Читать книгу Enter. Die Wahrheit wird dich töten - Willem Asman - Страница 9
Kapitel 7
ОглавлениеOz, jetzt,
zu Hause,
Diemen, Amsterdam
Oz ruft die Zentrale an und wartet auf die automatische Ansage. Er gibt den Code ein und unterbricht die Verbindung. Oben zieht er seine Sportkleidung an, fest entschlossen, joggen zu gehen. Eine alte Gewohnheit – um seine Gedanken zu ordnen, um Abstand zu gewinnen. Doch als er wieder unten ist, zögert er.
Früher konnte man nach Garf die Uhr stellen. Er rief immer genau eine Stunde nach der Meldung an. Aber seit seine Frau gestorben ist, ruft er oft unvermittelt früher zurück, als wollte er es schnell hinter sich bringen. Oder später, als hätte er gerade etwas Besseres zu tun gehabt.
Oz klappt seinen Laptop auf und öffnet den Browser. Um die Zeit totzuschlagen, surft er durch die Nachrichten-Websites. Suche nach Vermissten nach einem Fährunglück vor der Küste Ghanas. Zug in Bangladesch entgleist. Ein Flugzeugabsturz in den Anden, im Bild zwischen den Wrackteilen Koffer, Reisepässe und Kuscheltiere. In Neuseeland wird ein Backpacker-Ehepaar vermisst. Ein Hollywoodstarlet mit Drogenproblemen ist in einer Privatklinik gestorben, Begräbnis in kleinem Kreis, Familie verzichtet auf Obduktion.
Nachrichten sind nicht mehr das, was sie mal waren, seit es REBOUND gibt. Alles kann eine Operation sein.
Oz will nicht an Alexander Harris, den angeblichen Headhunter, denken. Auch nicht an den Banker Ubbink und dessen Verweis auf Hillis. Oder daran, was es für ihn bedeuten würde, wenn Garf bei REBOUND aufhört.
Was würde er dann tun? Als verlorener Sohn nach Tel Aviv zurückkehren? Mit eingekniffenem Schwanz zurück zum Mossad?
Wird er Garf fragen, wie’s ihm geht? Auf gar keinen Fall. Zuerst einmal ist da die Hierarchie. Garf hat Oz rekrutiert, ist sein Vorgesetzter und Mentor. Es wäre unangemessen, auf sein eventuelles Ausscheiden anzuspielen, besonders jetzt, wo er so tief trauert. Außerdem erhält man beim »Spiel«, wie sie es nennen, mitunter Antworten, die man nicht hören will.
»Weiß deine Frau Bescheid?«, fragte er Garf einmal. Das war bei einem Treffen in New York, in einem Hotelzimmer auf der Upper East Side, kurz vor Oz’ erster jährlicher Beurteilung, bei der Garf sich sehr zufrieden zeigte und ihn ein Naturtalent nannte.
Oz teilte Garfs Ansicht. Die Arbeit war wie für ihn geschaffen. Keine Politik, ein Vorgesetzter, der geradeheraus war, und eine klar definierte Aufgabe mit eindeutigen Verantwortlichkeiten und Befugnissen. Nach der Schlangengrube des Mossad war es ein Vergnügen, für Garf zu arbeiten.
Aufgrund ihres guten Verhältnisses hatte er Garf von Josie erzählt, als die Verabredungen mit ihr häufiger wurden. Beim Mossad hätte er alles getan, um seine Beziehung zu verheimlichen.
Falls Garf Fragen hatte – Was macht sie? Wo habt ihr euch kennengelernt? Wer hat den Anfang gemacht? –, behielt er sie für sich. Aber Oz wäre darauf vorbereitet gewesen. Später kam ihm der Gedanke, dass Garf wahrscheinlich schon alles gewusst hatte und Oz die Gelegenheit geben wollte, es ihm aus freien Stücken zu erzählen.
Garf nahm sich Zeit, erwog offenbar seine Antwort. Das allein sagte schon genug.
»Ich hoffe, die Frage macht dir nichts aus«, sagte Oz, als das Schweigen andauerte. Er wusste es zu schätzen, dass Garf nicht versuchte, das Thema zu wechseln oder der Frage mit einem nichtssagenden Gemeinplatz zu begegnen. Aber vielleicht war er zu weit gegangen.
»Cath weiß alles«, sagte Garf schließlich. »Frauen kriegen so was einfach mit, Oz. Ich weiß auch nicht, wie. Sie sind wie Lügendetektoren. Außerdem bin ich zu alt, um zu Hause Spielchen zu spielen.«
»Würdest du mir dazu raten, es Josie auch zu erzählen?«
Diesmal brauchte Garf keine Bedenkzeit: »Nein. Ich weiß, ich habe Glück gehabt. Aber tut mir leid, Oz, die Verantwortung liegt bei dir. Ich stecke nicht in deinen Schuhen und du nicht in meinen. Ich weiß nur, dass es die Regeln nicht umsonst gibt. Sie beschützen unsere Klienten, aber auch uns selbst. Und vor allem beschützen sie die, die wir lieben. Was sie nicht wissen, kann ihnen auch nicht schaden.«
»Einen Menschen, den man liebt, ein Leben lang anlügen, um ihn zu beschützen?«, fragte Oz. Das hätte von seinem Vater stammen können. Liebe als bestes Motiv für Verrat. »Ist bei REBOUND bekannt, dass Catherine Bescheid weiß?«
»Nein«, antwortete Garf, wieder ohne zu zögern.
Oz war sich bewusst, welches Risiko Garf damit einging, seinem Untergebenen diesen schwerwiegenden Regelverstoß zu beichten. Er betrachtete es damals als großen Vertrauensbeweis.
Zugleich wurde ihm bewusst, dass Garfs Geständnis auch ein Test sein könnte, ob Oz die Sache melden würde.
Es stimmte, was Garf ihm schon so oft gesagt hatte: Du musst dich entscheiden. Du kannst nicht immer alle Folgen absehen. Es gibt bei dieser Arbeit nie absolute Gewissheit.
Zurück in den Niederlanden unternahm Oz noch einen letzten Versuch, Josie von der unseligen Idee abzubringen, zusammenzuziehen.
»Wieso zu schnell? Du liebst mich, und ich liebe dich«, war ihre Antwort. »Wo ist das Problem?«
»Du kennst mich nicht.«
»Was muss ich denn noch über dich wissen?«
»Immer, wenn etwas zu gut läuft, mache ich es kaputt.«
Als sie seinen ernsten Blick sah, fragte sie: »Wovon redest du, Liebling? Was hast du denn kaputt gemacht?« Und als er ihr die Antwort schuldig blieb, sagte sie laut denkend: »Was ist denn Schlimmes passiert, dass du nicht darüber reden willst? Aber warum solltest du darüber reden wollen, wenn es so schlimm war? Vielleicht ist es besser, es auf sich beruhen zu lassen.«
Typisch Josie: Was vorbei ist, ist vorbei, nur das Jetzt zählt. Das ist ihre Lebensphilosophie. Schau mal, die Sonne scheint. Und wenn es anfängt zu regnen, ziehen wir Regenjacken und Gummistiefel an und stampfen in den Pfützen herum. Oder wir machen es einfach ohne Regenkleidung, dann werden wir schön nass. Auch gut.
Als sie die Zwillinge erwartete, gab Oz ihr seine Dienstnummer, nur für den Notfall. Garf sagte er nichts davon, und so war der erste Vertrauensbruch seinem Chef und Freund gegenüber ironischerweise eine direkte Folge von Garfs Offenheit damals in dem Hotelzimmer in Manhattan.
Das Telefon klingelt. Oz schaut auf die Uhr. Wie er sich schon dachte, nicht genau eine Stunde nach der Meldung, sondern dreiundvierzig Minuten.
Er geht ran und hört die vertraute automatische Ansage, die ihn um Geduld bittet. Gleichmütig wartet er, bis die Scrambler irgendwo im Netzwerk mit der Verschlüsselung beginnen und die Verbindung auf beiden Seiten des Atlantiks freigeben.
»Oz. Alles klar?«
»Alles klar, Boss.«
»Schön. Was kann ich für dich tun?«
Die Begrüßung unverändert, ihre übliche Routine, der Austausch von Höflichkeiten knapp und sachlich. Aber Garfs Stimme hört sich anders an. Er atmet keuchend. Oz hat ihn noch nie mit einer Zigarette gesehen, aber er hört sich an wie ein alter Kettenraucher.
Oz fragt Garf, ob ihm der Name Alexander Harris etwas sagt.
»Harris?«, fragt Garf nach.
»Alexander Harris.«
»Kenne ich nicht. Warum?«
»Ein Headhunter.«
»Ach, kommt uns das nicht irgendwie bekannt vor?«
»Er ist hinter mir her, will mir ein Angebot machen. Sagt, er hat meine Nummer von einem gemeinsamen Freund.«
»Von mir nicht«, sagt Garf.
»Von einem gemeinsamen Freund in Stockholm.«
»Stockholm …«, überlegt Garf. »Kennst du da jemanden?«
»Nicht, dass ich wüsste«, antwortet Oz. Er glaubt Garf aufs Wort, muss ihm glauben. Alles kann ein Test sein, aber falls Garf etwas wüsste, würde er es Oz nicht verheimlichen. »Also, was soll ich tun? Ihn anrufen und so tun, als wäre ich interessiert? Versuchen, mehr herauszubekommen?«
»Was du auch unternimmst, du solltest mir auf jeden Fall Bericht erstatten«, mahnt Garf. »Halte dich an die Regeln.«
»Das kann jedenfalls kein Zufall sein«, sagt Oz. Dann erzählt er Garf von seinem Treffen mit Ubbink und dessen Forderung, mit Stanley Hillis zu sprechen.
»Stanley Hillis?«, fragt Garf. »Hilf mir doch mal auf die Sprünge.«
»Unterweltboss. Wurde 2011 ermordet. Ich hatte ein paar Wochen zuvor noch mit ihm gesprochen.«
Er erzählt Garf alles, was er weiß. Stanley Hillis, genannt »Der Alte«, war einst der mächtigste Mann der niederländischen Unterwelt. Jemand, der alles wusste, alles konnte. Sogar der berüchtigte Willem Holleeder hatte Respekt vor ihm. Hillis war eine Legende und brach mehrmals aus dem Gefängnis aus. Es hieß damals, der Alte könne »eine ganze Armee von Jugoslawen« mobilmachen. Als er in seinem Auto vor einem Sportplatz in Watergraafsmeer auf jemanden wartete, mit dem er verabredet war, wurde er erschossen. In unmittelbarer Nähe saßen zwei Kriminalbeamte versteckt in einem Anhänger, um das Treffen abzuhören. Trotzdem wurden die Täter nie gefasst. Bei der Obduktion fand man in Hillis’ Leiche siebenunddreißig Kugeln.
»Und jetzt glaubt dein Banker, dass wir Hillis haben?«, fragt Garf.
»Er ist sogar fest davon überzeugt«, sagt Oz. »Müssen wir uns Sorgen machen?«
»Oz, du weißt doch, wie das ist. Sie hören von uns, denken nach und dann geht die Fantasie mit ihnen durch.«
»Elvis lebt.«
»Zum Beispiel. Das hat nichts zu bedeuten. Oder glaubst du, es gibt eine undichte Stelle?«
»Nein«, sagt Oz, eher aus Aberglauben als aus Überzeugung. Allein das Gerücht könnte eine Sicherheitsorganisation wie ihre jahrelang lahmlegen.
»Wie ist der Banker denn auf uns gekommen?«, fragt Garf.
»›Der Freund eines Freundes …‹«, sagt Oz.
»Das sind die besten«, bemerkt Garf.
»Ob sie nun in Stockholm wohnen oder nicht«, sagt Oz.
Garfs Lachen klingt gezwungen.
»Mit seinem Anwalt hatten wir schon mal zu tun«, sagt Oz.
»Dann wird der es wohl sein.«
»Okay«, sagt Oz. »Man könnte sagen, es gibt in meinem Umfeld jede Menge Freunde und Freundesfreunde.«
»Soll ich wegen diesem Harris irgendwas unternehmen?«
»Nein«, sagt Oz.
»Und du willst ihn auch nicht anrufen? Herausfinden, was er genau will?«
»Du meinst, für den Fall, dass er die Wahrheit sagt?«, fragt Oz.
»Mit ihm zu reden kann doch nicht schaden, oder?«
»Fragst du mich gerade, ob ich den Job wechseln will?«
»Man sollte niemals eine Frage stellen, wenn man die Antwort nicht hören will.« Garf lässt ein müdes Lachen vernehmen. »Also, was hast du mit dem Banker vor?«
»Ich bin mir nicht sicher«, sagt Oz.
»Du hast ihn doch getroffen. Seine Backstory?«
»Die übliche Geschichte. Zu viel Geld, zu früh zu viel Erfolg und zu viele falsche Freunde. Die Staatsanwaltschaft gibt vor, an einem Deal interessiert zu sein.«
»Verheiratet? Kinder?«
»Verheiratet«, sagt Oz. »Sie haben einen Sohn von sechs Jahren und einen Säugling.«
»Und Papa hat unterschrieben?«
»Vielleicht etwas zu schnell.«
»Nach dem Speech?«
»Ja.«
»Es ist seine Entscheidung, Oz, nicht deine. Unsere Aufgabe ist es, ihnen klarzumachen, worauf sie sich einlassen. Aber die Verantwortung tragen sie selbst und sonst niemand.«
Das stimmt, denkt Oz. Ubbink hat aus freiem Willen entschieden, seine Familie aufzugeben.
Oz ist sich sicher, dass die Sache mit dem Kaninchen den Ausschlag gab. Die hervorragende Erfolgsbilanz von REBOUND, die Tatsache, dass sie noch nie jemanden verloren haben, der sich an die Regeln hielt, beruht in großem Maße auf der sorgfältigen Arbeit von Erstkontaktern wie Oz während der vorbereitenden Gespräche.
Oz’ Aufgabe ist es, das Risiko zu analysieren. Zum einen muss er sich ein Bild davon machen, vor wem oder was der potenzielle Klient auf der Flucht ist. Besteht wirklich Gefahr, und wenn ja, wie groß ist sie? Zum anderen – und das ist mindestens genauso wichtig – muss er einschätzen, ob die fragliche Person überhaupt in der Lage ist, ihr neues Leben durchzuhalten.
Eine neue Existenz klingt erst einmal wie ein Traum. Wie viele Menschen auf der ganzen Welt wünschten sich das nicht? Wie viele Menschen flehen Gott, Allah, Krishna, wen auch immer, Tag für Tag auf Knien an, ihnen einen Neuanfang zu gewähren?
Doch in der Praxis ist es nicht so einfach. Um die Sicherheit des Klienten garantieren zu können, ist jeglicher Kontakt zu Personen und Orten der Vergangenheit untersagt. Der Familienfaktor, also wie sehr ein potenzieller Klient sich sträubt, seine Nächsten zu verlassen, ist der entscheidende Indikator.
»Vielleicht grüble ich einfach zu viel«, sagt Oz.
»Das ist unsere Aufgabe, Oz. Schlaf besser noch einmal drüber.«
Und so verbleiben sie.
Aber Oz geht längst noch nicht schlafen. Lange nach Programmschluss der öffentlich-rechtlichen Sender zappt er noch lustlos durch Werbung für Telefonsex, Pornosites und Teleshopping. Schließlich landet er doch wieder bei Katastrophenmeldungen, diesmal auf CNN, BBC und Al Jazeera.
Fast zweihundert Klienten hat Oz mittlerweile aufgenommen. Alle haben unterschrieben. Aber mit jeder erfolgreichen Aufnahme beginnt die Uhr wieder unerbittlich zu ticken wie der Timer einer Zeitbombe.
Wie wird es laufen? Nicht in der Theorie des Speechs, nicht aus der Distanz, sondern in Wirklichkeit, hier und jetzt, wenn man hautnah dran ist? An irgendeinem verfluchten Tag wird es passieren, da ist Oz sich sicher. Vielleicht durch eine undichte Stelle, bewusste Sabotage. Aber höchstwahrscheinlich eher aufgrund einer Fehlkalkulation, eines Moments der Unachtsamkeit, eines menschlichen Fehlers. Denn jedes System, so perfekt es auch geplant sein mag, hat Schwachstellen.
Und dann wird auch Oz selbst, der die Konsequenzen so genau kennt, unterschreiben.
In seinen Albträumen sieht er Josie und die Kinder, wie sie ängstlich auf den Fernseher starren und auf Nachrichten warten. Sie haben gehört, dass Oz unter den Opfern eines Unglücks an einem abgelegenen Ort in einem fernen Land sein soll. Es gibt keine Überlebenden. Nach seinen sterblichen Überresten und denen vieler anderer sucht man noch. Josie tut ihr Bestes, um die Zwillinge zu trösten. Dann klingelt das Telefon. Josie stockt das Blut. Sie fürchtet nicht nur das Schlimmste, sie weiß, wie die niederschmetternde Nachricht lauten wird.
Und so stößt Oz wieder einmal auf den wahren Grund für seine Zweifel. Es ist nicht Alexander Harris mit seiner fadenscheinigen Geschichte. Auch nicht Ubbink mit seiner Fantasterei über Hillis. Der Zeitpunkt naht, an dem er sich eingestehen muss, dass er genau das tun wird, was er seinem Vater vorwirft: Aus Liebe wird er seine Familie im Stich lassen.
***
Am nächsten Morgen wacht Garf zum ersten Mal seit Caths Tod in ihrem gemeinsamen Bett im Schlafzimmer auf. Er hat die ganze Nacht durchgeschlafen und fühlt sich ausgeruht, wie neugeboren.
Sich der Symbolik seiner Handlung bewusst zieht er die dunklen Vorhänge auf. In der Ferne spiegelt sich die Sonne im Atlantik. Das Fenster lässt sich nur mit Mühe öffnen, als müsste es sich auch erst wieder daran gewöhnen. Die kühle Meeresbrise prickelt auf Garfs Gesicht.
Auf der Straße zählt er drei Autos mit getönten Scheiben, von denen er zwei erkennt. Er nimmt sich vor, gleich einmal nachzuforschen, wem das dritte gehört. Dann fällt ihm Oz’ sogenannter Headhunter wieder ein, und er muss lachen. Garf hält Alexander Harris für einen Angeber, aber der Test war eine gute Idee. Er hätte selbst darauf kommen können. So etwas stärkt die Organisation. Besser, sie entdecken die räudigen Schafe selbst, als dass ein Außenstehender es tut.
Aber falls Alexander Harris Oz bei einem Fehler ertappen will, muss er früher aufstehen.