Читать книгу Ethik - Wilhelm Vossenkuhl - Страница 17

Konflikte zwischen Sitte und Ethik

Оглавление

Ich möchte Ihnen jetzt ein Beispiel geben – zugegeben kein besonders schönes Beispiel. Ich glaube auch nicht, dass es da auch irgendwelche schönen Beispiele gäbe. Aber gut, das ist nun mal ein Beispiel und es ist nicht schön. Das Beispiel heißt „Frauenbeschneidung“.

Frauenbeschneidung, so könnte man sagen, ist eine sittliche Tatsache. Das ist sie in der Tat, eine sittliche Tatsache in einer ganzen Reihe von afrikanischen Gesellschaften. Übrigens nicht nur muslimische Gesellschaften, auch christliche. Auch in der christlichen, äthiopischen Gesellschaft gibt es diese Praxis.

„Frauenbeschneidung“ wird von Frauen an kleinen Mädchen vorgenommen. Die Genitalien werden meistens mit Scherben, Glas oder ähnlichen Instrumenten, die nicht hygienisch sind, beschnitten. Teile der Schamlippen werden entfernt. Diese Mädchen werden verstümmelt. Häufig überleben sie diesen Eingriff nicht.

Aber es geht nun nicht so sehr um diesen Eingriff selbst, sondern darum, was da eigentlich passiert. Was für eine sittliche Tatsache ist das und ist sie anerkennenswert? Zunächst einmal ist das eine sittliche Tatsache, die in Frage gestellt werden muss, obwohl – und das zeigen Umfragen – eine große Mehrheit der Frauen in diesen Gesellschaften sich für die „Frauenbeschneidung“ aussprechen, weil sie eine wesentliche Bedingung für die soziale Integration der Frauen in die Gesellschaft ist. Es handelt sich um Stammesgesellschaften, in denen Regeln gelten, die aus einer menschenrechtlichen Perspektive nur zum Teil anerkennenswert sind.

Das ist das Stichwort: Wir haben es hier mit einem Beispiel zu tun, das zwar eine sittliche Tatsache ist, aber in einem scharfen Konflikt, ja Widerspruch mit anderen sittlichen Tatsachen steht. Und zwar sittlichen Tatsachen, die weltweit Anerkennung finden und verdienen – nämlich die Menschenrechte. Auch das sind sittliche Tatsachen.

Wie sieht dieser Konflikt aus? Warum ist es überhaupt ein Konflikt?

Nun, was passiert denn bei der „Frauenbeschneidung“? Sie ist eine Verletzung des unableitbaren sittlichen Anspruchs auf körperliche Unversehrtheit. Man nennt das mit dem Fremdwort „Integrität der Person“. Die Integrität der Person wird verletzt, körperlich und auch seelisch.

Es gibt Frauen, die darüber in Büchern berichten und man sieht, wenn man diese Bücher liest, sehr genau, was mit der „seelischen Verletzung“ gemeint ist. Ich brauche nicht ins Detail zu gehen. Sie werden sich das durch eigene Lektüre selbst verschaffen können.

Es geht um die Verletzung der Integrität, also die Verletzung eines grundlegenden Anspruchs der Menschen. Wir dürfen nicht zulassen, dass Menschen körperlich und seelisch verletzt werden. Und da es sich um Kinder handelt, wiegt diese Art von Verletzung sogar doppelt schwer, denn diese Kinder sind nicht „einwilligungsfähig“. Sie sind nicht in der Lage, sich selbst zu bestimmen und zu sagen: Ich will das, ich kenne die Risiken und so fort.

All das, was man zumindest intellektuell für diese menschenverachtende Praxis als entlastend anführen könnte, scheidet also aus. Es ist ein Verstoß gegen die Menschenrechte. An diesem Beispiel sieht man sehr deutlich, was passieren kann, wenn es sittliche Grundlagen gibt, sittliche Tatsachen, die gegen andere Tatsachen verstoßen. Da brauchen wir die Ethik. Denn die Ethik gibt uns das Instrumentarium an die Hand, zu entscheiden: Was ist nun eine schützenswerte, sittliche Tatsache? Welche Tatsache gilt es zu bewahren und welche nicht?

Ethik

Подняться наверх