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15 Das Atelier in Ottakring

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Am Morgen fand Lysander einen Brief von Blanche vor. Als er ihn aufriss, stieg ihm flüchtig ein Resthauch von Rosenwasser in die Nase, ihrem bevorzugten Parfum. Vier Seiten lila Briefpapier, dicht beschrieben mit ihrer großen, zackigen Klaue.

Mein Allerliebster,

»June in Flammen« wird ein Riesenerfolg – ich habe im Gefühl, dass es über Monate laufen wird. Wann kommst Du nach Hause? Fühlst Du Dich jetzt wohler in Deiner Haut? Dein kleines Kätzchen möchte sich wieder in Deinen Schoß kuscheln. Ich habe eine Rolle in einem »Streifen« ergattert – ist das nicht unglaublich? Dafür gibt es richtig gutes Geld. Du musst unbedingt Probeaufnahmen machen, wenn Du wieder da bist. Es ist kinderleicht – man braucht keinen Text zu lernen! Du hast genau das passende Gesicht dafür, außerdem ist das spaßig und macht nicht die geringste Mühe, gemessen an dem, was wir Abend für Abend auf der Bühne leisten –

Lysander legte den Brief weg, er würde ihn später zu Ende lesen. Es ärgerte ihn, dass Blanche auf keine einzige seiner Fragen eingegangen war. Briefe waren doch dazu da, eine Art Zwiegespräch zu führen, sich gegenseitig auszutauschen – für Blanche schien es sich aber um eine Art Einbahnstraße zu handeln, sie gab einfach ihre Gefühle zum Besten und erzählte von sich, ohne im Geringsten zu berücksichtigen, was er ihr mitgeteilt hatte. Wenn er Blanche schrieb, hatte er stets ihren jüngsten Brief parat. Eine Korrespondenz lebte vom Dialog, Monologe – und seien sie noch so lebhaft und persönlich – waren nicht gerade interessant.

Seine etwas gereizte Stimmung hielt an, als er zur Stadtbahnhaltestelle lief und eine Rückfahrkarte nach Ottakring löste. Während der kleine Zug seinem Ziel auf einer Zweigstrecke entgegentuckerte, sah Lysander auf Wiens westliche Vororte hinaus. Auf einmal hatte er keine Lust mehr, Miss Bull Modell zu stehen und sich von ihr zeichnen zu lassen – warum hatte er sich nur darauf eingelassen? Miss Bull war allerdings hartnäckig, man konnte ihr schwer widerstehen – so viel war ihm bereits klar geworden.

In Ottakring zeigte er einem Fiaker die Adresse des Ateliers und stieg in die Kutsche. Sie klapperten weiter nach Westen, an Schrebergärten, Apfelplantagen und einem großen Friedhof mit Staketenzaun vorbei, bevor sie in einen schlammigen Feldweg einbogen. Der Fiaker hielt vor einem leuchtend scharlachrot gestrichenen Tor, Lysander stieg aus und entrichtete das bescheidene Fahrgeld. Er dachte bereits an die Heimreise: Vom Bahnhof aus war das natürlich kein Problem gewesen, aber wie sollte er dorthin zurückkehren? Er würde eine Stunde bleiben – keine Sekunde länger.

Vom Tor aus führte ein Ziegelpfad zu einer alten Steinscheune am Rand einer baumbestandenen Weide, auf der zwei Shirepferde grasten. Der Scheuneneingang war von Blumentöpfen mit bunten Zinnien und Margeriten umstellt. Lysander drückte das Tor auf und löste damit eine laute Messingglocke aus, die an einer geschwungenen Metallstange montiert war. Miss Bull tauchte fast umgehend im Türrahmen auf und schüttelte ihm die Hand. Sie trug einen knielangen Leinenkittel, der mit Ton- und Gipsspritzern übersät war.

»Sie sind es ja tatsächlich, Mr Lysander Rief. Ich kann es gar nicht glauben!«, rief sie und führte ihn in das Atelier.

Die alte Scheune war zu einer geräumigen, fenster- und deckenlosen Bildhauerwerkstatt umgebaut worden. Man hatte einen großen Teil des Ziegeldachs durch Glasscheiben ersetzt. In einer Ecke stand ein großer, breiter Gusseisenofen mit einem hohen, schmalen Rauchrohr, das mehrfach gewinkelt bis zum Dach reichte. Tapeziertische reihten sich an einer Wand entlang, bedeckt mit Brettern und Töpfen und Holzblöcken von unterschiedlicher Größe. An einem Ende stapelten sich Innengerüste aus gebogenem Draht. In einer anderen Ecke befand sich eine Sitzgruppe – vier Rohrsessel um einen niedrigen Tisch mit bunter Decke und einem Krug Anemonen. Mitten im Raum stand auf einem hohen Drehbock die grobe, etwa neunzig Zentimeter große Tonskulptur eines kauernden Minotaurus – ein stumpfer Rinderkopf mit stummelartigen Hörnern, der einem massigen, muskulösen Leib aufgesetzt war. Daneben stand ein Podest, mit einem eigens zugeschnittenen Teppichstück ausgelegt. Lysander sah sich um.

»Wunderbares Licht«, sagte er im Glauben, dies sei die passende Bemerkung beim Betreten eines Künstlerateliers.

Als Miss Bull ihren Kittel ablegte, kamen eine cremeweiße Muselinbluse und ein wadenlanger schwarzer Sergerock zum Vorschein. An den Füßen trug sie Holzschuhe. Ihre zerzausten dunklen Haare waren nachlässig hochgesteckt, mit etlichen langen losen Strähnen. Nirgends waren Gemälde zu sehen.

»Arbeitet Hoff auch hier?«, fragte Lysander.

»O nein. Wir wohnen auf der anderen Seite des Feldes, einen knappen Kilometer entfernt. Udos Familiensitz. Wir haben versucht, zu zweit in seinem Atelier zu arbeiten, aber das war eine Katastrophe – wir haben uns nur gestritten. Darum habe ich diese alte Scheune gemietet und halbwegs instandgesetzt.« Sie deutete nach oben. »So habe ich vernünftiges Licht.« Dann zeigte sie auf eine Tür am hinteren Ende. »Dort ist ein Schlafzimmer, falls ich mich zwischendurch mal hinlegen möchte, außerdem noch eine kleine Küche. Der Donnerbalken ist draußen hinterm Haus.«

»Sehr hübsch.« Er korrigierte sich: »Perfekt.«

»Trinken Sie einen Madeira mit.« Sie ging zu den Tapeziertischen und schenkte den Wein in zwei kleine Bechergläser ein. Lysander folgte ihr, und sie stießen miteinander an, ehe sie tranken. Eigentlich mochte er keinen Likörwein – Sherry, Porto und dergleichen – und spürte über einem Auge sofort die ersten Anzeichen leichter Kopfschmerzen.

»Beeindruckend.« Er wies auf den kauernden Minotaurus.

»Ich werde ihn in Bronze gießen«, sagte Miss Bull. »Falls ich es mir leisten kann. Dafür hat Udo Modell gestanden – nie wieder. Dieses ewige Gejammer. Während ich ständig nackt für ihn posiere. Das ist einfach ungerecht.« Sie stellte ihr Glas ab und nahm einen großen Skizzenblock sowie ein Stück Zeichenkohle in die Hand. »Also, was meinen Sie – wollen wir mit der Arbeit anfangen?«

»Soll ich mich auf das Podest stellen?«

»Ja. Aber Sie müssen sich erst ausziehen.«

Lysander lächelte reflexartig, er hielt das für einen von Miss Bulls typischen zweideutigen Scherzen.

»Ausziehen?«, sagte er. »Sehr witzig.«

»Meine Skulpturen handeln von nackten Körpern. Es hätte also keinen Sinn, Sie in Ihren Kleidern zu zeichnen.« Lächelnd zeigte sie auf die Tür am hinteren Ende des großen Raums. »Sie können sich dort ausziehen.«

»Gut. Schön.«

Das Schlafzimmer war klein und schlicht mit weiß getünchten Wänden und einem rauen Dielenboden, auf dem ein Flickenteppich lag. Es gab ein schmales Eisenbett mit einer braunen Decke und eine Kommode mit einem einfachen Waschkrug samt Schüssel. Auf dem Brett des kleinen Fensters, das auf einen unkrautüberwucherten Gemüsegarten hinausblickte, stand ein Einmachglas mit getrockneten Gräsern, das einzig Persönliche in diesem Raum.

Lysander blieb unschlüssig in der Mitte stehen. Was wurde hier eigentlich gespielt? Kurz überlegte er, ob er nicht einfach die Tür öffnen, hinaustreten und Miss Bull mitteilen sollte, er könne ihrem Wunsch nicht entsprechen und müsse nun dringend gehen. Er wusste jedoch, dass Miss Bull ihn dafür verachten würde. Und er wollte nicht, dass sie ihn für einen Schnösel oder verklemmten Wichtigtuer hielt. Er schob seine Zweifel beiseite und begann, sich auszuziehen.

Als er nur noch in Strümpfen und Unterhose dastand, verursachte ihm die Kühnheit seines Unterfangens ein gewisses Prickeln. Er warf einen Blick auf seine Sachen, die ordentlich auf dem Bett abgelegt waren. Letzte Chance. Er streifte seine Strümpfe ab und zupfte an der Bundschleife. Kaum war die Unterhose gefallen, wurde ihm im Lendenbereich kalt. Neben der Kommode hing ein Handtuch, das band er sich um die Hüfte und kehrte ins Atelier zurück. Miss Bull saß in einem Rohrsessel, den sie näher an das Podest herangeschoben hatte. Sie streckte ihm etwas entgegen, das wie eine kleine Lederschleuder aussah.

»Ist mir eben erst eingefallen. Vielleicht hätten Sie lieber ein Cachesexe? Mir ist es egal.«

»Aber nein. Au naturel – macht für mich keinen Unterschied.«

Er stieg auf das Podest, spürte den kratzigen Teppich unter seinen Fußsohlen und merkte, dass ihm das Herz auf einmal bis zum Hals schlug.

»Ich wäre dann so weit«, sagte Miss Bull ruhig.

Er ließ das Handtuch fallen und richtete den Blick auf das rußige Rohr, das ihm gegenüber aus dem Ofen ragte, dann hörte er nur noch das hurtige Kratzen der Zeichenkohle auf Miss Bulls Skizzenblock. Er straffte die Schultern und nahm sich erneut vor, sich endlich zu entspannen. Er war zwar nicht besonders groß, aber er wusste, dass er dank seiner schmalen Hüften und breiten Schultern eine gute Figur hatte – jedenfalls überhäufte ihn sein Schneider stets mit Komplimenten. »Das klassische männliche Schönheitsideal, Mr Rief. Sie sollten mal meine anderen Kunden sehen. Ein Bild des Jammers!«

»Könnten Sie sich ganz leicht nach links drehen? Wunderbar.«

Lysander drehte sich und versuchte, sich als griechischen Olympioniken zu sehen, als Diskuswerfer oder Speerschleuderer, der entkleidet zu den Spielen antrat. Wozu machte man überhaupt so viel Aufhebens vom nackten menschlichen Körper? Allein im Bereich der Kunst war er im Übermaß vertreten – man denke nur an die Akte, die seit jeher gemalt wurden, die unbekleideten Statuen in öffentlichen Parks, Michelangelos David, die unzähligen Venusbilder und Götter und Gladiatoren mit entblößtem Hintern. Er atmete tief ein und ließ seine Finger leicht über die Oberschenkel streifen. Entspann dich, entspann dich, entspann dich.

»Könnten Sie die Hände in die Hüften stemmen?«

Das tat er und kniff dabei unwillkürlich die Pobacken zusammen, plötzlich von der Vorstellung ernüchtert, dass Udo Hoff sein Atelier verlassen und das Feld durchqueren könnte, um bei seiner Geliebten nach dem Rechten zu sehen … Daran darfst du gar nicht denken. Lass dir eine Parallelwelt einfallen, deine Parallelwelt … Er blendete sämtliche Gedanken aus.

Er hörte die Sesselbeine kurz über den Boden schleifen und das Klappern von Miss Bulls Holzschuhen – sie ging weg und kam wieder.

»Wollen wir eine Pause machen?«, fragte sie. »Sie haben sich ein weiteres Glas Madeira verdient.«

Nun konnte er sie ansehen. Da stand sie und reichte ihm lächelnd das Glas. Er bückte sich nach dem Handtuch, hielt es sich locker vor und stieg vom Podest, um ihr das Glas abzunehmen. Erst dann fiel ihm auf, dass er sich das Handtuch nicht umbinden konnte, weil er keine Hand mehr frei hatte – ach, was soll’s, dachte er. Er genoss die Situation – sie hätten ebenso gut am Tresen eines Cafés stehen und miteinander plaudern können. Miss Bull wirkte völlig gelassen. Für sie war es natürlich nur eine von vielen Aktklassen.

»Sie haben schön stillgehalten.«

»Danke.«

»Als wäre es nicht das erste Mal.«

»Ist es aber. Definitiv.« Er nahm einen großen Schluck Madeira und dann gleich den nächsten – zu süß für seinen Geschmack, aber er brauchte jetzt eine kleine Stärkung.

»Möchten Sie sehen, was ich gemacht habe?« Miss Bull hielt ihm mit einem eigentümlichen Lächeln den Skizzenblock hin. Es kam ihm so absurd wie selbstverständlich vor, dass er sich nackt in diesem Raum befand, mit nichts als einem Handtuch, um »seine Blöße zu bedecken«, wie es so schön hieß, keinen Meter entfernt von einer jungen Frau, die mit Muselinbluse, Sergerock und Holzschuhen vollständig bekleidet war. Sie nahm ihm das Glas ab und drückte ihm den Block in die Hand.

Lysander betrachtete die Zeichnung. Sehr plastisch und detailliert, sie hatte die Kohle mit den Fingerspitzen verrieben, um Schattierungen zu erzeugen. Eine kraftvolle, sichere Hand, eine hervorragende Zeichnerin. Es schnürte ihm die Kehle zu, und ein Schauer lief ihm über den Rücken.

Er räusperte sich. »Wie würden Sie das bezeichnen? Als ›Männliche Genitalstudie‹?«

»Ihre Vorhaut ist ziemlich kurz, ist mir aufgefallen«, sagte sie in vertraulich leisem Ton. »Zunächst dachte ich, Sie sind beschnitten, wie Udo.« Sie tat einen Schritt auf ihn zu. »Doch bei näherem Hinsehen habe ich festgestellt, dass Sie das nicht sind.«

»Nein, ich bin nicht beschnitten«, brachte er mühsam hervor, während sich eine Wärmewelle über seine Brust ausbreitete – erst jetzt zeigte der Madeira Wirkung. Sein Penis regte sich und schwoll an, als reagierte er bewusst auf den Umstand, dass von ihm die Rede war.

Miss Bull senkte den Blick unterhalb seiner Gürtellinie und schob das herabhängende Handtuch beiseite.

»Wenn überhaupt, würde ich das als männliche Genitalstudie bezeichnen«, sagte sie. Mit der freien Hand fuhr sie ihm sanft über den Rücken, was ihn erschauern ließ. Ihre Fingerspitzen strichen über seinen Hintern.

»Wollen wir ins Bett gehen?«, fragte sie, an ihn gelehnt, mit lächelnd erhobenem Kopf, die großen braungrünen Augen von Lachen erfüllt.

Eine große Zeit

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