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2 Miss Bull

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Dr. Bensimons Sprechstundenhilfe (eine schlanke Brillenträgerin von strengem Äußeren) hatte Lysander in ein kleines Wartezimmer geführt und ihn höflich auf die Tatsache hingewiesen, dass er rund vierzig Minuten zu früh erschienen war. Ob er sich noch so lange gedulden …? Mein Fehler – zu dumm. Kaffee? Nein danke.

Lysander setzte sich in einen niedrigen schwarzen Ledersessel ohne Armlehnen, einen von vier Sesseln in diesem Raum, die vor einem leeren Kamin mit Gipssims zu einem lockeren Halbkreis angeordnet waren, und unternahm einen weiteren Versuch, sich zu sammeln und seiner Aufregung Herr zu werden. Wie hatte er sich derart in der Uhrzeit irren können? Man hätte doch annehmen dürfen, dass dieser Konsultationstermin seinem Gedächtnis unauslöschlich eingeprägt war. Als er sich umsah, fiel ihm eine schwarze Melone auf, die an dem Garderobenständer in der Ecke hing. Sie gehörte wohl dem Patienten vor ihm. Bei diesem Anblick wurde ihm bewusst, dass er doch in den Park hätte zurückgehen können, um seinen Hut zu holen. Verdammt, dachte er. Leck mich am Arsch, dachte er ferner, aus Spaß an der Unflätigkeit. Immerhin hatte ihn die Kreissäge eine Goldguinea gekostet.

Er stand auf und betrachtete die Bilder an der Wand, allesamt Stiche von stattlichen Ruinen – moosbedeckt, von Unkraut und jungen Bäumen überwuchert –, lauter gestürzte Schlusssteine, zerbrochene Giebel und umgekippte Säulen, die vage vertraut wirkten. Kein einziger Künstler wollte ihm einfallen – eine weitere Bildungslücke. Er ging zum Fenster, das auf den kleinen Innenhof des Wohngebäudes hinausging. Dort wuchs ein Baum – eine Platane, wenigstens konnte er ein paar Bäume bestimmen – inmitten eines Rasenstücks mit zertrampeltem, welkem Gras, eingehegt vom ehemaligen Kutschhaus und den Stallboxen; daraus trat nun eine alte Frau mit Schürze hervor, die an einem randvollen Kohleneimer schwer zu schleppen hatte. Er wandte sich ab und lief im Kreis, wobei er eine umgedrehte Ecke des verschlissenen Perserteppichs mit der Schuhspitze behutsam auf den Parkettboden zurückschlug.

Aus dem Vorzimmer drangen einige – auffallend laute, scharfe – Stimmen zu ihm, die Tür sprang auf, eine junge Frau kam herein und machte sie mit einem kräftigen Knall hinter sich zu.

»Entschuldigung«, sagte sie ungnädig, ohne ihn richtig anzusehen, dann setzte sie sich in einen der Sessel und wühlte energisch in ihrer Handtasche, bevor sie schließlich ein winziges Taschentuch herauszog und sich die Nase putzte.

Lysander trat leise wieder ans Fenster; er konnte das Unbehagen dieser Frau förmlich spüren, die Anspannung, die in Wellen von ihr ausging, als erzeugte ein innerer Dynamo dieses Fieber, diese Angst – das deutsche Wort war ihm erfreulich spontan in den Sinn gekommen.

Er drehte sich um, und ihre Blicke trafen sich. Solche Augen hatte er noch nie gesehen, durchscheinend helle braungrüne Augen. Und sie waren groß und weit – das Weiße, das die Iris umgab, deutlich erkennbar –, als betrachtete die junge Frau alles mit starker Intensität oder als stünde sie noch unter einem wie auch immer gearteten Schock. Ein hübsches Gesicht, dachte er – wohlgeformte Nase, spitzes, markantes Kinn. Olivbraune Haut. Ausländerin? Die Haare unter der ausladenden blutroten Baskenmütze waren hochgesteckt, und sie trug eine taubengraue Samtjacke zu einem schwarzen Rock. Am Revers prangte eine große Brosche aus rotem und gelbem Schellack in plumper Papageienform. Irgendwie künstlerisch, dachte Lysander. Schnürhalbstiefel, kleine Füße. Die junge Frau war tatsächlich sehr klein, sehr zierlich. Und sichtlich aufgeregt.

Er lächelte und wandte sich wieder dem Hof zu. Die stämmige alte Haushälterin stapfte nun mit ihrem leeren Kohleneimer zu den Ställen zurück. Wozu benötigte sie im Hochsommer so viel Kohle? Das konnte doch –

»Sprechen Sie Englisch?«

Lysander drehte sich um. »Ja, ich bin Engländer«, sagte er leicht argwöhnisch. »Wie sind Sie darauf gekommen?« Es ärgerte ihn, dass man ihm seine Nationalität offenbar an der Nasenspitze ansehen konnte.

»In Ihrer Tasche steckt eine Ausgabe des Graphic«, sagte sie und deutete auf die gefaltete Zeitung. »Das verrät einiges. Außerdem sind die meisten Patienten von Dr. Bensimon Engländer.« Ihre Sprechweise war kultiviert, offensichtlich war sie selbst Engländerin, ungeachtet ihres recht exotischen Teints.

»Haben Sie vielleicht eine Zigarette übrig?«, fragte sie. »Rein zufällig?«

»Zufällig ja, aber –« Lysander deutete auf ein Hinweisschild auf dem Kaminsims: Bitte nicht rauchen.

»Na klar. Darf ich Ihnen für später eine mopsen?«

Lysander zog sein Zigarettenetui aus der Jackentasche, klappte es auf und bot es der jungen Frau an. Sie nahm sich eine Zigarette, fragte: »Darf ich?«, und griff erneut zu, ohne seine Erlaubnis abzuwarten. Sie steckte beide Zigaretten in ihre Handtasche.

»Ich muss wirklich ganz dringend mit Dr. Bensimon sprechen«, sagte sie bestimmt, sachlich und nüchtern. »Hoffentlich macht es Ihnen nichts aus, wenn ich mich so einfach vordrängle.« Nun lächelte sie ihn an, so strahlend unschuldig, dass Lysander beinah geblinzelt hätte.

Genau genommen machte es ihm durchaus etwas aus, aber er sagte: »Keineswegs«, und erwiderte ihr Lächeln, etwas verunsichert. Wieder wandte er sich dem Fenster zu, berührte seinen Krawattenknoten und räusperte sich.

»Setzen Sie sich doch«, sagte die junge Frau.

»Ich möchte gern stehen. Diese niedrigen Sessel ohne Armlehne sind recht unbequem.«

»Ja, das sind sie in der Tat.«

Lysander überlegte, ob er sich vorstellen sollte, aber dann kam ihm der Gedanke, dass das Wartezimmer eines Arztes zu den Orten zählte, an denen die Menschen – lauter Fremde – vermutlich lieber anonym bleiben wollten; schließlich waren sie sich nicht in einer Galerie oder einem Theaterfoyer begegnet.

Er hörte ein leises Geräusch und sah sich um. Die Frau war aufgestanden und zu einem der Ruinen-Stiche gegangen (wie hieß der Künstler nur?), sie benutzte das Glas als Spiegel, um lose Haarsträhnen unter die Mütze zu stecken und ein paar flaumige Löckchen vor die Ohren zu ziehen. Lysander fiel auf, dass ihre kurze Samtjacke die Rundung von Hüften und Hintern unter dem schwarzen Rock zur Geltung brachte. Trotz ihrer fast acht Zentimeter hohen Absätze war sie sehr klein.

»Was starren Sie so?«, fragte sie abrupt, als sie seinen Blick in der Spiegelung auffing.

»Ich habe Ihre Stiefel bewundert«, reagierte Lysander schlagfertig. »Haben Sie sie hier in Wien gekauft?«

Er sollte keine Antwort bekommen, da im selben Moment die Tür zu Dr. Bensimons Sprechzimmer aufging und zwei Männer plaudernd und lachend heraustraten. Lysander wusste auf Anhieb, welcher der beiden Dr. Bensimon war, ein Mann Ende vierzig, fast kahl mit braungrau meliertem Stutzbart. Der andere konnte Lysanders Ansicht nach nur beim Militär sein. Marineblauer Zweireiher, Querbinder unterm steifen Kragen, schmale Hose mit Aufschlägen, die Schuhe so blank poliert, dass es nach Lackleder aussah. Hochgewachsen, asketisch hager, mit einem gepflegten schmalen dunklen Schnurrbart.

Die junge Frau geriet sofort außer sich, fiel den Männern ins Wort, rief lautstark Dr. Bensimons Namen, bat ihn um Entschuldigung und bestand zugleich darauf, umgehend mit ihm zu sprechen, es sei wirklich dringend, ein Notfall. Der soldatisch anmutende Mann wich zurück, als Dr. Bensimon – mit einem Seitenblick zu Lysander – die quengelnde Patientin in sein Sprechzimmer schob; Lysander hörte ihn mit leiser strenger Stimme zu ihr sagen: »Das darf unter keinen Umständen wieder vorkommen, Miss Bull«, bevor die Tür hinter ihnen zufiel.

»Gütiger Himmel«, sagte der mutmaßliche Soldat trocken. Er war ebenfalls Engländer. »Was ist denn hier los?«

»Sie schien in der Tat ein wenig verstört zu sein«, sagte Lysander. »Hat zwei Zigaretten bei mir geschnorrt.«

»Was sind das nur für Zeiten?«, bemerkte der Mann und nahm seine Melone vom Haken. Mit dem Hut in der Hand sah er Lysander offen an.

»Kennen wir uns nicht?«, fragte er.

»Nein, ich denke nicht.«

»Sie kommen mir so merkwürdig bekannt vor.«

»Vielleicht ähnele ich einem Ihrer Bekannten.«

»Kann gut sein.« Er streckte die Hand aus. »Ich heiße Alwyn Munro.«

»Lysander Rief.«

»Diesen Namen habe ich aber bestimmt schon mal gehört.« Er zuckte die Achseln, neigte den Kopf zur Seite, kniff die Augen zusammen, als versuchte er, sich zu erinnern, dann gab er lächelnd auf und ging zur Tür. »An Ihrer Stelle würde ich die junge Dame nicht mehr mit Zigaretten füttern. Ich halte sie für nicht ganz ungefährlich.«

Als er weg war, setzte Lysander seine eingehende Betrachtung des trostlosen kleinen Hofs fort. Er sog jede erdenkliche Einzelheit in sich auf – das Würfelmuster der Pflastersteine, den Zahnfries im Bogen über der Stalltür, einen feuchten Streifen auf der Backsteinmauer, unterhalb eines tropfenden Wasserhahns. Darauf richtete er seine ganze Konzentration. Ein paar Minuten später kam die junge Frau wieder aus Dr. Bensimons Sprechzimmer, deutlich ruhiger und gefasster. Sie nahm ihre Handtasche.

»Danke, dass ich mich vordrängeln durfte«, sagte sie munter. »Und für die Glimmstängel. Sie sind sehr nett.«

»Nicht der Rede wert.«

Sie verabschiedete sich und trottete mit wehendem langem Rock von dannen. Bevor sie die Tür hinter sich schloss, warf sie ihm noch einen Blick zu, sodass Lysander einen letzten Eindruck dieser eigenartigen, durchscheinend braungrünen Augen bekam. Die Augen eines Löwen, dachte er. Im Namen trug sie aber den Bullen.

Eine große Zeit

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