Читать книгу Enter. Die Wahrheit wird dich töten - Willem Asman - Страница 11
Kapitel 9
ОглавлениеGarf, jetzt,
unterwegs in Richtung Orlando, Florida,
Interstate 95
Garf parkt seinen Jeep auf dem Gelände von »Topper Heinrich’s Auto Part Emporium«, einer Autoverwertungsfirma an der Interstate. Hohe Stapel verrosteter Wracks umsäumen das Grundstück in langen Reihen.
Als er ausgestiegen ist, zieht er seinen Overall zurecht, während er die Überwachungskamera beäugt, die hoch oben an einem Fahnenmast befestigt ist. Noch immer so ein Billigteil mit niedriger Auflösung. Die meisten hängen hier sowieso nur zur Schau. Topper ist ein unverbesserlicher Knauser.
Garf läuft vorn um den Jeep herum und öffnet die Beifahrertür. Er beugt sich hinein, nimmt die Sandwiches vom Sitz und klemmt sie sich vorsichtig unter den linken Arm. Dann hebt er das Sixpack vom Fußraum auf. Er reckt sich, macht einen Schritt zurück und drückt die Tür mit seinem rechten Knie zu. Sein Rücken protestiert, als er auf einem Bein balanciert. Er bleibt mit dem rechten Schuh im umgeschlagenen linken Hosensaum seines Overalls hängen und verliert fast das Gleichgewicht.
Grinsend schaut er noch einmal zur Kamera hoch. Er hofft, dass sie nicht funktioniert, denn falls Topper sein ungeschicktes Manöver gesehen hat, würde Garf es zu hören bekommen.
»Es ist wahrscheinlich nichts«, sagt er laut und wartet darauf, dass die Rückenschmerzen nachlassen. Genau das hat Lou auch gesagt. Er hat sich vorgenommen, sie bald einmal zu besuchen. Um ihr von seinem Testament zu erzählen. Um ihr zu sagen, wie viel ihm ihr Anruf bedeutet hat. Dass sie ihn damit aus einem finsteren Winterschlaf der Trauer erweckt hat.
Er summt das Lied mit, das aus den Lautsprechern auf dem Gelände tönt und von den aufgetürmten Autowracks widerhallt. Country Classics auf WKIS FM, ohne kann Topper nicht leben.
Es ist wahrscheinlich nichts. Das könnte eine Textzeile von Willie Nelson sein.
Er freut sich wahnsinnig darauf, wieder einmal mit Topper ein Stündchen lang einfach nur über Autos zu quatschen. Und über Banker zu meckern oder über die neuste Schwachsinnsidee der Regierung, um der Wirtschaft auf die Beine zu helfen. Einfach dummes Zeug schwafeln, über früher, als noch alles besser war.
Während er, die Sandwiches links und das Bier rechts, zum Innenhof spaziert, sieht er sich die Nummernschilder der geparkten Autos an. Eine alte Gewohnheit. Toppers Kunden kommen von nah und fern. Für Oldtimerfans ist das Auto Part Emporium das reinste Paradies. Die verschiedenen Hallen und Schuppen, alle mit Wellblech verkleidet, sind bis unters Dach mit gebrauchten Autoteilen gefüllt. Toppers phänomenales Gedächtnis erledigt den Rest. Was man bei ihm nicht findet, findet man nirgendwo.
Garf wundert sich nicht weiter, dass er weder Topper noch sonst jemanden antrifft, denn der Golfcaddy, mit dem Garfs alter Freund seine Kunden über das große Gelände kutschiert, fehlt ebenfalls. Auch die weit geöffnete Schiebetür der großen Halle vor ihm beunruhigt Garf nicht weiter. Sein Bargeld hat Topper immer bei sich, in einer großen Geldbörse in der Gesäßtasche.
Garf beschließt, die Sandwiches und das Bier in Toppers Büro zu bringen, einen alten Wohntrailer, der in der großen Halle direkt hinter der Schiebetür steht. Dann will er sich ein wenig auf dem Platz umsehen, er war lange nicht hier.
Da hört er hinter sich ein Auto langsam heranfahren. Er macht einen Schritt zur Seite, um es vorbeizulassen, und dreht sich um.
Es ist ein verstaubter Chevrolet Camaro, Baujahr neunundsechzig, wenn Garf sich nicht irrt. Der klassische Sportwagen bleibt zwei Meter hinter ihm stehen.
Zwei uniformierte Polizisten starren ihn durch die Windschutzscheibe an. Sie sprechen nicht miteinander, sondern in das Mikro der Freisprechanlage an der Wagendecke. Durch das geöffnete Fenster des Beifahrers schlängelt sich Zigarettenrauch. Eine laute Stimme tönt aus dem Lautsprecher. Es hört sich an wie ein Lachen und ein Befehl zugleich. Garf kann zwar nicht verstehen, was die Stimme sagt, aber es klingt ungewöhnlich, zwar wie Englisch, doch mit einem leichten skandinavischen oder deutschen Akzent. Garf will sich die Stimme merken.
Er nickt zur Begrüßung und wendet sich wieder ab. Nach außen hin gelassen läuft er weiter.
Zwei State Trooper in Uniform, aber nicht in einer Funkstreife. Auffällig.
Haben sie Pause und wollen etwas kaufen? Basteln sie in ihrer Freizeit an Autos herum?
Seltsam. Ein wahrer Liebhaber würde so einen alten Camaro wienern, bis man sich drin spiegeln kann.
Garf analysiert das Gesehene. Er hat sie höchstens fünf Sekunden angeschaut, aber das reicht, um sich ein Bild zu machen. Er tut es, ohne darüber nachzudenken, kann einfach nicht anders.
Der Beifahrer: Knebelbart und breite Nase. Kurze schwarze Haare. Schlank, geradezu schmächtig. Rechts ein Ohrring. Weiß, schwarze Augenbrauen, südosteuropäischer Abstammung oder Eurasier. Raucht Filterzigaretten.
Der Fahrer: kleiner als der andere, untersetzt, muskulös, südeuropäische, möglicherweise slawische Züge, weiß, Pausbacken, spitze Nase, schmale Lippen. Blonde Haare, vielleicht gebleicht, denn seine Augenbrauen sind dunkler. Am linken Handgelenk trägt er eine goldene Uhr.
Beide tragen Ray-Bans. Garf schätzt die Männer auf etwa vierzig. Hat er den dunkelgrauen Camaro schon mal irgendwo gesehen?
Heute Morgen von seinem Schlafzimmerfenster aus? Das Kennzeichen aus Florida hat er in seinem Gedächtnis gespeichert. Es könnten Kollegen sein, Polizeibeamte. Die Vorschriften sind bei Weitem nicht mehr so streng wie zu seiner Zeit. Ohrringe und Knebelbärte sind heutzutage erlaubt. Trotzdem glaubt Garf nicht, dass es Polizisten sind.
Der Motor des Camaro wird ausgestellt. Garf hört, wie die Türen sich öffnen und wieder schließen. Die Männer sind ausgestiegen. Gerade hatten sie sich noch angeregt mit der deutsch-skandinavischen Stimme am Telefon unterhalten, doch offenbar haben sie das Gespräch abrupt beendet. Keine Begrüßung, auch keine Frage, etwa »Hey Mister, arbeiten Sie hier?« oder so was.
Bildet er es sich nur ein oder klingen die Schritte hinter ihm auf dem Schotter hastig? Es sind noch ungefähr vierzig Meter bis zum Eingang der Halle.
So gelassen wie möglich schaut Garf sich um. Er hat sich nicht geirrt. Die Männer kommen hinter ihm her. Er hat fünfzehn, vielleicht zwanzig Meter Vorsprung. Garf läuft schneller. Reflexartig greift er mit der rechten Hand nach dem Schulterholster. Die Bierflaschen klirren. Er flucht innerlich. Seine Neun-Millimeter liegt im Handschuhfach des Jeeps. Er hat keine anderen Waffen zur Verfügung als die Sandwiches, das Bier und das Handy in der linken Brusttasche seines Overalls.
Das Sixpack nach ihnen werfen? Zwecklos.
Er überlegt nicht mehr lange, lässt Sandwiches und Bier fallen und rennt los, im Zickzack zwischen Ölfässern und Autowracks hindurch in Richtung Halle. Garf weiß, dass Topper direkt hinter der Tür seines Bürotrailers immer einen Baseballknüppel stehen hat.
Aus den Lautsprechern erklingt Lost Highway von Hank Williams. Garf rennt in die Halle und hechtet direkt nach links, außer Sichtweite.
Eine Sekunde später steht er mit erhobenem Baseballschläger hinter der Tür des Büros. Verzweifelt versucht er, seine hektische Atmung unter Kontrolle zu bekommen.
Er horcht, ob er seine Verfolger hören kann, doch die Musik ist zu laut.
Fieberhaft überlegt er, welche Möglichkeiten er hat. Der Schläger ist nur von Nutzen, wenn er ausholen kann, und hier ist kaum Platz. Auf eine Eingebung hoffend schaut er sich um. In dem Aktenregal, an das er sich mit dem Rücken presst, sieht er Papiere, einen Stapel alte Zeitschriften, eine Schachtel mit Kerzen und ein Tetrapak Orangensaft. Kein Schraubenzieher, keine Schere, kein Brieföffner. Ein Briefbeschwerer, so ein Schneeteil, ist das Einzige, was in Betracht käme, ist aber in dieser Enge genauso unnütz wie der Baseballschläger.
Das Handy wiegt schwer in seiner linken Brusttasche. Wenn er es in die rechte Hand nähme, könnte er den Schläger nur noch mit der linken halten, was seine Schlagkraft beeinträchtigen würde.
Vorsichtig verlagert er sein Gewicht auf den linken Fuß, um durch die Tür zu spähen. Bevor er ins Büro rannte, um sich den Schläger zu packen, hatte er die Halle abgecheckt. Rasend schnell musste er entscheiden: Run or hide?
Instinktiv schnellte er hinter die Tür, weil er hoffte, die falschen Polizisten würden annehmen, er wäre weiter ins Innere der Halle gelaufen, um sich zwischen den Wrackteilen zu verstecken.
Einen Moment lang bedauert er die Entscheidung, die er in einem Sekundenbruchteil treffen musste. Was das Blickfeld angeht, hat er sich in eine unmögliche Position manövriert. Er steht direkt hinter einer dünnen Kassettentür, die ungefähr so viel Schutz bietet wie ein Stück Pappe.
In der Mitte des Büros steht Toppers mit Rechnungen und sonstigem Papierkram übersäter Schreibtisch und darauf, neben einem überquellenden Aschenbecher, das Radio. Garf folgt mit dem Blick der orangen Verlängerungsschnur. Falls es ihm gelingt, das Radio auszuschalten, weiß Topper, dass etwas nicht stimmt.
Da verläuft das Kabel, in diese Richtung an der Wand entlang. Es verschwindet links von Garf hinter einem Stapel Kartons.
In der kurzen Stille zwischen Hank Williams und einem Oldie von Loretta Lynn spitzt Garf die Ohren. Wo sind sie?
Auf alles gefasst umschließt er den Schläger noch fester mit beiden Händen und beugt die Knie so weit wie möglich. Nichts geschieht.
Die Zeit ist auf seiner Seite. Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand kommt, Topper oder ein Kunde, wächst mit jeder Sekunde. Das wissen auch die beiden Männer.
Das orange Kabel – falls es dasselbe ist – kommt hinter einem großen Schrank an der Rückwand links von ihm wieder zum Vorschein. Der Stecker ist an eine Mehrfachsteckdose mit Schalter an der Seite angeschlossen. Dreißig oder vierzig Zentimeter von Garfs linkem Fuß entfernt.
Langsam schiebt er den Fuß Richtung Schalter. Um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, spannt er alle Muskeln an. Unterdrückt ein Stöhnen. Himmel, sein Kreuz.
Er hebt den Fuß an und drückt mit der Schuhspitze auf den Schalter der Steckdose.
Plötzlich herrscht absolute Stille.
Langsam und so vorsichtig wie möglich zieht Garf den Fuß zurück.
Er verengt die Augen, während er all seine Sinne schärft. Er hört keinen Mucks. Jetzt bloß nicht in Panik geraten. Nicht seine Position verraten. Stillhalten. Topper wird kommen, er oder ein Kunde, und das wissen die Kerle da draußen auch. Sie werden abziehen, das ist doch logisch. Jetzt, wo es Garf gelungen ist, die Musik auszustellen, ganz bestimmt.
Das Handy in seiner linken Brusttasche surrt so laut und plötzlich, dass er zusammenschreckt. Unwillkürlich schlägt er mit dem Ende des Baseballschlägers gegen die Tür.
***
Seine Angreifer zögern keine Sekunde.