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VORWORT (BECKER) OSTEOPATHIE IM BEREICH DES SCHÄDELS

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Die Wissenschaft der Osteopathie umfasst das Wissen der Philosophie, Anatomie und Physiologie des gesamten Körpers und die klinische Anwendung dieses Wissens sowohl bei Diagnose als auch bei Behandlung – so hat sie ihr Begründer, Dr. Andrew Taylor Still, konzipiert.1 Die Osteopathie im Bereich des Schädels ist ein Teil dieses Konzepts der ganzheitlichen Sorge für die Gesundheit des gesamten Körpers. Dr. Still, der Arzt an der vordersten Grenzlinie Amerikas war, führte die Wissenschaft der Osteopathie 1874 nach langjähriger intensiver Forschung ein. Die erste Schule der Osteopathie wurde 1892 in Kirksville, Missouri, eröffnet.

William Garner Sutherland war Schüler an dieser ersten Schule, der American School of Osteopathy. An einem Tag im Jahr 1899, betrachtete er während seines letzten Studienjahres einen auf einem Sockel aufgestellten, präparierten Schädel. Die kompliziert abgeschrägten Kanten, die an den großen Flügeln des Os sphenoidale und den Partes squamosae der Os temporale im Bereich der Sutura sphenosquamosa zu sehen waren, erregten seine Aufmerksamkeit. Wie ein Blitz kam ihm der Gedanke, „[…] abgeschrägt wie die Kiemen eines Fisches; und das weist auf einen mobilen, einer Atembewegung dienenden Gelenkmechanismus.“

Dr. Sutherland verbrachte die nächsten 30 Jahre damit, die genauen anatomischen und physiologischen Beziehungen des kraniosakralen Mechanismus, so wie er ihn sah, zu untersuchen. Seine Sicht der Dinge war wiederum ein Teil der gesamten Wissenschaft der Osteopathie, so wie sie von Dr. A. T. Still gesehen wurde.

Dieser stellte in seinen Schriften fest:

„Alle Teile des gesamten Körpers gehorchen dem einen ewigen Gesetz von Leben und Bewegung.“

Das Kraniale Konzept, wie es von Dr. Sutherland entwickelt und gelehrt wurde, schließt folgende Prinzipien ein:

1. Die Fluktuation der Zerebrospinalen Flüssigkeit oder die Potency der Gezeiten.

2. Die Funktion der Reziproken Spannungsmembran

3. Die Motilität des Neuralrohrs

4. Die gelenkvermittelte Mobilität der Schädelknochen

5. Die unwillkürliche Mobilität des Sakrum zwischen den Hüftknochen

Dr. Sutherland nannte die zusammengehörige Struktur und Funktion dieser fünf Komponenten den Primären Atemmechanismus. Dabei spricht die Anwesenheit von physiologischen Zentren am Boden des vierten Ventrikels, die für die Lebensprozesse notwendig sind, für seine Einschätzung des gesamten Mechanismus als von primärer Bedeutung. Dr. Sutherland betrachtete die Fluktuation der Zerebrospinalen Flüssigkeit als erstes und fundamentalstes Merkmal des Primären Atemmechanismus.

Der Primäre Atemmechanismus hält einen eigenen, rhythmischen, automatischen und unwillkürlichen ‚Lebens- und Bewegungs-Kreislauf‘ aufrecht, der in gesundem Zustand eine Mobilität und Motilität von 10–12 Mal pro Minute aufweist. Dies führt zu einer rhythmischen Flexion sämtlicher Strukturen entlang der Körpermittellinie zusammen mit einer Außenrotation aller paarigen lateralen Strukturen im Wechsel mit der Extension derselben Strukturen der Körpermittellinie mit einer Innenrotation aller paarigen lateralen Strukturen. Jede Zelle und alle Körperflüssigkeiten drücken dieses rhythmische unwillkürliche Prinzip von ‚Leben und Bewegung‘ ihr ganzes Leben hindurch aus. Diese Mobilität und Motilität sind wichtige Faktoren zur Erhaltung der Gesundheit in der lebenswichtigen Homöostase von Struktur und Funktion für das Zentrale Nervensystem, das endokrine System und andere, zur Physiologie des Körpers gehörige Funktionseinheiten.

Klinisch gesehen gibt es im gesamten Ablauf der Körperfunktionen zwei grundlegende Arten von Mobilität und Motilität: willkürliche und unwillkürliche. Willkürlich ist das, was wir durch unseren sensorischen Input und motorischen Output projizieren. Das Unwillkürliche ist sogar noch bemerkenswerter, da es nur aus Flexion und Extension der Strukturen entlang der Körpermittellinie und einer Außen- und Innenrotation der bilateralen Strukturen besteht. Es schließt von den Flüssigkeiten über die weichen Gewebe bis zum knöchernen Skelett alles mit ein; in der Tat ist jede einzelne Zelle des Körpers daran beteiligt. Demzufolge ist es notwendig, die Beziehungen all dieser Elemente untereinander zu untersuchen. Jeder einzelne Bestandteil der Anatomie und Physiologie ist aufgrund seiner ihm eigenen Form und Gestalt so angelegt und koordiniert, dass diese wechselnde rhythmische Bewegung zustande kommt. Diese rhythmische Bewegung des unwillkürlichen Mechanismus bleibt unverändert, egal ob der Körper sich im Ruhezustand oder in willkürlicher Bewegung befindet.

Für den Behandler ist es notwendig, eine denkende, fühlende und wissende Berührung zu entwickeln, durch welche die unwillkürliche Mobilität und Motilität wiederhergestellt wird, sodass das volle Funktionspotenzial in der grundlegenden Anatomie und Physiologie der Gesundheit erreicht werden kann. Wenn sich die unwillkürliche Funktion wiederherstellt, geschieht dies auch mit der willkürlichen Funktion.

Strukturelle und funktionelle Probleme in irgendeinem Teil des Körpers können den Primären Atemmechanismus beeinträchtigen. Umgekehrt trifft es auch zu, dass strukturelle und funktionelle Probleme im Primären Atemmechanismus den übrigen Körper beeinflussen können. Der gesamte Körper in seiner Struktur und Funktion ist davon betroffen.

Die Osteopathie im Bereich des Schädels lässt sich bei allen Altersgruppen anwenden, vom Neugeborenen bis zum Hochbetagten. Sie kann in alle Disziplinen der medizinischen Wissenschaft eingebettet werden. Sie kann die erste Versorgung sein, die bei einem bestimmten Trauma oder einer Krankheit nötig ist, oder sie kann eine zusätzliche Therapie in bestimmten Fällen sein, die noch weitere medizinische oder chirurgische Maßnahmen erfordern. Probleme, die im Bereich des Schädels auftauchen, verlangen klarerweise nach einer Lösung für diesen speziellen Mechanismus. Zudem gibt es Probleme, die an anderen Stellen im Bereich der Körperphysiologie auftreten. Sie lassen sich leichter lösen, wenn die kranialen Mechanismen mit einer anderen Therapie koordiniert werden.

Es gibt viele Prinzipien, die in der Behandlung angewendet werden können, wenn ‚Leben und Bewegung‘ durch Trauma oder Krankheit eingeschränkt sind. Eines dieser Prinzipien stellte Dr. Sutherland 1947 auf, als er sagte:

„Erlaube der physiologischen Funktion im Innern, ihre eigene unfehlbare Potency zu zeigen, anstatt eine blinde Kraft von außen anzuwenden.“

Sein Gedanke handelte spezifisch von den Mustern der Gesundheit und Krankheit im Kraniosakralen Mechanismus, er kann aber auch auf die Physiologie des gesamten Körpers angewandt werden.

Ein Arzt oder Zahnarzt, der Interesse daran hat, die Osteopathie im Bereich des Schädels zu studieren, sollte die darin integrierte Philosophie, Anatomie und Physiologie des Primären Atemmechanismus kennen. Sie stellen eine Grundlage für die Entwicklung palpierender und manueller Fähigkeiten dar, die man benötigt, um die rhythmische unwillkürliche Mobilität und Motilität des ‚Lebens in Bewegung‘ innerhalb des Kraniosakralen Mechanismus zu ‚lesen‘ und sie in Diagnose und Behandlung anwenden zu können.

Rollin E. Becker D.O.

Das große Sutherland-Kompendium

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