Читать книгу Enter. Die Wahrheit wird dich töten - Willem Asman - Страница 4

Kapitel 2

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Tyler, jetzt,

auf dem Heimweg,

Buitenveldert, Amsterdam

Im Rückspiegel sieht Tyler, dass der Mann auf dem Motorrad mit den zwei Vorderrädern dieselbe Abfahrt von der Ringstraße nimmt wie sie. Er folgt ihrem Audi in kurzem Abstand über den Europaboulevard. Genau wie sie hält er sich strikt ans Tempolimit, biegt links in die Boelelaan ab und dann rechts zum Einkaufszentrum.

Er blinkt auch brav, aber immer eine Sekunde später als Tyler. Als sie an der nächsten Ampel den Fuß vom Gas nimmt, reiht er sich in die Linksabbiegerspur ein, während Tyler auf der Geradeausspur bleibt. Er fährt an ihr vorbei, und sie wirft einen kurzen Blick nach links. Sie kann sich sein Kennzeichen mühelos merken.

Nachdem sie zur Sicherheit einen Block weiter gefahren ist, biegt sie schließlich in ihre Straße ein. Sie fährt an den Rand und kontrolliert noch kurz im Rückspiegel ihr Make-up.

Tyler wohnt in einem zweigeschossigen Reihenhaus aus rotem Backstein mit einem kleinen Garten. Sie steigt aus und blickt in den Himmel über den Dächern auf der anderen Straßenseite. Eine Frau, die sich fragt, ob es heute Abend Regen gibt.

Vor der Haustür lässt sie die Schlüssel fallen. Während sie sich bückt, schaut sie sich um, die Augen wegen der Spätnachmittagssonne zusammengekniffen. Niemand da. Vögel zwitschern.

Drinnen hebt sie die Post von der Matte auf, aber erst, nachdem sie die Tür sorgfältig abgeschlossen – zuerst das obere Schloss, dann das untere – und die Kette vorgelegt hat.

Das Haus ist still. Ihre fünfzehnjährige Tochter Charlie ist auf Klassenfahrt in London. Heute Morgen ist der Bus vom Platz vor der International School of Amsterdam losgefahren, die Charlie mittlerweile im vierten Jahr besucht.

An der Zwischentür zum Flur steckt fünf Zentimeter über dem Boden zwischen Tür und Zarge ein kleiner brauner Papierstreifen, genau dort, wo Tyler ihn heute Morgen platziert hat. Sie läuft durch den Flur in die Küche und sieht den anderen Papierstreifen an der Hintertür. Den Trick hat sie aus einem alten Spionagefilm.

Im Wohnzimmer holt sie ihr Samsung aus der Tasche. Das Display zeigt zwei verpasste Anrufe und zwei Nachrichten auf der Mailbox. Während sie die Schuhe mit den Pfennigabsätzen abstreift und unter das Sofa kickt, ruft sie ihre Nachrichten ab.

Die erste ist von Charlie. Sie seien im Hotel angekommen und alles sei in Ordnung.

»Und stell dir vor, Mom, es regnet.«

Tyler lächelt. Sobald das Ziel der diesjährigen Klassenfahrt bekannt wurde, fing Charlie an zu meckern. England, Mom, ausgerechnet England, wo es immer regnet. Warum nicht Florenz wie letztes Jahr? Oder Paris?

Der zweite Anruf stammt von einer anonymen Nummer. Der Anrufer hat aufgehängt, ohne etwas zu sagen. Tylers Lächeln verfliegt.

Seit einigen Tagen ruft er zu unterschiedlichen Uhrzeiten an. Die Nummer wird nie angezeigt. Der Anrufer hinterlässt auch keine Nachrichten.

Es mag völlig harmlos sein, Werbung etwa, ein Energieunternehmen oder ein Internetprovider mit einem Angebot. Es könnte auch eine Frau sein, aber Tyler glaubt, dass es sich um einen Mann handelt. Schon seit dreizehn Jahren verfolgt dieser Mann sie bis in ihre Träume. Er ist immer da, hält sich im Schatten. Sein Gesicht kann sie nie erkennen, doch sie weiß, wer es ist.

Mit einem Knopfdruck löscht sie die beiden Anrufe.

Sie geht die Treppe hoch, vorbei an den gerahmten Geburtstagsfotos von Charlie, die sie in einer diagonalen Reihe aufgehängt hat, insgesamt fünfzehn, für jedes Jahr eines.

Das unterste: Charlies erster Geburtstag. Ein so niedliches Baby mit schalkhaftem Blick in den dunkelbraunen Augen und Sahnetorte über das ganze Gesicht verteilt.

Daneben: Charlie wird zwei. Sie reitet auf ihrem Golden Retriever Buster – oder Uster, wie Charlie ihn damals nannte. Ihre dünnen Ärmchen um seinen Hals gelegt strahlt sie übers ganze Gesicht, ihr Lachen so entwaffnend in all seiner Unschuld. Ihre Füßchen stecken in kleinen Nike-Sneakers. Sie ist sich der Gefahr nicht bewusst, auch nicht der Kamera. Letzteres ändert sich später, wie das Foto auf halbem Weg die Treppe hoch zeigt, auf dem die achtjährige Charlie sich duckt, während sie vorwurfsvoll »Mom!« ruft und sich mit der Hand vor dem Blitzlicht schützt.

Noch später dann die Posen des perfekten Models, wie auf dem neusten Foto, das oben an der Treppe hängt: Charlie mit fünfzehn Jahren und dem Blick einer jungen Erwachsenen, ihre Haltung herausfordernd, älter wirkend, als sie ist. Wenn Blicke töten könnten, denkt Tyler.

Das Ölgemälde, das über dem Frisiertisch in ihrem Schlafzimmer hängt, ein Freemantle, der ihren Safe verbirgt, ist bewusst leicht schief gehängt. Auf dem Bild sind zwei Palmen zu sehen, die sich im Sturm biegen, im Hintergrund der Strand und die wütenden Wellen des Ozeans vor den Florida Keys.

Nach einem kurzen Blick auf die Gärten der Nachbarn links und rechts und die Schatten der Sträucher unter der tief stehenden Sonne zieht Tyler die Vorhänge zu.

Im Dunkeln zieht sie sich aus und wirft die Kleidung aufs Bett.

Vor der Spiegelwand im Bad bindet sie ihr halblanges blondes Haar zusammen. Der Spiegel reflektiert ihren Körper, sechsunddreißig Jahre alt, leicht gebräunt, die sanduhrförmige Figur, aber Tyler sieht vor allem ein Muttermal auf ihrer Hüfte. Ist das neu?

Bevor sie die Dusche aufdreht, fällt ihr wieder die unheimliche Stille im Haus auf. Seltsam, sie hatte erwartet, es mehr zu genießen, das Reich für ein paar Tage für sich zu haben, ganz ohne den Hormonaufruhr der pubertierenden Charlie. Sie dreht an der Mischbatterie und stellt sich unter die warmen Wasserstrahlen, ohne sie wirklich zu spüren.

Fragt man hundert junge Frauen, was sie außer Liebe sonst noch vom Leben erwarten, werden neunundneunzig antworten: Freiheit, Selbstständigkeit, einen guten Job und Freundinnen, denen sie vertrauen können.

Allem Anschein nach lebt Tyler diesen Traum. Sie hat alles, was eine Frau sich wünschen kann: ein großes Haus und eine feste Stelle mit netten Kollegen.

Und was die Liebe angeht, hat sie Charlie. Klug, beliebt, unabhängig, gesund und wunderhübsch. Eine Tochter, wie jeder sie sich wünschen würde.

Auf den ersten Blick scheint Tyler alles zu haben, was das Herz begehrt. Doch sie bezahlt einen hohen Preis dafür.

Mit einer falschen Identität, basierend auf einer gefälschten Geburtsurkunde, einer erfundenen Jugend und einem zusammengesponnenen Lebenslauf, lebt sie ein Leben, das aus Lügen besteht. Sie belügt ihre Freundinnen und Kollegen. Ebenso die Männer, mit denen sie manchmal ausgeht. Sogar ihre eigene Tochter belügt sie.

Sicher, es sind Notlügen, ihre Absichten nur die besten. Diese Lügen beschützen sie und ihre Tochter seit Jahren. Doch wie gut sie es auch meint, es bleiben Lügen.

Darum bleibt sie oft vor Spiegeln oder Schaufenstern stehen, als wollte sie ihr Make-up nachbessern, ob nötig oder nicht, um unauffällig hinter sich zu schauen. Darum lässt sie oft scheinbar ungeschickt ihr Schlüsselbund fallen. Klemmt Papierstreifen in Türen ein. Darum hat sie schon seit dreizehn Jahren ständig mit dem Gefühl zu kämpfen, etwas übersehen zu haben, etwas Lebenswichtiges. Und in letzter Zeit kommt noch die Befürchtung hinzu, hinter der Einbruchswelle in ihrem Viertel könnte etwas ganz anderes stecken, als die Polizei vermutet.

Als sie aus der Dusche kommt und sich abtrocknet, sieht sie die Narbe an ihrem linken Handgelenk: eine lebenslange Erinnerung daran, dass es eine Illusion ist zu glauben, man könne alles hinter sich lassen.

Dabei sind die schlimmsten Narben noch nicht einmal sichtbar. Sie liegen tief im Inneren verborgen.

***

Charlie ist ungewöhnlich still während der Klassenfahrt. Mark scheint es auch langsam aufzufallen. Je öfter sie auf seine Frage, ob es ihr gut gehe, den Blick abwendet und antwortet: »’türlich«, desto mehr stichelt ihr bester Freund.

Es ist fast Freitag.

Charlie hat noch niemandem von ihrem Vorhaben erzählt.

Wie wird Mark reagieren?

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