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12 Andromeda

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Am Tag von Udo Hoffs Vernissage war Lysander seltsam verunsichert. Er hatte schlecht geschlafen, und schon, als er sich am Morgen rasierte, fühlte er sich nicht wohl in seiner Haut – er verspürte eine ganz und gar untypische Nervosität, wegen dieser anstehenden Vernissage, wegen des Wiedersehens mit Miss Bull. Er schäumte den Pinsel mit Rasierseife ein und trug sie auf Wangen, Kinn und um den Kiefer herum auf; als er sich, die Lippen einziehend, mit dem Pinsel unter die Nase fuhr, überlegte er automatisch, ob er sich einen Schnurrbart wachsen lassen sollte. Die Antwort kam wie immer aus der Pistole geschossen und lautete Nein. Das hatte er bereits ausprobiert und es stand ihm nicht; es ließ ihn dreckig erscheinen, als hätte er versäumt, sich einen Klecks Ochsenschwanzsuppe von der Oberlippe zu wischen. Für einen Schnurrbart hatten seine Haare nicht den richtigen Braunton. Bei einem jungen Gesicht war ein Schnurrbart nur gerechtfertigt, wenn er einen starken Kontrast erzeugte – wie bei diesem Munro von der Botschaft, beinah schwarz und völlig akkurat, wie angeklebt.

Er zog sich mit Bedacht an, kombinierte seinen leichten marineblauen Anzug mit schwarzen Budapestern und einem weißen Stehkragenhemd sowie einer scharlachroten, getüpfelten Krawatte mit einfachem Knoten. Ein knalliger Farbtupfer, der seine ach so künstlerische Ader anzeigen sollte. Sein Vater hätte das nicht gebilligt – Halifax Rief, selbst stets elegant und erlesen gekleidet, war der Ansicht gewesen, dass niemand den Stil eines Mannes beziehungsweise die Mühe und Sorgfalt, die er auf seine Kleidung verwendete, bemerken sollte, ehe nicht mindestens fünf Minuten verstrichen waren. Jegliche Form von Zurschaustellung fand er geschmacklos.

Lysander entschloss sich, das Kunsthistorische Hofmuseum am Burgring zu besichtigen. Er war sich darüber im Klaren, dass das nur eine symbolische Handlung war, völlig sinnlos, aber er sah sich in der Galerie herumstehen, die Hoffs Werke ausstellte, von lauter Menschen umgeben, die sich alle mit klassischer und zeitgenössischer Kunst auskannten und zu allem eine Meinung hatten. Wie sollte er mit diesen Intellektuellen, Kunstkritikern, Sammlern und Experten ins Gespräch kommen? Wieder wurden ihm die riesigen Lücken bewusst, die in seiner Allgemeinbildung klafften. Shakespeare, Marlowe, Sheridan, Ibsen, Shaw konnte er seitenweise zitieren – zumindest jene Werkauszüge, die er im Lauf seiner Tätigkeit hatte pauken müssen. Er hatte eine Menge Lyrik des 19. Jahrhunderts gelesen – diese Lyrik liebte er –, aber er hatte so gut wie keine Ahnung von der sogenannten »Avantgarde«. Er kaufte regelmäßig Zeitungen und Zeitschriften, verfolgte mehr oder weniger das Weltgeschehen und die europäische Politik – auf den ersten Blick wirkte er wie die äußerst glaubwürdige Verkörperung eines weltläufigen, gebildeten, kompetenten Zeitgenossen, doch wenn er auf echten Geist und Intellekt traf, erkannte er jedes Mal, wie dürftig seine Maskerade war. Du bist doch Schauspieler, ermahnte er sich, dann spielst du ihnen eben etwas vor! Außerdem hast du noch jede Menge Zeit, dir Wissen anzueignen, du bist beileibe kein Idiot, im Gegenteil, graue Zellen hast du zuhauf. Es ist ja nicht deine Schuld, dass du ständig die Schule wechseln musstest und deine Bildung darunter gelitten hat. Als Erwachsener hast du dich eben auf deine Theaterkarriere konzentriert – Vorsprechen, Proben, kleine Rollen, die zunehmend größer wurden. Eigentlich hatte er nur im letzten Stück, in dem er mitgespielt hatte – Ein romantisches Ultimatum –, eine nennenswerte Hauptrolle gehabt, immerhin die zweite männliche Hauptrolle, auf dem Plakat prangte sein Name in genauso großen Lettern wie der von Mrs Cicely Brightwell, keinen Millimeter kleiner, und daran zeigte sich klar und deutlich, wie weit er es binnen weniger Jahre schon gebracht hatte. Sein Vater wäre stolz auf ihn gewesen.

Im Museum lief er durch die großzügigen Säle im ersten Stock, betrachtete die düsteren, firnisbedeckten Bilder von Heiligen und Madonnen, antiken Gottheiten und melancholischen Kreuzigungen, trat näher, um die Künstlernamen am Rahmenrand zu lesen, und hakte sie in Gedanken ab. Caravaggio, Tizian, Bonifazio, Tintoretto, Tiepolo. Natürlich waren ihm diese Namen geläufig, doch nun konnte er sagen: »Kennen Sie Bordones Version von Venus und Adonis? Wie’s der Zufall will, habe ich sie mir heute im Hofmuseum angesehen. Wirklich ergreifend, ein Meisterwerk.« Nach und nach entspannte er sich. Es war schließlich auch nur Theater, und das wiederum war sein Metier, seine Berufung, sein Spezialgebiet.

Er ging weiter. Auf einmal waren die Maler alle holländisch – Rembrandt, Frans Hals, Hobbema, Memling. Und was war das? Überfall auf einen Wagenzug von Philips Wouwerman. Kraftvoll, abgründig, dunkelhäutige Räuber, die mit silbernen Entermessern und spitzen Hellebarden angriffen. »Sind Sie mit Wouwermans Werk vertraut? Es hat eine ungeheure Wucht.« Wo waren eigentlich die Deutschen? Ach, hier also – Cranach, d’Pfenning, Albrecht Dürer … Doch inzwischen verwirbelte und verballhornte er im Geist die vielen Namen und wurde schlagartig müde. Zu viel Kunst – museale Erschöpfung. Zeit für eine Zigarette und einen Kapuziner. Er hatte genug Stoff gesammelt, um für flüchtigen Smalltalk aller Art gewappnet zu sein – es ging ja nicht darum, eine Anstellung als Kurator zu ergattern, um Himmels willen.

Am Ring entdeckte er eine Bude, wo er, am Tresen gelehnt, eine Virginia rauchte und an seinem Kaffee nippte. Wirklich eine Prachtstraße, dachte er – in London gab es nichts Vergleichbares, allerhöchstens die Mall, die dagegen aber deutlich abfiel. Der ausgedehnte Kreis, den der Straßenzug um den alten Stadtkern bildete, die sorgfältig angeordneten Palais und öffentlichen Bauten mit ihren Park- und Gartenanlagen. Wunderschön. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr – bevor er sich in der Galerie zeigen konnte, musste er noch eine gute Stunde totschlagen. Er fragte sich, wie Udo Hoff wohl sein mochte. Wahrscheinlich sehr prätentiös, genau die Sorte Mann, die auf Miss Bull eine unwiderstehliche Anziehungskraft ausüben dürfte.

Er schlenderte auf den spitzen Rathausturm zu. Dabei hörte er eine laute Stimme ertönen, und als er näher kam, sah er Hunderte von Menschen, die sich im kleinen Rathauspark zusammendrängten. Auf einem hölzernen Podium von etwa 1,80 Meter Höhe rief ein Mann herrische Worte durch sein Megafon.

Während die Tageshitze langsam abklang, rasten Automobile und Kraftomnibusse vorbei. Der Feierabendverkehr hatte eingesetzt. Wie Überbleibsel einer vergangenen Epoche klapperten Touristen in Pferdekutschen am Bordstein entlang. Allenthalben schlängelten sich Radfahrer durch den Verkehr. Lysander überquerte die Straße mit der gebotenen Vorsicht und schloss sich der murmelnden Menschenmenge an.

Offenbar handelte es sich um Arbeiter, die sich in ihrer symbolträchtigen Kluft zu dieser Versammlung eingefunden hatten. Zimmermänner in Latzhosen, den Hammer am Gürtel befestigt, Steinmetze mit Lederschürzen, Automechaniker in Overalls, Chauffeure, die Lederhandschuhe und Doppelreiher trugen, Förster mit langen Handkettensägen. Es gab sogar eine Gruppe von mehreren Dutzend Minenarbeitern, schwarz vor Kohlenstaub, die Gesichter so dunkel verschmiert, dass die Zähne gelb wirkten und das Weiße im Auge verstörend hervorstach.

Lysander trat noch näher heran, neugierig, eigenartig fasziniert von den schwarzen Gesichtern und Händen. Ihm wurde bewusst, dass er zum ersten Mal richtige Minenarbeiter sah, anders als bisher die Abbildungen in Büchern und Zeitschriften. Sie hörten dem Redner aufmerksam zu, der unaufhörlich über Stellen und Löhne blaffte, über slawische Gastarbeiter, die den rechtmäßigen Verdienst der österreichischen Arbeiter unterboten. Während seine Ansprache immer flammender wurde, begannen seine Zuhörer zu klatschen und zu johlen. Lysander wurde von einem Mann angerempelt, der sich höflich, ja wortreich bei ihm entschuldigte.

Lysander drehte sich um. »Schon gut«, sagte er.

Der Mann war jung, Anfang zwanzig, er trug einen grauen Filzhut, dem das Band abhandengekommen war, und seine langen dunklen Haare hingen über den Kragen. Sein Bart war schütter und ungepflegt. Trotz des schönen Wetters trug er einen kurzen gelben Umhang mit Gummibeschichtung. Darunter hatte er kein Hemd, wie Lysander nun sah – ein Landstreicher, ein Geisteskranker. Er dünstete den sauren Geruch der Armut aus.

Bei einem neuerlichen Ausbruch des Redners johlte die Menge laut auf.

»Die haben ja keine Ahnung«, schimpfte der Umhangträger. »Nichts als leere Worte, heiße Luft.«

»Politiker«, sagte Lysander und verdrehte demonstrativ die Augen. »Alle gleich. Worte sind ja wohlfeil.« Nun fiel ihm auf, dass er allmählich Blicke auf sich zog. Wer war wohl dieser herausgeputzte junge Mann mit der getüpfelten Krawatte, der sich mit dem Irren unterhielt? Zeit zu gehen. Er ließ die Gruppe von Minenarbeitern hinter sich – schwarze Troglodyten, die ihren unterirdischen Höhlen entstiegen waren, um die moderne Metropole zu entdecken. Lysander spürte auf einmal die Idee zu einem Gedicht in sich heranreifen.

Die Bosendorfer-Renz-Galerie lag in einer Seitenstraße des Graben. Lysander verharrte zunächst in einiger Entfernung, um sich zu vergewissern, dass tatsächlich Besucher hineingingen – die Anwesenheit von anderen würde ihm die nötige Sicherheit geben. Mit gezückter Einladung trat er auf die Tür zu, doch offenbar überprüfte niemand die Identität der Gäste, und so steckte er sie wieder ein und folgte einem älteren Ehepaar in Räumlichkeiten, die eher nach Antiquitätenladen als nach Kunstgalerie aussahen. Im kleinen Schaufenster standen ein paar aufwendig geschnitzte Stühle und ein holländisches Stillleben auf einer Staffelei (Äpfel, Trauben und Pfirsiche, dazu die unvermeidliche, effektvoll platzierte Fliege). Hinter dem ersten Raum lockte ein hell erleuchteter Durchgang, aus dem ein zunehmendes Stimmengewirr drang. Lysander holte tief Luft und steuerte darauf zu.

Es war ein großer Saal mit hoher Decke, womöglich eine umgewidmete Lagerhalle, von drei elektrischen Kronleuchtern erhellt. Lang gezogene Trennwände aus Holz, auf kleine Räder montiert, unterteilten den Raum. Es herrschte rege Betriebsamkeit, vierzig bis fünfzig Gäste waren bereits eingetroffen, wie Lysander erfreut zur Kenntnis nahm – er konnte sich in der Menge verlieren. Hoffs Leinwände hingen von einer hohen Bildleiste herab; hier und da waren kleine Skulpturen und Maquetten auf schmale, brusthohe Plinthen verteilt. Er nahm sich vor, einen schnellen Rundgang zu machen, Miss Bull zu grüßen, Hoff zu gratulieren und nach getaner Pflicht in die Nacht zu entschwinden.

Auf den ersten Blick wirkte Hoffs Werk konventionell und mittelmäßig – Landschaften, Stadtansichten, das eine oder andere Porträt. Bei näherem Hinsehen entdeckte Lysander jedoch die eigenartigen, ausgeklügelten Lichteffekte. Eine Wiese mit Waldhintergrund schien in strahlendes Bogenlicht getaucht, die tiefschwarzen, messerscharf konturierten Schatten verliehen dem an sich banalen Motiv einen düsteren, apokalyptischen Anstrich, sodass man sich unwillkürlich fragte, welches lodernde Himmelslicht das unheimliche Leuchten hervorrief. Eine Sahara-Sonne, die auf ein nordeuropäisches Tal herabbrannte. Auf einem anderen Bild war der Sonnenuntergang so grell dargestellt, dass der Himmel in Verwesung begriffen schien. Bei einer Stadtansicht – Dorf im Schnee – fiel Lysander plötzlich auf, dass zwei Häuser weder Türen noch Fenster hatten und die Kirchturmspitze nicht mit einem Kreuz, sondern mit einem kreisrunden O versehen war. Welche Geheimnisse barg dieses harmlose kleine Dorf?

Während Lysander sich im Ausstellungsraum umsah und nach diesen wirkungsvollen Störzeichen Ausschau hielt, stellte er fest, dass Hoffs subtil abweichende, zutiefst beunruhigende Sicht der Dinge ihn immer mehr beeindruckte. Die umfänglichste Arbeit war das lebensgroße Bild einer stark geschminkten Frau, die einen bestickten Kaftan trug und in einem Sessel saß: Porträt von Fräulein Gustl Cantor-De Castro. Auf den zweiten Blick zeigte sich, dass ihr Kaftan im Schoß aufgeknöpft war, sodass ihre Scham zum Vorschein kam. Die Pfeilspitze aus dunklem Haar hatte zunächst wie ein Teil des dekorativen Friesmusters auf dem reich bestickten Kaftan ausgesehen. Als Lysander bewusst wurde, was er da in Wirklichkeit betrachtete, war er zunächst aufrichtig schockiert. Der ausdruckslose Blick der hartgesichtigen Frau schien ausschließlich auf ihn gerichtet zu sein, sodass er entweder als Eingeweihter an ihrer Selbstentblößung beteiligt – nur für ihn hatte sie diese Stelle aufgeknöpft – oder bloß ein Voyeur war, auf frischer Tat ertappt.

Er wandte sich ab und sah einen Kellner ein Tablett mit Weingläsern herumreichen. Lysander nahm sich ein Glas – Riesling, eine Spur zu warm – und zog sich in eine Ecke zurück, um die Leute zu beobachten, die offenbar lieber miteinander plauderten, als Udo Hoffs Werke zu würdigen. Er fragte sich, wer von ihnen Hoff war. Die Künstler waren leicht zu erkennen – es gab einen mit rasiertem Schädel, einen ohne Krawatte, auch einen bärtigen Kerl im vollgeklecksten Malerkittel, der geradewegs aus seinem Atelier gekommen sein musste. Hanebüchen, sich so offensichtlich von den anderen abzuheben, dachte Lysander, einfach stillos. Von Miss Bull war allerdings weit und breit nichts zu sehen.

Er stellte sein leeres Glas auf einem Tisch ab und setzte seinen Rundgang an den mobilen Raumteilern fort. Was er dort erblickte, ließ ihn jäh, beinah slapstickhaft innehalten. Er hatte eine Trennwand umrundet, die auf einer Seite mit kleinen gerahmten Zeichnungen von Krügen und Flaschen vollgehängt war, um zu erkunden, was sich auf der anderen Seite befand, und stand nun vor der Skizze – der Originalvorlage – eines Theaterplakats: Eine fast nackte Frau, die Hände schützend um ihre Brüste gewölbt, während eine Art Drachen, ein riesiger Schuppenaal, sein derbes Haupt erhob und sie bedrohte – er hatte nur ein einziges, orange glühendes Auge und streckte seine gespaltene Schlangenzunge in Richtung ihrer Lenden aus. Die Beschriftung lautete: Andromeda und Perseus, eine Oper in vier Akten von Gottlieb Toller. Also hatte Udo Hoff das anstößige Plakat entworfen, dessen Fetzen Lysander überall in der Stadt hatte hängen sehen … Damit war schon mal ein Rätsel gelöst. Und es handelte sich um Perseus, nicht um Persephone.

Lysander trat zurück, um sich eine bessere Übersicht zu verschaffen. Das Bild war in der Tat eine unerhörte Provokation. Der schuppige lange Hals und Kopf des Ungeheuers mit dem einsamen eitrigen Auge. Selbst der argloseste Bourgeois musste den Symbolgehalt zwangsläufig erkennen. Und die junge Frau, diese Andromeda, schien –

»Haben Sie die Oper gesehen?« Die Stimme sprach Englisch – mit Manchester-Akzent.

Lysander drehte sich um. Vor ihm stand Dr. Bensimon in Abendgarderobe – Frack und weiße Fliege –, mit frisch gestutztem und getrimmtem Bart. Er gab ihm die Hand. Lysander war seltsam berührt, seinen Arzt hier zu sehen, außerhalb des üblichen Rahmens. Dann fiel ihm ein, dass auch Miss Bull seine Patientin war.

Bensimon erging es offenbar nicht anders. »Hätte nie damit gerechnet, Sie hier anzutreffen, Mr Rief. Als ich Sie sah, traute ich meinen Augen nicht.«

»Miss Bull hat mich eingeladen.«

»Ach. Das erklärt natürlich alles.« Bensimon deutete auf das Plakat. »Die Oper wurde nur drei Mal in Wien aufgeführt – in einem Kabarett namens Hölle. Ja, wirklich. Kein anderes Theater wollte es wagen. Und dann wurde die Inszenierung von der Obrigkeit abgesetzt.«

»Abgesetzt? Warum?«

»Wegen grober Unschicklichkeit. Ich für mein Teil hätte sie allein wegen der Musik abgesetzt. Unerträglich kreischende Atonalität. Als spielte Richard Strauss verrückt.« Bensimon lächelte. »Altmodisch bin ich nur in einer Hinsicht – was die Musik angeht. Ich schätze schöne Melodien.«

»Und was war daran so unschicklich?«

»Miss Bull.«

»Hat sie etwa mitgesungen?«

»Nein, das nicht. Aber sie hat die Andromeda gegeben, wenn man so will. Ist Ihnen die Ähnlichkeit auf dem Plakat nicht aufgefallen? Sie kennen den Mythos: Andromeda ist am Meeresufer an einen Felsen gekettet, als Sühneopfer für das Seeungeheuer Ketos. Perseus kommt vorbei, tötet Ketos, befreit Andromeda, heiratet sie und so weiter und so fort. Tja, und die Sopranistin, die Andromeda spielen sollte – ihr Name tut nichts zur Sache –, hätte man leicht für einen Schwergewichtsboxer halten können. Darum verfiel Toller auf die Idee, für die Szene mit dem angreifenden Ungeheuer ein Andromeda-Double einzusetzen – unsere Miss Bull. Dazu gab es ein tatsächlich sehr beeindruckendes Schattenspiel – das Ungeheuer wurde nach orientalischer Art auf die Rückwand projiziert –, es war enorm. Perseus stand vorne auf der Bühne und sang eine nicht enden wollende Tenorarie – gefühlte zwanzig Minuten –, während Andromeda in höchster Gefahr schwebte. Hinter den Kulissen jaulte und schrie die Sopranistin. Eine einzige Kakofonie, anders kann man das nicht nennen.«

»Was war denn so unschicklich an Miss Bulls Verkörperung der Andromeda?«, fragte Lysander neugierig.

»Sie war splitterfasernackt.«

»Oh. Verstehe. Dann …«

»Nun ja, sie hatte so einen halb durchsichtigen Gazestreifen um. Dennoch blieb der Phantasie nichts überlassen.«

»Ganz schön mutig.«

»An Wagemut fehlt es unserer Miss Bull nicht. Aber Sie können sich den Skandal vorstellen. Das Getöse. Das Theater wurde geschlossen, jedes Plakat in Fetzen gerissen. Dem armen Toller wurde alles Mögliche zur Last gelegt – Sittenlosigkeit, Obszönität, Pornographie. Sie haben ihn jedes erdenklichen Verbrechens bezichtigt.« Bensimon zuckte mit den Schultern. »Und so hat er sich eben umgebracht.«

»Wie bitte?«

»Ja. Er hat sich gleich an Ort und Stelle aufgehängt – in der Hölle. Ein höchst dramatischer Abgang. Und traurig, natürlich.«

Beide ließen das Plakat eine Weile stumm auf sich wirken. Die Ähnlichkeit mit Miss Bull war unbestreitbar, wie Lysander nun erkannte, als er nicht mehr Andromedas nackten Körper, sondern ihr Gesicht betrachtete.

»Ich muss jetzt los«, erklärte Bensimon. »Zu einem hochoffiziellen Diner, darum habe ich mich so in Schale geworfen. Dutzende von Ärzten, ich kann mein Glück kaum fassen. Haben Sie Miss Bull schon gesehen?«

»Nein«, sagte Lysander. Sie blickten sich im überfüllten Saal um. Plötzlich sah er sie – ihre zierliche kleine Gestalt. »Da ist sie.« Er zeigte in ihre Richtung.

»Wir sollten ihr Guten Tag sagen«, regte Bensimon an, und sie bahnten sich einen Weg quer durch den Raum.

Miss Bull war von drei Männern umgeben. Lysander stellte fest, dass sie eine kirschrote Pluderhose im Haremstil trug, ein Bolerojäckchen aus schwarzem Satin mit Strassknöpfen sowie einen Kragen mit Krawatte. Ihre Haarmassen hatte sie mit unzähligen Schildpattkämmen locker aufgesteckt. Von ihrer Schulter hing eine kleine bestickte Tasche an einer geflochtenen Kordel, die ihr fast bis zu den Knien reichte. Als sie sich umdrehte, um ihn und Bensimon zu begrüßen, hörte Lysander in Bodennähe ein leises Klimpern und senkte den Blick: An ihre Schuhspitzen waren silberne Glöckchen genäht. Bensimon verabschiedete sich und ging. Miss Bull wandte sich Lysander zu. Diese riesigen braungrünen Augen.

»Wie finden Sie Udos Bilder?«, fragte sie.

»Sie gefallen mir. Sehr. Wirklich.«

Miss Bull starrte ihn eindringlich an, schien aber in ruhiger, stabiler Verfassung zu sein. Vielleicht hatte sie erneut Dr. Bensimons Medizin eingenommen. Das Jäckchen mit dem Kragen und der Krawatte verlieh ihr etwas Androgynes.

»Das müssen Sie ihm schon selbst mitteilen«, sagte sie und schritt mit klingelnden Füßen auf einen Mann zu, der wenige Meter entfernt stand, im Gespräch mit zwei Frauen, die große Schlapphüte trugen. Sie berührte seinen Ellbogen und führte ihn zu Lysander.

»Udo Hoff – Mr Lysander Rief.«

Er schüttelte dem Künstler die Hand. Hoff war ein stark untersetzter, stämmiger Mann in den Dreißigern, kleiner als Lysander, mit ungeheuer breiter Brust und breitem Kreuz, rasiertem Schädel und rotbraunem Spitzbart. Er wirkte übertrieben muskulös, wie ein Zirkus-Kraftmensch, als könnten seine gespannten Hemdknöpfe jederzeit platzen. Sein Stiernacken sprengte schier den Kragen.

»Mr Rief lässt sich auch von Dr. Bensimon behandeln«, erklärte Miss Bull. »So haben wir uns kennengelernt.«

Lysander wünschte, das hätte sie für sich behalten, weil Hoff ihn nun feindselig von Kopf bis Fuß musterte und sich ein gewisser Hohn auf seinem Gesicht abzeichnete.

»Aha, die Wiener Kur«, sagte er. »Ist das in London etwa der letzte Schrei?« Er hatte eine gute englische Aussprache.

»Nein, keineswegs«, wehrte Lysander ab. Der Mann war offensichtlich darauf aus, ihn zu provozieren. Also würde er seinen Charme spielen lassen. Sich von seiner angenehmen und erfreulichen Seite zeigen. Frau K wäre stolz auf ihn.

»Ich bewundere Ihre Arbeit wirklich sehr. Starke Bilder. Absolut fesselnd.«

Hoff wedelte mit der Hand, als wollte er eine lästige Fliege verscheuchen.

»Wie gefällt Ihnen unsere Stadt?«, fragte er tonlos.

Lysander überlegte, ob das wohl ein Scherz oder eine Fangfrage war. Er entschied sich, die Frage ernst zu nehmen.

»Sehr gut. Als ich vorhin auf dem Weg hierher den Ring entlangging, war ich wieder zutiefst beeindruckt. Die Bauten sind einfach grandios, und das Ganze so großzügig angelegt wie sonst in keiner –«

»Sie mögen den Ring?«, fragte Hoff zweifelnd.

»Und wie. Ich finde ihn –«

»Sie wissen aber, dass diese Gebäude praktisch neu sind? Keines zählt mehr als ein paar Jahrzehnte, wenn überhaupt.«

»Meinen Reiseführer habe ich aufmerksam geles-«

Da bohrte Hoff ihm doch tatsächlich einen Finger in den Arm, mit zerquältem Stirnrunzeln und zirkumflexartig erhobenen Augenbrauen.

»Ich verabscheue den Ring«, sagte Hoff mit leicht bebender Stimme. »Der Ring ist eine groteske Zurschaustellung bourgeoisen Größenwahns. Er ist eine Beleidigung fürs Auge, ein Verstoß gegen Anstand, Ehre und Tradition. Ich kann seinen Anblick nicht ertragen. Neue Bauten, die als altehrwürdige Monumente posieren. Eine Schande. Wir Wiener Künstler sind uns ständig dieser Schande bewusst.« Er stieß Lysander noch einmal an, wie um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, und ging weg.

»Du liebe Zeit … tut mir leid«, sagte Lysander zu Miss Bull. »Ich hatte ja keine Ahnung, dass dieses Thema so heikel ist.«

»Es ist nun mal so, das Künstlervölkchen darf dem Ring auf keinen Fall etwas abgewinnen«, erwiderte sie. Mit gesenkter Stimme fügte sie hinzu: »Obwohl ich das durchaus tue.«

»Ja, ich auch. In London haben wir nichts Vergleichbares.«

Sie hob den Kopf, um ihn anzusehen. Eine richtige Kindfrau, dachte Lysander, ich könnte sie ohne Weiteres auf dem Arm tragen.

»Wann kann ich Sie porträtieren?«, fragte Miss Bull. »Sie bleiben doch noch eine Weile in der Stadt?«

»Ich denke schon. Mit Dr. Bensimon lässt es sich recht gut an – und so bin ich bestimmt noch einen Monat da, mindestens.«

»Dann schauen Sie doch mal nachmittags in meinem Atelier vorbei, damit ich zur Vorbereitung ein paar Skizzen anfertigen kann.« Sie wühlte in ihrem Täschchen herum und kritzelte eine Adresse auf einen Fetzen Papier.

»Es liegt etwas außerhalb. Sie können mit der Bahn nach Ottakring fahren und vom Bahnhof aus laufen. Beim ersten Mal nehmen Sie zur Sicherheit vielleicht lieber einen Fiaker. Wie wäre es mit Montag um vier?«

»Also gut.« Lysander las die Adresse. War das klug? Doch irgendwie reizte es ihn. »Danke.«

Sie legte ihm die Hand auf den Arm. »Wunderbar. Sie haben ein ausgesprochen interessantes Gesicht.« Sie blickte sich um. »Ich sehe mal lieber nach Udo, für den Fall, dass er sich noch mehr aufregt. Bis Montag.« Lächelnd entfernte sie sich, und das Klingeln ihrer Glöckchen ging rasch im allgemeinen Gesprächslärm unter.

Eine große Zeit

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