Читать книгу Enter. Die Wahrheit wird dich töten - Willem Asman - Страница 8

Kapitel 6

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Tyler, jetzt,

zu Hause,

Buitenveldert, Amsterdam

Die Tinte, mit der Tyler einst die Telefonnummer von »G&C-WL« in ihrem Adressbuch notiert hat – die von Garfs und Catherines Blockhütte im Cherokee National Forest –, ist nach dreizehn Jahren fast völlig verblasst.

Sie wählt und wartet auf die internationale Verbindung.

Es klingelt immer wieder. Garf geht nicht ran. Während sie überlegt, was sie auf den Anrufbeantworter sprechen soll, sieht sie die Blockhütte vor sich, laut Garf »der sicherste Ort auf Erden«, aber einen Anrufbeantworter gibt es dort nicht.

Ihr Zeigefinger gleitet zur nächsten Nummer in ihrem Büchlein: »G-mob«, Garfs Handy. Sie ruft an. Wieder wartet sie eine Ewigkeit. Dann, als sie schon nicht mehr damit rechnet, geht er plötzlich ran.

»Horner.«

Sie bekommt Gänsehaut. »Garf? Ich bin’s«, sagt sie.

Erkennt er ihre Stimme nicht? »Tyler.« Immer noch keine Reaktion. »Louise.« Es ist lange her, seit sie ihren Taufnamen laut ausgesprochen hat.

»Natürlich«, sagt er nach einer Pause. »Lou. Ich erkenne deine Stimme unter Tausenden.«

Hat sie ihn geweckt? »Störe ich, Garf?« Sie schaut auf die Uhr und rechnet noch einmal nach, wie spät es bei ihm ist. Sie hat sich nicht geirrt. »Soll ich später noch mal anrufen?« So wie sie sich seit Jahren in Bezug auf Charlie immer wieder sagt: Später ist auch in Ordnung.

»Ist es Danny, Lou?«

Sein erstes »Lou« klang vertraut und beruhigend. Aber dieses zweite jagt ihr kalte Schauer über den Rücken, als wäre »Danny, Lou« eine Beschwörungsformel, die ein Ungeheuer zum Leben erweckt.

»Hast du irgendwas gehört oder gesehen?«, bohrt er.

»Es ist wahrscheinlich nichts.«

»Bist du in Gefahr?«

»Ich? Nein.«

»Und Charlie?«

»Die ist auf Klassenfahrt in London.«

»Ist sie dort sicher?«

»Ich weiß nicht.«

»Ich rufe dich zurück, Lou. Ist das dein Festnetzanschluss?«

»Ja.«

»Ich rufe zurück.« Er legt auf.

Tyler atmet laut aus. Natürlich erkennt er nach der langen Zeit ihre Stimme nicht mehr. Und natürlich klang er verwirrt, als hätte sie ihn geweckt. Aber seine Art zu fragen, knapp, fast barsch, stakkatoartig, das war typisch für Garfield Franklin Horner, den U.S. Marshal, der Tylers und Charlies Leben gerettet hat, indem er sie vor dreizehn Jahren beim Witness Protection Program, kurz WitSec, unterbrachte.

Sie schaut auf die Uhr und schüttelt ungläubig den Kopf. Dreizehn Jahre. Und er war die ganze Zeit da, am anderen Ende der Leitung. In all den Jahren haben sie nie miteinander gesprochen.

Während ihrer ersten Zeit im Zeugenschutzprogramm, als überall das Unheil zu lauern schien, hätte sie ihn am liebsten jeden Tag angerufen. Sie war immer auf der Hut, durch ihre ständige Alarmbereitschaft völlig überdreht. Jede Frage eines freundlichen Kollegen nach ihrer Vergangenheit schien ihr verdächtig. Jedes verständnisvolle Lächeln eines Fremden in einem Geschäft, das der Frau mit dem weinenden Kleinkind auf dem Arm galt. Jeder flirtende Mann im Auto neben ihr an der Ampel. Jede zuschlagende Tür, jeder knallende Auspuff.

Doch dann begann sie, Garfs WitSec-Regeln zu vertrauen, und lernte, sich selbst zu beruhigen. Sie sah nicht mehr ständig Gespenster im Rückspiegel, sondern harmlose Motorradfahrer, die zufällig ein Stück weit in die gleiche Richtung fuhren.

Um zu überleben, musste sie ihre Haltung von »überall lauern Gefahren« zu »es ist wahrscheinlich nichts« ändern. Ihn nicht mehr ständig anzurufen, nicht mehr auf ihre überempfindlichen Unheilssensoren zu reagieren, war ein Kampf, ein schwer errungener Sieg. Deshalb spürt sie jetzt, da sie mit dem Hörer in der Hand auf die Uhr starrt und die Minuten bis zu Garfs Rückruf zählt, deutlich ihre Niederlage.

Sie ist so tief in Gedanken versunken, dass sie zusammenschreckt, als das Telefon klingelt.

Sie hört das Klicken, die elektronischen Schaltungen, die zur Sicherung der Verbindung erforderlich sind.

Dann seine Stimme: »Lou. Was ist los?«

Sie erzählt ihm von dem Auto in ihrem Rückspiegel vor ein paar Tagen, das sie schon vorher gesehen zu haben glaubt. Und von dem bekannten Gesicht, einem Mann mit Regenmantel, Baseballmütze und Sonnenbrille auf einer Bank am anderen Ufer der Gracht bei ihrem Büro. Als sie noch einmal hinsah, war er verschwunden. Ein paar Tage später sah sie ihn im Albert-Heijn-Supermarkt am Gelderlandplein, aber anders gekleidet.

Sie berichtet Garf auch von dem Motorradfahrer und dem unbekannten Anrufer, der nie eine Nachricht hinterlässt. Von dem Freemantle, der vor ein paar Wochen ein wenig schiefer hing als sonst. Von dem ständigen Gefühl, dass jemand im Haus gewesen ist. Und von der Einbruchswelle in ihrem Viertel.

Die ganze Zeit hat er schweigend zugehört, doch nun unterbricht er sie: »Wurde bei dir auch eingebrochen?«

»Ja.«

»Nichts gestohlen?«

»Nein.« Die Einbrecher hatten eine leere Packung Kekse und eine halb leere Colaflasche auf dem Küchenboden hinterlassen, das war alles.

»War die Polizei da?«

»Ja. Sie haben gesagt, dass so was im Viertel ständig passiert.« Ein Blick auf die Kekspackung und die Colaflasche hatte gereicht. »Da war ich einigermaßen beruhigt«, lügt sie, doch Garf scheint es nicht zu merken. Früher hat er jede Lüge durchschaut. »Es ist wahrscheinlich nichts«, sagt sie wieder in der Hoffnung, Garf würde es bestätigen.

Doch er fragt: »Charlie ist in London, hast du gesagt?«

»Auf Klassenfahrt.«

»Wann hast du zum letzten Mal von ihr gehört?«

»Letzte Nacht. Per SMS.«

»Ist das ungewöhnlich?«

Wenn sie ehrlich ist? »Nein.«

»Weiß Charlie über Danny Bescheid?«

»Nein.«

Kurz wird es still in der Leitung.

»Gib mir mal ihre Nummer«, sagt er.

Während Garf sie sich aufschreibt, erinnert sich Tyler an seinen scharfen Blick, dem auch das geringste Zögern nicht entgeht, seine Augen, die durch einen hindurchschauen. Sie wollte doch kein Verhör. Sie wollte beruhigt werden.

»Also glaubst du auch, dass Danny was damit zu tun hat?«, fragt sie.

»Hast du dich an die Regeln gehalten, Lou?«

»Natürlich. Du und deine bescheuerten Regeln«, scherzt sie, wie früher.

Er lacht nicht. »Dann brauchst du dir keine Sorgen zu machen.«

»Du hörst dich irgendwie seltsam an.«

»Ach.« Er seufzt. »Ja, nun … Das kommt daher … seit …«

Ist die Verbindung gestört? »Hallo, Garf? Bist du noch da?«

»Du weißt es noch nicht.«

»Was denn?«

»Aber natürlich weißt du es noch nicht.« Plötzlich klingt er schrecklich erschöpft.

»Was weiß ich nicht? Garf?«

Gerade eben wollte sie nicht, dass er den Marshal herauskehrte, jetzt wünscht sie sich nichts lieber als das. Will seine stakkatoartigen, messerscharfen Fragen. Alles besser als die schreckliche Nachricht, die sie erwartet.

»Cath ist gestorben, Lou.«

Für einen Moment entsteht ein Kurzschluss in ihrem Hirn, Hunderte Gedanken, Vorwürfe, Selbstvorwürfe gehen mit ihr durch. Catherine war damals schon krank. Aber trotzdem. »Wann?«, fragt sie.

»Vor vier Monaten.«

»O Garf.«

»Vor drei Monaten, drei Wochen und fünf Tagen, um genau zu sein. Ganz friedlich eingeschlafen. Ich war bei ihr.«

»O Gott, Garf. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.« Sie beißt sich auf die Lippen und kämpft mit den Tränen.

Aber als er sagt »Nicht weinen, Lou«, ist kein Halten mehr. Sie schaut sich um und greift nach ihrer Handtasche, um ein Taschentuch herauszuholen.

»Alles hat seine Stunde, Lou.«

»Ich weiß, wie sehr du sie geliebt hast«, schluchzt sie.

»Und sie dich, Lou.«

Leise schnäuzt sie sich. »Ich wusste es nicht.«

»Nein.«

»Woher hätte ich das auch wissen sollen?« Es war keine wirkliche Frage.

»So sind nun mal die Regeln, Lou.«

Kein Kontakt, keine Vergangenheit, theoretisch ganz einfach. Aber wenn der Mann, dem sie alles zu verdanken hat … Plötzlich sieht sie ihn als alten Mann vor sich, das kurz geschorene graue Haar ganz schütter, die Kleidung an ihm schlotternd. Der Mann, der Tausende wie sie gerettet hat, ist am Ende seines Lebens mutterseelenallein. Sie sollte sich um ihn kümmern, nicht umgekehrt.

»Tut mir leid, dass ich dich angerufen habe, Garf. Du hast jetzt ganz andere Sorgen.«

»Nein, nein, ist schon in Ordnung. Es ist gut, dass du angerufen hast. Ich bin froh darüber. Höchste Zeit, dass ich … nun ja … Gib mir vierundzwanzig Stunden Zeit, Lou. Ich checke Danny, nur um ganz sicher zu sein. Aber wie du schon sagst, es ist wahrscheinlich nichts. Lou?«

»Ja?«

»Du hast es geschafft, Lou. Es war schwer und du hast einen hohen Preis dafür bezahlt, aber wie lang ist es jetzt her? Zehn, elf Jahre?«

»Dreizehn.«

»Du hast es geschafft.«

»Ja«, sagt sie mit mehr Überzeugung in der Stimme, als sie empfindet. Doch das Gefühl, ihn jetzt nicht enttäuschen zu dürfen, ist einfach überwältigend. »Das verdanke ich dir.«

»Und Cath.«

»Ja. Dir und Catherine.«

»Gut, dass du angerufen hast«, sagt er wieder, doch seine Stimme klingt matt und heiser, als hätte das Gespräch ihn große Anstrengung gekostet.

Als sie aufgelegt haben, verflucht sie wieder die Regeln, die Garf daran gehindert haben, nach Catherines Tod Kontakt mit ihr aufzunehmen.

Und sie wird sich bewusst, dass die Beruhigung, nach der sie sich so sehr gesehnt hatte, ausgeblieben ist. Im Gegenteil, Garfs Versicherung, er würde Danny checken, hat ihre Angst aufs Neue entfacht.

Denn offenbar hält auch Garf es für möglich, dass Danny sie nach all den Jahren aufgespürt hat.

***

Garf dreht an seinem Siegelring.

Das Klischee besagt, dass jeder Bulle einen besonderen Fall hat, einen, der anders ist, ein Opfer, das den Schutzschild der sachlichen Distanz, die man wahren muss, durchbricht.

»Liebe Grüße von Lou und Charlie, Cath«, murmelt er. Cath war von Anfang an ganz verrückt nach Louise gewesen, der Tochter, die sie selbst nicht haben konnte. Und verrückt nach der kleinen Charlie.

Er nimmt sich vor, Strickland anzurufen, seinen Kontakt beim New York Police Department. Er hält ein Auge auf Danny Miller und seine Gang. Mittlerweile sind sie nicht mehr so viele und haben ihre Aktivitäten nach New York verlegt.

Aber Strickland, der alte Hase, hätte sicher Alarm geschlagen, wenn es Anlass dazu gegeben hätte.

Dann, als hätte Lous Anruf ihn wachgerüttelt, sieht Garf mitten auf dem Schreibtisch seine Dienstpistole liegen. Er erinnert sich an den Geschmack – Eisen, Öl – und den Geruch von Schießpulver.

Schnellen Schritts läuft er durch die Villa, die er für Cath gekauft hat. Auf seiner Inspektionsrunde sieht er das schmutzige Geschirr in der Spüle, die Teller mit Essensresten rund um seinen Sessel, den Stapel ungeöffneter Post auf dem Esstisch. Überall liegt dreckige Wäsche herum: Pullover, Socken, Unterhosen. Die Vorhänge sind zugezogen, die Fensterläden geschlossen. Auf dem Sofa im Wohnzimmer liegt der Schlafsack, in dem er schon die ganze Zeit schläft, weil das Schlafzimmer ihm Angst macht.

»Reicht es jetzt mit dem Selbstmitleid, Garfield Franklin?«, fragt eine Stimme in seinem Kopf. Wenn Cath keine Widerrede duldete, nannte sie ihn immer bei beiden Vornamen.

Er wischt sich eine Träne von der Wange.

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