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Ankunft in ... oder Genosse Andermann

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Bis zum Abend waren wir zu dritt auf dem Zimmer. Drei westdeutsche Bürger: Männer, Burschen im Alter von 24 bis 30 Jahren. Der Lange aus Braunschweig war zuerst da. Er lag im Bett, als ich hereinkam. Er habe Durchfall und fühle sich schwach auf den Beinen, erzählte er. Er sei schon heute morgen eingetroffen. Aber nicht aus Braunschweig. Er habe eine Studienreise durch die DDR hinter sich, und das hier war seine letzte Station. Doch es sei nicht das erste Mal, daß er hier in diesem Land sei.

Ich hatte sofort das Gefühl, daß er diese Einladungen persönlich brauchte. Damit hielt er sich wirtschaftlich über Wasser. Und er berichtete dann auch freimütig, daß er auf dem Bau gearbeitet habe. Von Beruf sei er Kaufmann, 30 Jahre alt und geschieden. Die Frau lebe mit einem oder zwei Kindern – ich habe nicht so genau hingehört – irgendwo in der Bundesrepublik. Aufgrund seiner politischen Einstellung sei die Ehe auseinandergegangen. Auch auf der Baustelle gab es Schwierigkeiten, so daß er immer öfters den Arbeitsplatz zu wechseln gezwungen gewesen sei. Zur Zeit sei er arbeitslos und bezöge Unterstützung, er sowie seine Familie. Ich zweifelte, schluckte meinen Zweifel aber hinunter. Dafür kannten wir uns noch zu wenig, hatten uns eben erst gefunden. Gerade an seiner »politischen Einstellung« zweifelte ich. Sie war mir zu durchsichtig. Gewiß fühlte ich mich wenig berufen zu einem Gesinnungsschnüffler. Aber wenn jemand diese Grenze in Deutschland überschritt, dann war er nicht auf der Flucht vor seiner Hausschaft. Sondern er hatte sie gerade in einen Bezug zu dem Ganzen gesetzt. Wir glaubten ihm nicht einmal den Arbeiter – er war so lang wie dürr, seine Arme wirkten hohl und kraftlos –, aber er vermochte uns auch keinen denkbaren Widerpart vorzuführen. Er war arbeitslos. An ihm konnten wir die Ernsthaftigkeit unserer eigenen Reise prüfen. Seine Lauheit und die Unverbindlichkeit, mit der er die Förderung über sich ergehen ließ, stachelte uns dazu an. Genosse Andermann – Siegfried-Heinrich, der Niedersachse – war bestimmt kein Löwe. Und schon gar kein Sieger.

Zu uns stieß der Jüngste: Josef oder kurz Sepp, der Bayer. Er brachte uns durch seine bloße Erscheinung zum Lachen. Er war vielleicht noch dünner als Siegfried-Heinrich und einen Kopf kleiner als er. Ich stand dazwischen. Diese zehn oder elf Tage wollte er sich aus einem Koffer mit dem Ausmaß einer Brottasche versorgen. Alle waren wir gleich beim Du. Siegfried-Heinrich lag auf einem Einzellager neben der Tür ausgestreckt. Unterm Fenster, bis zur Mitte des Raumes reichend, war ein Doppelbett aufgebaut; eine Hälfte davon nahm ich in Beschlag, so daß für den Bayern nur die andere übrigblieb. Sepp stellte sich uns kurz vor. Er war Mitglied der DFU (Deutsche Friedens-Union), Ostermarschierer. Und im Gewerkschaftseinsatz. Von Beruf Maschinenschlosser.

Wie ich, war er zum erstenmal in der DDR. An der Grenze hatte er Schwierigkeiten. Er erwähnte es und schimpfte darauf. Er hatte im Westen Geld umgetauscht, und es war bei ihm entdeckt worden. Man hatte es ihm abgenommen. Doch sie fanden nicht alles. In den Schuhen hatte er noch ein paar Scheine versteckt. Er erzählte uns diese Dinge offen. Wir fühlten mit ihm. Hier vereinte uns zwar eine gemeinsam angenommene Auffassung; aber darüber hinaus hatten wir mit unserem Pfund zu wuchern – gerade auch hier im Staat der Arbeiter und Bauern. Die neue Ordnung legten wir nach unserem Nutzen aus. Wir hatten uns nie gefragt, ob es zufällig war, daß wir, westdeutsche Bürger, auf einem Zimmer beieinander lagen. Aber wir hätten die Erklärung leicht selbst finden können: es handelte sich bei uns um ledige, freie Männer, die in die allgemeine Familienbesatzung eingeschoben werden mußten. Unser Dasein hatten wir unserem Familienstand zu verdanken. Zum erstenmal dachte ich an Heinz und an seine Mitsprecher. Sie hatten das meiste gewußt, bis auf die Sonderbehandlung für Bundesbürger. Die gab es nicht. Wenigstens an diesem Ort nicht. Wir erhielten Plätze angewiesen im Speisesaal wie die Bürger der DDR, und auf unsere Essensmarken wurden die gleichen Kartoffeln und das gleiche Fleisch herausgegeben. Ich saß am Tisch mit einem sächsischen Ehepaar und seiner kleinen Tochter. Sepp war zwischen die Stühle einer westdeutschen Sippe geklemmt. Mit einer Kopfverrenkung konnten wir uns erkennen. In Gesprächen an den ersten Tagen konnten wir unsere besondere Verbundenheit in dieser Umgebung herausstellen: mir hing meine ostdeutsche Familie am Tisch genauso zum Halse heraus wie Josef dem Bayern seine westdeutschen – sogar bayrischen – Landsleute! Der Essenszwang für die Kinder, die Spaziergangsverweigerungen und Schlafensprobleme nach den Mahlzeiten eines Sipplings waren austauschbar zwischen hüben und drüben.

Dies alles war so bieder und mit westdeutschen Verhältnissen so zum Verwechseln geraten, daß ich mich für meine Gewährsmänner an der Schule in Heidelberg schämte. Wenn sie wirklich daran geglaubt hatten, was sie mir über diesen Teil Deutschlands erzählten, so mußten sie es zu ihrem eigenen Trost gesagt haben: irgend etwas mußten sie damit in ihrer Gegenwart ausgleichen: einen Nachteil, eine Unzufriedenheit, einen Zustand, der mit ihren ursprünglichen Vorstellungen vom Land ihrer Freiheit nicht zu vereinbaren war. Hier hatte sich eine beängstigende Gemeinsamkeit bewährt, mit der auch noch in tausend Jahren zu rechnen sein würde.

Gegen das Essen selbst war nichts einzuwenden. Mochte es auch hier und da weniger schmackhaft gewesen sein: es war immer ausreichend davon vorhanden. Auf dem Frühstücksteller haftete ein Stern »echter Butter«; die Wecken waren mit halbweißem Mehl gebacken. Es gab Marmelade und sonntags ein Ei. Aber wegen solcher Versorgungsverhältnisse wären wir aus diesem Land weder geflohen, noch hätten wir uns dahinein gerettet. In gelobteren Ländern ernährte sich mancher »freie« Bürger kümmerlicher. Von Politik also und vom Versuch, uns für dieses System einzunehmen, war das alles noch sehr weit entfernt. Ich hätte meinen Kameraden in Heidelberg diese Nähe gewünscht. Doch vielleicht schlagen einen gerade solche alltäglichen Aufdringlichkeiten in die Flucht.

Siegfried-Heinrich war für die erste Zeit auf Schonkost gesetzt. Sepp und ich hielten uns immer mehr ans Bier. Hier entdeckten wir Bekanntes, wenn wir auch gerade dabei Anstände in bezug auf die Würze vorzubringen gehabt hätten. Aber mit der wachsenden Zahl der Gläser verlor sich dieser Wunsch. Unseren Durst stillten wir außerhalb des Hauses. Zunächst blieben Sepp und ich allein. Später begleitete uns Siegfried-Heinrich. Aber auch nach der Verdickung seines Stuhlgangs konnten wir ihn kaum als trinkfest bezeichnen. Er selbst wollte es auch gar nicht. Er war magenkrank. Wir blieben aber bis zum letzten Tag dieses Erholungsaufenthaltes zusammen.

Zulauf erhielt unsere Gruppe am dritten Tag aus Kamenz, dem Geburtsort Lessings, Kreisstadt im Bezirk Dresden, am Rande des Lausitzer Berglandes, 14 900 Einwohner; Tuch-, Glas-, Tonwaren-, Maschinenindustrie.

Manfred, so hieß der neue Kamerad, schilderte uns eingehend seine Heimat. Er zeigte uns Bilder seiner Verlobten. Er war Arbeiter und lernwillig dazu. Gegenwärtig war er Heizer bei der Reichsbahn. In einem Fernlehrgang, dessen Lektionen er mit sich führte und die er uns im einzelnen erklärte, wollte er sich zum Lokführer »qualifizieren«. Daß er dieses Ziel erreichen würde, daran zweifelten wir nicht. Oft zog er sich abends zum Studium in sein Zimmer zurück, während Sepp und ich mit ausgetrockneter Kehle ins Städtchen hinabstürmten. Gleichwohl war Manfred im Gegensatz zu Siegfried-Heinrich, zu dessen Geistes- und Körperverfassung die Halbheit gehörte, Vollmitglied unserer Gemeinschaft. Am Biertisch hatte er uns oft genug bewiesen, daß auf ihn das Unwort Kaffeesachse nicht zutraf! Wenn er auch diesem Getränk neben dem Alkohol noch reichlich – reichlicher als wir Süddeutschen – zusprach. Er war etwa so groß wie Sepp, aber viel stämmiger – fleischiger, nicht muskelstärker.

Josef bestand fast nur aus Haut und Knochen. Vielleicht mußte er deshalb ständig etwas in sich aufnehmen: flüssiges Brot nannte er es. Und da vertrug er eine Menge. Wir standen ihm jedoch wenig nach. Doch zurückgefunden in unser Heim haben wir jedesmal. Dabei meine ich vorwiegend uns drei: den Bayer-Sepp, Manfred den Sachsen und mich, Karl Simpel. Sauftouren ohne Siegfried-Heinrich oder Genosse Andermann, ein Name, den er irgendwie sogleich bekam und den er nie mehr los wurde. Mit ihm jedoch vier von der Nahtstelle deutscher Geschichte im Jahre 1961. Keiner von uns hatte doch mehr verloren als einen Arbeitsplatz, eine Freundin oder hier und da auch mal den Verstand. Aber niemals ein Land; niemals den Anteil an einem Land. So mußten wir auch nicht um Verlorenes trauern. Wir waren frei und bewegten uns in diesen übriggebliebenen Länderhälften so selbstverständlich, wie wohl nie jemand zuvor. Das könnte doch bedeuten: es hat Veränderungen gegeben in Europa – in Deutschland: aber wen gehen sie im Grunde an? Doch nicht uns, die wir Veränderungen immer am nötigsten haben.

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