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Die Begegnung

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»Willy, Willy!« Die Menge jubelt, als der hohe Gast von drüben auf den Balkon des Hotels »Erfurter Hof« tritt. »Willy, Willi!« möchten auch wir mit einstimmen, meine junge Frau Brigitte und ich, die wir die Szene am Fernseher verfolgen. Doch hätte unsere Begeisterung beiden Männern gelten müssen, Gast wie Gastgeber, dem Mann aus dem Osten wie aus dem Westen, dem Willy mit »y« und dem Willi mit »i«.

Schon seit dem frühen Morgen des 19. März 1970 geht es in allen Medien hierzulande um nichts anderes als um den ersten Besuch des Bundeskanzlers der Bundesrepublik Deutschland, Willy Brandt, in dem nun doch längst faktisch vorhandenen zweiten deutschen Staat. In Erfurt wird der frühere Regierende Bürgermeister von Berlin (West) und Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands vom Vorsitzenden des Ministerrats der Deutschen Demokratischen Republik, Willi Stoph, empfangen.

Brandt winkt verstohlen – ja, es ist der gleiche Mann, der noch nicht vor langer Zeit, wie die Mehrheit der Wähler, den Feind der Menschheit und besonders Deutschlands nur auf der anderen Seite sah – vielleicht bis dahin auch sehen mußte.

Und wieder schwillt der »Willy, Willy«-Chor drunten auf der Straße an. Das Volk mag nach Hunderten oder Tausenden zählen, und laß die Hälfte oder zwei Drittel davon Funktionäre, Polizisten und Staatssicherheitsdienstler sein: sie müssen sich freuen – andere dürfen sich freuen!

Schon weit im Vorfeld gab es natürlich in der ganzen Republik Diskussionen um Sinn und Zeitpunkt dieser deutschdeutschen Begegnung. Und es wird weiterhin Auseinandersetzungen geben, quer durch alle Parteien und Gesellschaftsschichten. Aber ich möchte mich nun nicht mehr daran beteiligen.

Fünf Jahre ist es jetzt her, daß ich zum vorläufig letzten Mal in das Land hinter Mauer und Stacheldraht gereist bin. Ja, damals hatte ich auch Erfurt besucht, die Stadt, die jetzt Schauplatz dieser bedeutsamen Begegnung ist. Damals wurde ich als Spinner und Kommunistenfreund verlacht und verdächtigt. Und jetzt? Keine Reisen mehr ... aber nicht deshalb, weil das Leben nicht ausreichen würde, »über eine Wiese zu gehen«, wie ein hiesiger, bedeutender Künstler gesagt haben soll, einer, der selbst öfters den Schritt über die Grenze tut und, trotz inniger Heimatverbundenheit, stets den Blick über den Horizont schweifen läßt.

Ich habe bis heute mehr als eine Wiese überquert – in verschiedenen Richtungen: im Frühjahr und im Herbst; im Heuet und zu der Zeit, in der auch ein Schäfer querfeldein seine Herde treiben darf.

Ja, vorläufig keine Reisen mehr; nicht mehr blindlings fort, nur fort! Sondern bleiben, anhalten, um zu sehen und zu hören, was sich da noch bewegt oder bewegt hat, mir gar bis hierher gefolgt ist.

Ja, ich höre und ich sehe, es ist etwas in Bewegung geraten. Vielleicht hat die Bewegung zu gleicher Zeit wie die meine und ohne mein Wissen neben mir her eingesetzt, ist insgeheim gar weitergegangen – in jedem Fall hätte ich richtig gehandelt, weil es an der Zeit war!

Und es bewegt sich weiter, weniger an mir vorbei als um mich her. Das Land bewegt sich. Die Bundesrepublik Deutschland – diese Westzonen proben den Aufstand gegen sich und ihre Halsstarrigkeit und Uneinsichtigkeit gegenüber der »Ostzone«, der Deutschen Demokratischen Republik. Man reist nun allgemein mehr in dieses Land. So ist es auch ein wenig mein Wunsch, wenn ich nun stehenbleibe, zu genießen, zu sehen, und zwar von einem ruhigen, gesicherten Standpunkt in meiner Heimat aus, daß meine Einzelunternehmungen, meine mehr oder weniger instinktmäßig ausgeführten Vorstöße in dieses jenseitige, »kommunistische« und »russische« Deutschland einen Sinn hatten. Ich war unter den ersten; ich habe mich vorgewagt. Sicher auch wie ein Suchender und Getriebener – getrieben von was nur? –, der danach verlangt, einmal an einem Ort ganz bleiben zu können. Und das ist jetzt wieder die Heimat. Das mußte ich aber erst draußen erfahren, und zwar wörtlich er-fahren!

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