einbrachte. Er hatte genug »malocht« und kaum »Moneten« übrigbehalten. Mir gegenüber hatte er seinen Plan entwickelt: in Gelsenkirchen wolle er einen handwerklichen Kundendienst aufziehen, der sich auf Haushalte verlegte. Hier sei eine große Lücke vorhanden, wies er mir nach. Es müßte nun so gehen, daß er ausschließlich am Telefon saß, die Anrufe entgegennahm und seine Mitarbeiter einteilte. Er versprach sich allen Ernstes Reichtümer aus diesem Geschäft. Wir wollten es nicht bezweifeln, bevor der Versuch gemacht war.
Er berichtete uns auch von seinen früheren Vorhaben. Aufgrund seiner Neigungen hatte er an eine Ausbildung als Heilpraktiker gedacht. Er erwähnte eine entsprechende Fachschule in München. In diesem Beruf eines Heilpraktikers, so meinte er, sei eine Menge »Moos« zu machen. Bei kleinem körperlichem und geistigem Aufwand. Eigenkapital sei nicht erforderlich. Auf diese Seite seiner Unternehmungen mußte er besonders achten. Später gewöhnte man sich an seine Aussetzungen, unterstellte ihm sogar Miesmacherei; aber dies auch nur aus Furcht, daß an seinen Allerweltszweifeln doch etwas Wahres sein könnte. Als die Papiere vorlagen und man die Wahrheit schwarz auf weiß sah, war Friedhelms Hellseherei schon vergessen. Er selber schwamm in der allgemeinen Aufbruchstimmung. Ganz sicher würde ihm nur das Extralied in der Bierzeitung sein, mit der jeder Lehrgang das Werk verließ ...