Читать книгу Eine große Zeit - William Boyd - Страница 17

14 Die Fabulierfunktion

Оглавление

»Ich habe Ihr Büchlein gelesen«, sagte Lysander und streckte sich auf dem Diwan aus. »Hochinteressant. Ich glaube, ich habe das Prinzip verstanden. Mehr oder weniger.«

»Es geht vor allem darum, die eigene Vorstellungskraft einzusetzen«, antwortete Dr. Bensimon. »Heute werde ich die Vorhänge schließen, wenn Sie nichts dagegen haben.«

Lysander hörte ihn die Vorhänge an allen drei Fenstern zuziehen, und dann wurde das Zimmer dunkel und schummrig, nur noch von der Lampe auf Bensimons Schreibtisch beleuchtet. Als der Arzt zu seinem Stuhl zurückkehrte, huschte sein gewaltiger Schatten über die Wand neben dem Kamin.

Nach allem, was Lysander verstanden hatte, besagte Bensimons Parallelismus-Theorie, dass die Wirklichkeit an sich neutral war – »karg« war sein wiederkehrender Ausdruck. Ohne die Wahrnehmung durch unsere Sinne war die Welt nichts als ein Skelett, armselig, ohne jede Regung. Sobald wir die Augen öffneten, sobald wir anfingen zu riechen, zu hören, zu berühren und zu schmecken, verliehen wir den Knochen Fleisch, entsprechend unserem Charakter und der Wirksamkeit unseres Vorstellungsvermögens. So verwandelt das Individuum »die Welt« – im Geist webt es seine eigene bunte Decke, die es über die neutrale Wirklichkeit breitet. Diese Welt wird von uns jeweils als eine »Fiktion« erschaffen, sie gehört nur uns allein, sie ist einzigartig und man kann sie mit keinem anderen teilen.

»Mir kommt der Gedanke, dass die Welt ›fiktiv‹ sein soll, ein wenig problematisch vor«, sagte Lysander zögerlich.

»Aber das liegt auf der Hand«, entgegnete Bensimon. »Sie wissen doch, wie sich das anfühlt, wenn Sie gut gelaunt aufwachen. Die erste Tasse Kaffee schmeckt besonders köstlich. Und wenn Sie spazieren gehen, nehmen Sie die Farben wahr, die Klänge, Sie genießen den Anblick eines Sonnenstrahls auf einer alten Ziegelmauer. Wenn Sie hingegen lustlos und traurig aufwachen, haben Sie keinen Appetit. Ihre Zigarette schmeckt bitter und kratzt in der Kehle. Unterwegs reizt Sie das Scheppern der Tram, die Passanten sind hässlich und rücksichtslos. Und so weiter. Das Ganze passiert, ohne dass wir einen Gedanken daran verschwenden – und ich versuche, diese Fähigkeit, die wir alle in uns tragen, ins Bewusstsein zu rücken, sie uns vor Augen zu führen.«

»Verstehe.« So betrachtet, fand Lysander das durchaus nachvollziehbar.

Bensimon fuhr fort: »Und so ergänzen wir menschliche Wesen die Welt mit dem, was der französische Philosoph Bergson la fonction fabulatrice nennt. Die Fabulierfunktion. Kennen Sie Bergsons Schriften?«

»Äh, nein.«

»Ich habe diesen Gedanken gewissermaßen von ihm übernommen und aufbereitet. Die Welt, unsere Welt, stellt für jeden von uns eine einzigartige Verbindung – Vermischung, Verschmelzung – von individueller Vorstellung und Wirklichkeit dar.«

Lysander schwieg, den Blick auf das Flachrelief über dem Kamin gerichtet, und fragte sich, wie der Parallelismus ihn von seiner Anorgasmie heilen könnte.

Bensimon ergriff wieder das Wort. »Sie kennen doch das alte Sprichwort: ›Die Götter Afrikas sind immer Afrikaner.‹ Das ist die Fiktion, die der afrikanische Geist ersonnen hat – seine ureigene Verbindung von Vorstellung und Wirklichkeit.«

Das erklärte vielleicht das Flachrelief, dachte Lysander.

»Dieses Beispiel leuchtet mir ein«, sagte er, noch auf der Hut. »Ein afrikanischer Gott kann sicher kein Chinese sein. Aber wie soll man das auf mein spezielles Problem anwenden?«

Lysander hörte, wie Bensimon seinen Stuhl vom Schreibtisch wegzog und am Fußende des Diwans abstellte. Hörte das Leder knarren, als er sich setzte.

»Genau so«, antwortete Bensimon. »Wenn unsere Alltagswelt, unsere alltägliche Wirklichkeit eine selbstgeschaffene Fiktion ist, gilt das auch für unsere Vergangenheit – sie besteht aus lauter fiktiven Begebenheiten, die wir bereits durchlebt haben –, für unsere Erinnerungen. Ich würde Sie nun gern dazu bringen, diese alten Geschichten zu ändern, die Sie mit sich herumschleppen.«

Das überstieg allmählich sein Fassungsvermögen, dachte Lysander.

»Ich werde Sie in eine ganz leichte, ganz seichte Hypnose versetzen. Darum ist das Zimmer verdunkelt. Schließen Sie bitte die Augen.«

Lysander gehorchte.

Bensimons Stimme wurde tiefer, er verfiel in eine eigenartig monotone Sprechweise. Er artikulierte sehr langsam und deutlich.

»Entspannen Sie sich. Versuchen Sie, sich voll und ganz zu entspannen. Sie liegen still und regungslos da. Das Gefühl von Entspannung spüren Sie zunächst in Ihren Füßen. Langsam steigt es Ihre Beine hinauf. Sie spüren es in den Waden. Jetzt hat es Ihre Knie erreicht … Ihre Oberschenkel … Atmen Sie so langsam wie möglich. Ein – aus. Ein – aus. Es steigt immer höher hinauf, jetzt ist es in Ihrer Brust, breitet sich in Ihrem ganzen Körper aus. Sie sind vollkommen entspannt.«

Lysander wurde von einer Art Schwindel erfasst. Er war zwar bei vollem Bewusstsein, hatte aber das Gefühl, so gut wie gelähmt zu sein, als könnte er keinen Finger rühren, und ein paar Zentimeter über der Diwandecke zu schweben. Bensimon fing an, mit seiner tiefen, monotonen Stimme rückwärts zu zählen.

»Zwanzig, neunzehn, achtzehn … Sie sind vollkommen entspannt … fünfzehn, vierzehn, dreizehn …«

Nun fühlte sich Lysander von Müdigkeit übermannt, seine Augen waren fest geschlossen, Bensimons Stimme klang merkwürdig entfernt und gedämpft, während er bis null zählte.

»Denken Sie an diesen Tag zurück«, fuhr Bensimon fort. »Sie sind noch ein Junge, vierzehn Jahre alt. Sie tragen Ihr Buch bei sich, ›Der Lockenraub‹. Sie laufen durch den umfriedeten Garten. Sie grüßen die Gärtner. Sie steigen über den Zauntritt in den Wald. Es ist ein herrlich sonniger Tag, warm und lind, die Vögel singen. Sie gehen in den Wald und setzen sich am Fuß einer uralten Eiche. Sie fangen an zu lesen. Die Sonne wärmt Sie. Sie nicken ein. Bald schlafen Sie. Sie schlafen zwei Stunden lang, Sie kommen zu spät zum Tee. Sie wachen auf. Sie nehmen das Buch und gehen zum Haus zurück, wo Ihre Mutter auf Sie wartet. Sie entschuldigen sich für die Verspätung, und dann gehen Sie beide ins Wohnzimmer, um Tee zu trinken …«

»Öffnen Sie die Augen.« Bensimon klatschte einmal kurz. Zweimal.

Lysander reagierte sofort, auf einmal war er angespannt, hatte für einen Augenblick vergessen, wo er sich befand. Er war eingeschlafen. Hatte er etwas Entscheidendes verpasst? Bensimon zog die Vorhänge auf, und das Zimmer wurde wieder von Tageslicht erfüllt.

»Bin ich eingeschlafen? Tut mir leid, wenn ich –«

»Nur ein paar Sekunden. Das ist ganz natürlich. Sie werden sich an alles erinnern, was ich gesagt habe.«

»Ich weiß noch, dass ich mich entschuldigt habe, weil ich zu spät zum Tee erschienen bin.«

»Richtig.« Bensimon kam auf ihn zu. »Sie waren nicht in Trance. Sie haben sich nur in eine Parallelwelt hineinversetzt. Eine Welt, in der Sie an einem sonnigen Nachmittag im Wald eingeschlafen, wieder aufgewacht und zum Tee nach Hause gegangen sind. Konzentrieren Sie sich auf diesen Tag in Ihrer Parallelwelt. Statten Sie ihn mit Details aus und konzentrieren Sie sich auf die Gefühle, die der Tag ausgelöst hat. Nutzen Sie Ihre fonction fabulatrice. In dieser Parallelwelt ist gar nichts vorgefallen. Vorstellung und Wirklichkeit verschmelzen zur Fiktion, die uns am Leben erhält. Jetzt haben Sie eine Alternative.«

Lysander bestellte sich einen Cognac im Café Central. Er dachte über das nach, was in der Sitzung passiert war, und befolgte Bensimons Anweisung, sich den Details der von ihm geschaffenen Parallelwelt zu widmen – des sonnigen Tages, an dem nichts vorgefallen war, abgesehen davon, dass er über seinem Buch eingeschlafen war, als er in Claverleigh Wood unter einer Eiche lag. Ja, er konnte sich selbst beim Aufwachen zusehen, wie er sich die Augen rieb, sich leicht steifbeinig und schwankend aufrichtete, sein Buch aufhob und nach Hause ging. Über den Zauntritt, durch den umfriedeten Garten – die Gärtner waren alle fort – und durch eine Seitentür ins Gutshaus hinein, wie er die Stufen zum grünen Salon hinaufpolterte, wo seine Mutter wartete und der runde Tisch zum Tee gedeckt war. Er dachte – ja, sie hat nach frischem heißem Wasser geläutet, um die Kanne zu wärmen, weil ich mich verspätet habe und der Tee kalt geworden ist. Für mich gibt es gebutterte Toastdreiecke mit Erdbeerkonfitüre und eine Scheibe Kümmelkuchen, mein Lieblingsgebäck. Ich setze mich und wische mir einen Grashalm von der Hose. Meine Mutter nimmt die silberne Teekanne – nein, es ist die hellgrüne Porzellankanne mit dem Efeurankenmuster und dem angeschlagenen Deckel – und fragt, während sie mir eine Tasse Tee einschenkt: »Wie kommst du mit der Lektüre voran, mein Schatz?«

Lysander wollte das Cognacglas an die Lippen führen und hielt mitten in der Bewegung inne. Es war so echt. Vollkommen echt und in seiner Sicht vollkommen wahr. Er hatte sich ganz bewusst in eine Parallelwelt versetzt und seine Vorstellungskraft zur Anwendung gebracht. Erstaunlich. Seine Mutter trug … Was? Einen orangeroten Hausmantel mit Fledermausärmeln. Einen Jade-Armreif, der klirrend an ihre Tasse stieß. Stevens, der Lakai, räumte das Tablett ab. Es war so leicht. Wie hieß das noch? Seine fonction fabulatrice. Er hatte eine vertraute Welt erschaffen und einen Tag ohne Widrigkeiten gestaltet. Er verspürte reines Glück … Vielleicht sollte er mehr von diesem Bergson lesen. Er nippte an seinem Cognac, genoss die Wärme, die seine Kehle hinunterrann, die samtige, rauchige Süße, und lächelte vor sich hin.

Eine große Zeit

Подняться наверх