Читать книгу Enter. Die Wahrheit wird dich töten - Willem Asman - Страница 6
Kapitel 4
ОглавлениеTyler, jetzt,
zu Hause,
Buitenveldert, Amsterdam
Nach der SMS von Charlie aus London hat Tyler in der Nacht – trotz der Flasche Rotwein – kein Auge zugemacht. »Mom, ich sollte doch nichts tun, was du nicht auch tun würdest? Also habe ich einfach alles getan, was Papa getan hätte. Grüße von Mark, hab dich lieb.«
Tyler hat die Nachricht schon zwanzigmal gelesen und überlegt, was sie bedeuten könnte.
Der Hinweis auf Charlies Vater könnte natürlich völlig harmlos sein. Aber auch der Zeitpunkt, zu dem ihre Tochter die SMS verschickt hat, kurz nach ein Uhr morgens mitteleuropäischer Zeit, hat Tyler den Schlaf geraubt. Nach langem Überlegen hat sie geantwortet: »Viel Spaß, mein Schatz, und grüß Mark herzlich zurück. Lass es nicht so spät werden, okay? Lieb dich.« Worauf sie schlaflos liegen blieb, während sie einerseits auf eine beruhigende Antwort hoffte und sich andererseits fragte, ob sie Charlie nicht zu sehr bemutterte.
Früh am nächsten Morgen ruft sie in der mittelgroßen Modelagentur an, für die sie arbeitet, um sich krankzumelden: Sie fühle sich nicht gut, habe gestern Abend vielleicht etwas Falsches gegessen.
Nach elf hält sie es nicht länger im Bett aus. Alle zehn Minuten aufs Handy zu starren, um zu sehen, ob Charlie sich gemeldet hat, bringt auch nichts. Sie überlegt, Mark zu fragen, ob alles in Ordnung ist. Mark, Sohn eines schottischen Diplomaten und Charlies Schulkamerad auf der International School. Charlie hasst es, wenn Tyler Mark ihren »Lover« nennt.
Gegen Trübsinn und Selbstvorwürfe ankämpfend zieht Tyler sich an: ärmelloses Top, abgeschnittene Jeans und ihre Timberlands. Die blonden Haare bindet sie zu einem Pferdeschwanz zusammen. Sie geht raus in den Garten. An die Arbeit; sie muss etwas tun, um sich abzulenken.
Mit einem Spaten aus dem Schuppen gräbt sie die Stelle um, wo schon vor Monaten ihr Gemüsegarten entstehen sollte. Eine Aktivität, die plötzlich keine Sekunde Aufschub mehr duldet. Natürlich unsinnig, dass sie das selbst tut. Sie hätte einen Gärtner anrufen sollen.
Wütend hackt sie auf die Wurzeln ein, bis sie mit einem Schrei voller Widerwillen und Selbstmitleid den Spaten hinwirft.
Die Hände auf den Hüften begutachtet sie keuchend die Fortschritte, die sie gemacht hat.
Verdammte Wurzeln, nicht kleinzukriegen.
Garf würde irgendeinen philosophischen Kommentar dazu abgeben, etwa: »Wurzeln sind zäh. Man sieht sie vielleicht nicht und sie sind auch nicht wirklich schön, aber sie sind da. Ohne Wurzeln kein Leben.«
Dann würde er Tyler fragen, ob sie sicher sei, dass der Gemüsegarten ausgerechnet an diese Stelle muss, zu Füßen der Eibe neben dem Schuppen.
Sie lächelt grimmig in sich hinein.
Wurzeln, verdammt, was bringen die schon, außer Probleme? Wenn sie ohne leben kann, dann kann Charlie das auch.
Als sie sich umdreht, sieht sie etwas aus dem Augenwinkel. Ist es Ted, der Nachbarsjunge, im offenen Fenster seiner Dachkammer? Im Gegenlicht der Sonne hat sie Mühe, etwas zu erkennen. Als sie die Augen mit der Hand abschirmt, sieht sie nur noch die Bewegung der Vorhänge. Unwillkürlich schaudert sie. Hat der kleine Widerling sie etwa begafft? Scheiße, Charlie sonnt sich hier oben ohne.
Sie geht wieder rein, schließt die Hintertür ab und klemmt den Papierstreifen ein. Wieder hat sie das Gefühl, dass jemand im Haus war. Es ist ein unentrinnbarer Teufelskreis, wie sie aus Lehrbüchern weiß: Man erleidet einen emotionalen Schaden, wird achtsamer und deshalb ängstlicher.
Als sie oben an Charlies Schlafzimmertür vorbeikommt, fällt ihr ein Gesprächsfetzen ein.
Charlie, empört: »Hast du mein Tagebuch gelesen?«
Tyler, sich keiner Schuld bewusst: »Dein Tagebuch? Ich wusste nicht mal, dass du eins hast.«
Charlie fünfzehn, der Nachbarsjunge achtzehn … Welche Mutter würde da nicht ein bisschen rumschnüffeln, wenn sie bemerkt, wie viel Aufmerksamkeit ihre Tochter auf sich zieht? Die größten Lügner sind zugleich die misstrauischsten Menschen, wie Tyler sich nicht zum ersten Mal gewahr wird.
Sie betritt ihr eigenes Schlafzimmer. Bevor sie die Vorhänge zuzieht, wirft sie noch einen Blick in ihren Garten und die Gärten der Nachbarn. Dann nimmt sie den Freemantle von der Wand.
Sie gibt auf dem Ziffernblock die Kennzahl ein und drückt ENTER. Die schwere Safetür öffnet sich mit einem Klicken. Tyler holt den großen braunen Umschlag mit den Reisepässen und Kreditkarten, dem Bargeld, dem Handy und der Notfallnummer heraus, den sie vor langer Zeit von Garf, ihrem »Guardian«, bekommen hat. Den Umschlag, der für alle Fälle bereitliegt.
Nach kurzem Zögern holt sie auch den Ordner mit den Zeitungsausschnitten heraus, die sie aufbewahrt hat. Was gegen Garfs Regeln verstößt, doch sie wusste, dass der Zeitpunkt kommen würde, an dem Charlie Fragen stellen würde. Der richtige Zeitpunkt, nicht zu früh und nicht zu spät. Und dann würde Tyler ihrer Tochter die Wahrheit über ihre Vergangenheit erzählen. Und über ihren Vater.
Oft stellte Tyler sich vor, wie sie es Charlie erklären würde … ruhig, überlegt. Und wie Charlie es verstehen würde. Aber wenn sie ehrlich mit sich ist, ist diese Hoffnung inzwischen dahin. Den richtigen Zeitpunkt, falls es ihn je gab, hat sie verpasst. Oder besser gesagt: Charlie hat früher als erwartet die Geduld verloren.
Wie alt war Charlie, als ihre Gespräche über die Vergangenheit jedes Mal Anlass für einen Riesenstreit boten? Tyler weiß es nicht mehr genau. Aber Tatsache ist, dass Charlies Fragen immer eindringlicher wurden: Wo genau war das Feuer ausgebrochen, bei dem Papa und Buster ums Leben kamen? Und wo waren wir an jenem Neujahrstag? Hat man die Einbrecher jemals gefasst? Wieso ist das Foto von Buster, das an der Treppe hängt, nicht verbrannt? Wo liegt Papa begraben? Wo genau haben wir früher gewohnt? Und warum können wir da nicht mal hin? Warum habe ich keine Großeltern? Und besonders herausfordernd: Ähnele ich mehr Papa oder dir?
Die Augen hat sie auf jeden Fall von ihrem Vater. Dunkelbraun, ihr Blick allerliebst und vertrauenerweckend. Und unter all dem unwiderstehlichen Charme ein schwelender Vulkan, der jederzeit ausbrechen kann.
Seit Charlies Pubertätshormone wüten, ist sie, wie Tyler zu ihrem Bedauern feststellt, hinterhältiger und durchtriebener geworden.
Doch Garfs Regel gehorchend blieb Tyler bei der Geschichte, die sie, wie es schien, schon tausendmal erzählt hatte … den Nachbarn, ihren Kollegen und neugierigen Kunden. Sie hatte das Märchen schon so oft heruntergeleiert, dass man meinen könnte, durch die ständige Wiederholung würde es schließlich besonders überzeugend wirken.
Doch Charlie wurde älter, und sie war nicht dumm. Sie gab sich nicht mehr mit Tylers Ausflüchten zufrieden. Fragte immer weiter, lag ihr ständig in den Ohren, verlangte Antworten. Und Tyler musste sich eingestehen, dass sie immer defensiver wurde und sich in ihren halbgaren Geschichten verstrickte. Sie konnte sich keine Achtlosigkeit mehr erlauben.
Später, dachte Tyler immer. Später ist früh genug. Sie hatte alle Zeit der Welt. Charlie ist noch so jung. Sie muss es noch nicht erfahren. Später, wenn sie die Pubertät hinter sich hat. Später, wenn Tyler beschlossen hat, was sie mit den ganzen Zeitungsausschnitten in dem Ordner tun will, und mit dem Foto von dem Tag auf dem Spielplatz, die Millers in glücklicheren Zeiten, kurz bevor ihre Welt zusammenbrach.
Manchmal denkt sie, sie hätte es nie so weit kommen lassen dürfen. Hätte die Ausschnitte und Fotos vernichten müssen. Sie war schon oft kurz davor, öfter, als ihr lieb ist, konnte sich aber nie dazu überwinden. Denn damit würde sie die Lügen bekräftigen, verewigen, Charlie für immer die Chance nehmen, die Wahrheit zu erfahren.
Dann wieder gibt es Momente, in denen sie überzeugt ist, dass sie den Ordner nicht so sehr für Charlie, sondern vor allem für sich selbst aufbewahrt. Als Beweis dafür, dass dies alles wirklich geschehen ist. Als Warnung und zugleich als Strafe für ihre damalige Dummheit und Naivität.
Wie schön wäre es doch, keine Geheimnisse mehr zu haben.
Doch sie brauchte mehr Zeit. Schlaf noch einmal drüber, sagte sie sich immer wieder. Kommt Zeit, kommt Rat. Mit diesem Mantra hatte sie sich selbst eingelullt, sich weisgemacht, dass später immer noch früh genug wäre. Wie in Gottes Namen hätte sie diesen Grabenkrieg zwischen Mutter und Tochter nur verhindern sollen?
Vor ein paar Wochen wurde es Tyler zu viel. Sie hatte einen Tiefpunkt erreicht. Sie kam spät nach Hause, in Gedanken noch bei dem Stress im Büro, als Charlie sie in kämpferischer Höchstform erwartete. »Was soll ich denn sagen?«, hatte sie, mit ihrem Latein am Ende, ihre Tochter angeschrien. »Dein Vater ist tot. Meiner auch und meine Mutter genauso. Willst du mit mir tauschen?«
Großer Gott, wie sehr sie das bereute. Sie schlug die Hand vor den Mund, als könnte sie damit die harten Worte zurücknehmen.
»Was bist du für eine verdammte Scheißmutter«, rief Charlie, während sie die Treppe hochrannte.
Tyler rief ihr noch nach: »Es tut mir leid. Das hätte ich nicht sagen dürfen, Liebling.« Aber der Schaden war schon angerichtet. Und die Episode endete, wie so oft, mit Charlies zugeschlagener Tür.
Aber in den letzten Wochen schien wieder Frieden eingekehrt zu sein. Ein vorübergehender Frieden, wie Tyler wusste, oder sie musste sich schon sehr in ihrer Tochter irren. Das Thema hing wie eine Gewitterwolke über ihnen. Es war wie ein Waffenstillstand, an den niemand glaubt und den beide Parteien dazu nutzen, sich auf neue Feuergefechte vorzubereiten.
Sie musste den Knoten irgendwann durchtrennen. Aber wie sollte sie es Charlie erzählen? Wo sollte sie anfangen? Bei den Hühnern? Bei dem, was sie an dem Abend in der Lagerhalle gesehen hatte? Bei der wahren Geschichte von Busters Tod? Die Folgen waren kaum abzusehen, aber auf jeden Fall wären sie weitreichend, nicht rückgängig zu machen und lebensbedrohlich.
»Liebling, ich habe das alles für dich getan«, würde sie sagen. Würde Charlie das verstehen und Tyler all ihre Lügen vergeben? Großer Gott, wenn sie nur daran dachte.
Charlie wollte die Wahrheit erfahren. Aber konnte sie die Wahrheit auch ertragen?
***
Wieder schläft Tyler unruhig, wieder nach zu viel Wein. Draußen grinst zwischen dahinjagenden Wolken der Mond. Im Garten tanzen Schatten und zeigen das unbeabsichtigte Resultat ihrer morgendlichen Gartenarbeiten. Die Vertiefung hat die Form eines flachen Grabs.