Читать книгу Enter. Die Wahrheit wird dich töten - Willem Asman - Страница 5
Kapitel 3
ОглавлениеOz, jetzt,
auf dem Heimweg,
Umgebung von Amsterdam
Die Metrostation liegt fußläufig zu dem Büro in der Zuidas, wo sein Treffen mit Ubbink stattfand.
Oz hat keine Eile, wartet auf die nächste Metro und steigt als Letzter ein. Auf die Displays ihrer Smartphones starrend stürmen Schulkinder zu den freien Sitzplätzen.
Oz bleibt an der Tür stehen. An der nächsten Station steigt er schon wieder aus, doch dann, in letzter Sekunde, scheint er es sich anders zu überlegen. Ein zerstreuter Mann, der sich in der Haltestelle geirrt hat.
Kurz bevor die automatische Tür sich schließt, steigt er wieder ein.
Der staubige dunkelblaue BMW älteren Modells steht auf dem Pendlerparkplatz am Bahnhof Amsterdam Sloterdijk. Oz steigt ein und fährt los. Er hält sich auf Nebenstraßen, damit er das Tempo variieren kann, und fährt zwei Runden durch einen Kreisel.
Gegen neunzehn Uhr fährt er auf die Ringstraße. Der Berufsverkehr ist größtenteils durch. Er folgt den Schildern nach Schiphol und stellt den BMW auf dem niedrigsten Level des Parkhauses P8 ab.
Er holt seine Ledertasche aus dem Kofferraum, schließt den Wagen ab und klappt die Außenspiegel ein. Um ihn herum Urlauber und Abholer mit Gepäckwagen, Koffern und Taschen. Das Geräusch von Heckklappen, die geöffnet und wieder zugeschlagen werden, hallt vom grauen Beton der Parkdecks wider. Er zählt drei Transporter, einen weniger als heute Morgen. Der alte Transit der Baufirma aus Volendam ist verschwunden.
Mit langen Schritten läuft er Richtung Abflughalle: ein Geschäftsmann im Anzug, Vielflieger, nur Handgepäck, auf dem Weg zu seinem Gate. Unten am Laufband biegt er rechts ab, Richtung Ausgang.
Als ein Tourist mit einem Gepäckwagen einen Sensor berührt, wird die Karusselltür langsamer. Oz blickt auf seine Uhr und schaut sich um, als würde ihm plötzlich etwas einfallen. Auf der anderen Seite tritt er nicht aus der Tür heraus, sondern lächelt die ihm entgegenkommenden Reisenden entschuldigend an und läuft die komplette Runde mit.
Wieder draußen steckt er sich eine Zigarette an, umgeben von Jugendlichen und älteren Leuten, die die letzten Züge vor dem Flug genießen. Eigentlich hat Oz aufgehört, aber die Geste ist jedes Mal beängstigend vertraut. Erst beim Inhalieren erinnert er sich wieder, wie eklig die Erste immer schmeckt.
Er achtet auf Gesichter, auf plötzliche Bewegungen, die schnell auf seine folgen. Achtet auf Personen, die zögern, bummeln, auffällig langsam herumschlendern. Auf Personen, die sich plötzlich von ihm abwenden oder eben nicht. Auf jeden Augenaufschlag. Beobachtet, ob jemand offenbar zerstreut eine zusätzliche Runde durch die Drehtür macht.
Eine schlanke blonde Frau, die sich dem Eingang nähert, weckt seine Aufmerksamkeit. Khakishorts, abgewetzte Chucks, weißes Hemd, ungeschminkt. An einer niedrigen Treppe müht sie sich mit ihrem Koffer ab, zerrt wild am Griff. Die Rollen wollen sich nicht drehen. Sie ist schön in ihrer Frustration. Oz bemerkt die Schweißtropfen auf ihrer Stirn, die Ohrringe, die auf ihren Wangen tanzen. Und durch den offenen Hemdkragen ihr Schlüsselbein, sonnengebräunt, und einen roten BH-Träger. Er wendet den Blick ab und drückt die Zigarette in dem schwelenden Aschenbecher aus.
Wieder im Gebäude nimmt er die Rolltreppe zur Abflughalle im ersten Stock. Er lässt sich Zeit, schlendert ein paar Minuten umher und betritt auf halbem Weg eine Toilette. Am Waschbecken wäscht er sich Hände und Gesicht, den Spiegel immer im Blick. Als er allein ist, betritt er eine Toilettenkabine, wo er Sakko, Hemd und Straßenschuhe auszieht, ein Poloshirt überstreift und in Sneakers schlüpft. Seine Ledertasche verschwindet in einer Sporttasche.
Er baut sein Smartphone zusammen und sieht, dass er zwei verpasste Anrufe und eine Voicemail hat, alle von einer Nummer mit der Ländervorwahl 0032. Belgien. Während er auf dem Toilettendeckel sitzt, hört er die Voicemail ab. »Mr Oz, mein Name ist Alexander Harris. Ihre Nummer habe ich von einem gemeinsamen Freund in Stockholm.«
Oz erkennt die Stimme. Der Mann mit dem starken britischen Akzent hat bereits vorher eine ähnliche Nachricht hinterlassen.
»Sie sind schwierig zu erreichen. Ich möchte mich noch einmal vorstellen: Ich bin ein sogenannter Headhunter und spezialisiert auf International Executive Search. Es geht um Stellen, für die man nicht gut Inserate aufgeben kann, wenn Sie verstehen, was ich meine. Ich vertrete ein Unternehmen, das in der Sicherheitsbranche tätig ist, und ich meine Sicherheit im weitesten Sinn. Ich würde gern mit Ihnen persönlich sprechen, um Ihnen im Namen des Unternehmens ein Angebot zu machen. Glauben Sie mir, es handelt sich um ein sehr attraktives Angebot. Sie haben meine Nummer. Rufen Sie mich an, Mr Oz. Sie werden es nicht bereuen, das verspreche ich Ihnen.«
Oz speichert die Nummer und löscht die Nachricht, während er sich wieder fragt, wer der angebliche gemeinsame Freund aus Stockholm sein könnte, der dem Briten seine Nummer gegeben hat.
Er schaltet das Smartphone wieder aus und nimmt Akku und SIM-Karte raus. Dann betätigt er die Toilettenspülung. Draußen wäscht er sich noch einmal die Hände.
Mit Baseballmütze auf dem Kopf und Ehering am Finger kehrt er zurück in die Halle, wo niemand auf ihn wartet. Von der schlanken blonden Frau mit dem störrischen Rollkoffer keine Spur.
Er läuft ans andere Ende der Halle und dann die Treppe hinunter, ohne auf- oder sich umzuschauen. Vielflieger, will nach Hause, kennt den Weg. Er folgt den Pfeilen zum Parkhaus P2 und nimmt den Fahrstuhl zum untersten Deck.
Als würde er nach seinem Auto suchen – die Schlüssel schon in der Hand, aber wo hat er geparkt? –, blickt Oz sich um. Ach ja, da steht er ja. Er steigt in den weißen Toyota Prius. Als er den Pfeilen zur Ausfahrt folgt, quietschen die Reifen auf dem Beton.
Während er an der Schranke wartet, sieht er im Rückspiegel ein Auto heranfahren. Hinter dem Steuer ein Mann, neben ihm eine Frau, die ihm das Ticket reicht. Beide tragen Baseballkappe und Sonnenbrille, genau wie Oz.
Die Schranke geht hoch und Oz gibt Gas.
Seit dem Treffen mit Ubbink sind anderthalb Stunden vergangen. Oz ist auf dem Weg nach Hause.
Mit der Fernbedienung öffnet er die Garagentür. Ein Junge und ein Mädchen gehen mit ihrem schwarzen Labrador Gassi. Sie laufen öfter hier lang, Bruder und Schwester, schweigend und widerwillig lassen sie sich von dem Hund zerren. Ein Garten wird bewässert. Geparkte Autos, nichts Auffälliges.
Eine ruhige Straße am Rand einer verkehrsberuhigten Zone in Diemen, einer Stadt vor den Toren Amsterdams. Laut Josie werden hier um acht Uhr abends die Bürgersteige hochgeklappt.
Langsam fährt er in die Garage. Links steht seine Werkbank mit Werkzeug, rechts an der Wand lehnt sein altes Rennrad. Er stellt den Motor ab, wartet, bis das Rolltor geschlossen ist, und steigt aus. Dann holt er die Sporttasche aus dem Kofferraum. Die Klimaanlage läuft noch nach.
Als sie ausgeht, übermannt ihn wie so oft in letzter Zeit die Intensität der Stille im Haus. Die Katzenklappe rappelt. Captain Jack Sparrow, der Kater, weiß, dass Oz im Anmarsch ist, und verzieht sich wie immer in den Garten.
Alexander Harris sagt vielleicht die Wahrheit, aber das ist eher unwahrscheinlich. Oz hat Josie damals die gleiche Headhuntergeschichte aufgetischt. Schon bei ihrer ersten Verabredung, als sie ihn nach seiner Arbeit fragte, hat er gelogen und gesagt, er würde für ein internationales Unternehmen arbeiten: Leute suchen, Leute finden, ständig auf Reisen, wichtige Arbeit und Blabla …
Den Regeln gemäß muss er Garf anrufen, alles melden. Garf fragen, was er von diesem Ubbink mit seinem Hillis hält und von Alexander Harris mit dem gemeinsamen Freund in Stockholm.
Im Flur riecht es nach Katzenklo.
Oz stellt seine Tasche unter der Pinnwand mit Fotos und Zeichnungen ab, Josies Projekt, ihre Wall of Fame.
Er geht in die Küche. Sogar hier liegt Spielzeug herum.
In der linken oberen Ecke des Whiteboards steht mit blauem Marker geschrieben: FLIP ♥. Er hat Josie so freundlich wie möglich erklärt, wie wichtig es für ihn ist zu wissen, wo sie sich aufhalten.
In Noordwijk also, bei Flip, Josies Bruder. Das Herz ist für Oz gedacht.
Die Wanduhr tickt.
Das Haus ist verlassen.
Wie immer nach dem Speech stellt er sich vor, wie es wäre, auf der anderen Seite zu sitzen. Nicht der allwissende Oz, sondern der verzweifelte Ubbink zu sein. In seiner Fantasie ist Josie mit den Kindern verschwunden. Und heute Nacht schreckt Sem aus dem Schlaf, untröstlich, weil sie die Katze vergessen haben.
Oz geht die Treppe hoch zu seinem Arbeitszimmer im Dachgeschoss. Bevor er die oberste Schublade seines Schreibtischs öffnet, kontrolliert er, ob das Haar noch dort steckt. Er holt sein privates Smartphone heraus, baut es zusammen, Akku, SIM … und ruft sie an, was sie freut.
Mit Bahn und Bus sind sie gefahren. Was für ein Abenteuer. Jetzt sitzen sie vor diesem Strandlokal und essen Pommes. Bisschen spät, aber die Kinder haben ja morgen frei. Es ist noch so schön draußen. Sie klingt heiter. Doch dann hält sie inne. Anscheinend ist ihr aufgefallen, dass er nicht viel sagt.
»Alles in Ordnung?«
»Ja, ja.«
»Ganz bestimmt?«
»Wirklich, alles gut«, sagt er.
»Ich habe versucht, dich anzurufen, aber ich habe wieder keine Verbindung bekommen.«
»Schon wieder nicht? Ich habe mein Handy doch nachschauen lassen.« Die Lüge kommt automatisch. Die Regel lautet, niemals ein Privatgerät mit zur Arbeit zu nehmen. »Und meine Dienstnummer?«
»Die soll ich doch nur im Notfall anrufen. Willst du kurz mit den Kindern sprechen?«
Bevor er antworten kann, ruft sie die beiden schon. »Sem? Sas? Papa ist am Telefon.« Oz hört dem lauten Geplapper zu, den Kaskaden der Erzählungen von Bruder und Schwester, die durcheinandersprechen und einander übertrumpfen wollen.
Nach einem Tag voller Eindrücke, Zucker und Junkfood bei Flip, der sie immer verwöhnt, ist deutlich spürbar, wie aufgedreht die siebenjährigen Zwillinge sind. Oz versucht vergeblich, aus ihrer Quasselei schlau zu werden.
***
»Bist du ganz sicher, dass alles in Ordnung ist?«, fragt Josie, als sie ihn wieder an der Strippe hat.
Sie hört sich seine beruhigenden Worte an, doch der Klang seiner Stimme sagt ihr genug. Bei Oz stecken die Sorgen zwischen und hinter den Worten. Sie liebt ihn von ganzem Herzen und versteht, dass es eine Erklärung dafür gibt (auch wenn sie nicht weiß, welche), dass ihr Mann, der selbst nie erreichbar ist, unbedingt wissen muss, wo sie sich aufhalten.
Sie denkt an das Foto seiner verstorbenen Eltern an der Pinnwand zu Hause, auf ihrer Wall of Fame, das Oz erst nach langem Drängen hervorholte. Am Tag ihrer Hochzeit aufgenommen, im Hintergrund eine Dattelpalme und eine niedrige Mauer irgendwo in einem Kibbuz bei Tel Aviv. Das einzige Foto, das er noch von ihnen hat, ein unscharfes Polaroid, also musste sie sich damit zufriedengeben.
Und dort ist die Erklärung zu finden, vermutet Josie, irgendwo in der Geschichte, die Oz nicht mit ihr teilen kann. Irgendwo unter diesem strahlend blauen Himmel.
Seine Mutter schaut verloren drein, sein Vater düster.
Oz schaut auch manchmal so, wenn er glaubt, dass sie es nicht sieht.