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4 Wiener Kunstmaterialien

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Lysander ging langsam die Treppe hinunter, völlig in Gedanken versunken, die teils angenehm, teils unbefriedigend und teils beunruhigend waren. Das Gespräch hatte nur eine knappe Viertelstunde gedauert. Bensimon hatte seine Personalien notiert, die Zahlungsmodalitäten geklärt (Abrechnung alle vierzehn Tage, Barzahlung) und ihn schließlich gefragt, ob er bereit wäre, sein »Problem« darzulegen.

Draußen auf der Straße hielt Lysander inne und zündete sich eine Zigarette an; er fragte sich, ob die Therapie, die er soeben begonnen hatte, ihm wirklich helfen würde oder ob er es nicht lieber mit einer Pilgerfahrt nach Lourdes hätte probieren sollen? Oder mit dem Heilmittel irgendeines Quacksalbers? Oder hätte er wie George Bernard Shaw Vegetarier werden und Jäger-Unterwäsche tragen sollen? Er runzelte die Stirn, weil er auf einmal so unsicher war – und das war seinem Anliegen alles andere als zuträglich. Greville Varley, sein bester Freund, hatte eine Psychoanalyse angeregt – Greville war der Einzige, der von seinem Problem wusste (und auch das nur andeutungsweise) –, und Lysander hatte sich diesem Vorschlag mit Leib und Seele verschrieben, wie ihm nun bewusst wurde, hatte sämtliche Zukunftspläne über den Haufen geworfen, seine Ersparnisse abgehoben, war nach Wien gezogen und hatte nach dem richtigen Arzt gesucht. War das nun sträflicher Leichtsinn oder nur ein Anzeichen von Verzweiflung?

Biegen Sie links in die Berggasse, hatte Bensimon erklärt, dann gehen Sie immer geradeaus bis zur kleinen Grünfläche an der großen Kreuzung. Der Laden ist direkt gegenüber – WKM –, nicht zu übersehen. Lysander machte sich auf den Weg, in Gedanken immer noch bei der entscheidenden Frage.

BENSIMON: Wie würden Sie das Problem beschreiben?

LYSANDER: Es … es ist sexueller Natur.

BENSIMON: Ja. Das ist es fast immer. Im Kern.

LYSANDER: Wenn ich dem Liebesspiel fröne … ich meine, dem Beischlaf –

BENSIMON: Reden Sie bitte nicht um den heißen Brei herum, Mr Rief. Hier ist Offenheit gefragt. Sie können sich so derb und unverblümt ausdrücken, wie Sie möchten. Selbst Gossensprache kann mich nicht schrecken.

LYSANDER: Also gut. Beim Ficken habe ich Schwierigkeiten.

BENSIMON: Sie bekommen keine Erektion?

LYSANDER: Im Gegenteil, in dieser Hinsicht steht alles zum Besten. Mein Problem ist vielmehr der … der Ausstoß.

BENSIMON: Ach. Das ist ungemein verbreitet. Sie leiden unter vorzeitigem Samenerguss. Ejaculatio praecox.

LYSANDER: Nein. Ich habe gar keinen Samenerguss.

Lysander schlenderte die leicht abschüssige Berggasse hinunter. Irgendwo in der Nähe befand sich die Praxis von Dr. Freud – vielleicht hätte er es lieber bei ihm versuchen sollen? Wie lautete noch diese französische Redensart? »Warum mit den Aposteln sprechen, wenn man sich direkt an Gott wenden kann?« Aber es gab da diese Sprachbarriere. Bensimon war Engländer, ein immenser Vorzug – wenn nicht sogar Segen –, das konnte man nicht leugnen. Lysander erinnerte sich an die lange Pause, die eingetreten war, nachdem er Bensimon von seiner merkwürdigen sexuellen Funktionsstörung erzählt hatte.

BENSIMON: Das heißt, Sie haben Geschlechtsverkehr, aber keinen Orgasmus?

LYSANDER: Genau.

BENSIMON: Wie spielt sich das ab?

LYSANDER: Nun ja, ich halte eine ganze Weile durch, aber da ich weiß, dass es zu nichts führen wird, erschlaffe ich schließlich.

BENSIMON: Detumeszenz.

LYSANDER: Damit endet es.

BENSIMON: Das muss ich erst einmal überdenken. Höchst ungewöhnlich. Anorgasmie – Sie sind der erste Fall, der mir begegnet. Faszinierend.

LYSANDER: Anorgasmie?

BENSIMON: So nennt man das, was Ihnen fehlt. So heißt Ihr Problem.

Und dabei ließ der Arzt es bewenden, abgesehen von einem weiteren Ratschlag. Bensimon hatte ihn gefragt, ob er ein Tage- oder Notizbuch führe. Lysander verneinte. Er schreibe ziemlich regelmäßig Gedichte, einige seien schon in Zeitungen und Zeitschriften erschienen, er sei aber nur ein Amateurdichter – hier zuckte Lysander bescheiden die Achseln –, der zum Spaß Verse schmiede und keinerlei Anspruch damit verbinde, und nein, er führe kein Tagebuch.

»Ich möchte, dass Sie sich von nun an Notizen machen«, hatte Bensimon erklärt. »Schreiben Sie Ihre Träume auf, Ihre Gedanken, was immer Ihnen auffällt. Jede Kleinigkeit. Was immer Ihre Sinne anspricht – Erotisches, Gerüche, Klänge, Berührungen –, einfach alles. Bringen Sie Ihre Notizen beim nächsten Mal mit und lesen Sie sie mir vor. Sparen Sie nichts aus, egal, wie schockierend oder banal es sein mag. So bekomme ich einen unmittelbaren Zugang zu Ihrer Persönlichkeit, zu Ihrem Wesen – zu Ihrem Unbewussten.«

»Meinem ›Es‹, meinen Sie.«

»Wie ich sehe, haben Sie Ihre Hausaufgaben gemacht, Mr Rief. Ich bin beeindruckt.«

Bensimon hatte ihm aufgetragen, seine Eindrücke und Beobachtungen stets so zeitnah wie möglich festzuhalten, ohne sie in irgendeiner Weise zu verändern oder zu bearbeiten. Außerdem durften sie keinesfalls auf lose Zettel notiert werden. Lysander sollte sich ein anständiges Notizbuch kaufen – in Leder gebunden, gutes Papier – und es als richtiges Dokument anlegen, in sich geschlossen und von Dauer, keine Sammlung beliebiger Kritzeleien.

»Und geben Sie dem Kind einen Namen«, hatte Bensimon angeregt. »Sie wissen schon – ›Mein Innenleben‹ oder ›Persönliche Betrachtungen‹. Geben Sie dem Ganzen eine Form. Ihr Traumtagebuch, Ihr Seelenjournal – es sollte etwas sein, das Sie auch später wertschätzen. Eine Chronik Ihres Erlebens in den kommenden Wochen, bewusst und unbewusst.«

Wenigstens wäre das etwas Konkretes, dachte Lysander, während er die Straße überquerte, um zum Geschäft für Künstlerbedarf zu gelangen, das Bensimon ihm empfohlen hatte – die Wiener Kunstmaterialien –, eine Art ausführlicher Aufenthaltsbericht. All dieses Gerede – insbesondere das, was er demnächst von sich geben würde – verpuffte doch in der Luft. Als er durch die Schwingtüren in den Laden eintrat, hatte er sich mit dem Gedanken schon angefreundet, Bensimon hatte recht, vielleicht würde ihm das tatsächlich helfen.

Der Laden war geräumig und hell erleuchtet – von der Decke hingen an modernen Kronleuchtern mit Aluminiumspeichen traubenweise Glühbirnen, deren Aureolen sich im glänzenden rotbraunen Linoleumboden spiegelten. Der Geruch von Terpentin, Ölfarbe, unbehandeltem Holz und Leinwand sorgte dafür, dass Lysander sich auf Anhieb wohlfühlte. Solche Warenhäuser liebte er – kreuz und quer verliefen die Gänge, die Füllhörnern gleich voller Material steckten: Regale, in denen verschiedenste Papiersorten geschichtet, Gläser, die mit spitzen Buntstiften gefüllt waren, ein Wäldchen aus großen und kleinen Staffeleien, reihenweise Ölfarbentuben in chromatischer Reihenfolge, bauchige, funkelnde Flaschen mit Leinöl und Farbverdünner, Leinenkittel, Klappstühle, Stapel von Farbpaletten, ein Haufen Deckfarbkasten, Pastellkreiden in flachen Schachteln mit offenem Deckel, die den schillernden Inhalt zur Schau stellten, regenbogenbunten Zigarillos gleich. Wenn er an solche Orte kam, nahm Lysander sich jedes Mal wieder vor, endlich mit dem Zeichnen als ernsthaftem Hobby anzufangen, mit Aquarellmalerei oder Linolschnitt – egal was, solange er Gelegenheit hätte, einen Teil dieser verlockenden Ausrüstung zu erwerben.

Er bog um die nächste Ecke und stieß auf eine kleine Sammlung von Zeichenblöcken und Notizbüchern. Nachdem er eine Weile gestöbert hatte, nahm er eine mehrere hundert Seiten starke Kladde in die Hand, fast so dick wie ein Lexikon. Nein, die nicht – zu entmutigend, gefragt war ein bescheidenerer Umfang, den er auch wirklich zu füllen vermochte. Er entschied sich für ein Notizbuch mit einem biegsamen schwarzen Ledereinband, feines Papier, unliniert, 150 Blätter. Es lag gut in der Hand und würde in die Jackentasche passen, wie ein Reiseführer – ein Reiseführer zu seiner Seele. Perfekt. Ihm fiel gleich ein Titel ein: Autobiographische Untersuchungen von Lysander Rief … Das klang doch genau nach dem, was Bensimon –

»Und schon sehen wir uns wieder.«

Lysander drehte sich um und erblickte Miss Bull. Eine liebenswürdige, lächelnde Miss Bull.

»Sie kaufen wohl Ihr Notizbuch?«, stellte sie wissend fest. »Bensimon sollte hier Provision bekommen.«

»Wollen Sie auch eins kaufen?«

»Nein. Meins habe ich nach wenigen Wochen aufgegeben. Worte liegen mir nicht besonders. Ich bin ein visueller Mensch, sehe alles in Bildern, nicht in Sprache. Ich würde lieber zeichnen als schreiben.« Sie zeigte ihm, was sie kaufen wollte: einen kleinen Satz seltsam geformter stumpfer Messer, einige mit konischer Spitze, andere mit dreieckiger Klinge, wie Miniatur-Maurerkellen.

»Damit können Sie aber nicht zeichnen«, sagte Lysander.

»Bildhauerei«, erklärte sie. »Ich will bloß mehr Ton und Gips bestellen. Es gibt in dieser Stadt keinen besseren Laden als WKM.«

»Eine Bildhauerin – das ist ja interessant.«

»Nein. Bildhauer.«

Lysander nickte verlegen. »Natürlich.«

Miss Bull trat auf ihn zu und sprach mit leiserer Stimme.

»Ich möchte mich gern für mein Verhalten von heute Morgen entschuldigen …«

»Dazu besteht doch kein Anlass.«

»Ich war ein bisschen … überreizt. Ich hatte nämlich keine Medizin mehr. Darum musste ich Dr. Bensimon so dringend sehen – wegen meiner Medizin.«

»Sicher. Dr. Bensimon gibt also auch Medizin aus?«

»Eigentlich nicht. Aber er hat mir eine Spritze gegeben. Und mich mit Nachschub versorgt.« Sie tätschelte ihre Handtasche. »Das Zeug wirkt Wunder – Sie sollten es ausprobieren, falls Sie mal ein kleines Tief haben.«

Bei ihr hatte Dr. Bensimons Medizin offensichtlich einiges bewirkt, sie kam Lysander viel ausgeglichener und selbstbewusster vor. Sie schien irgendwie alles im Griff –

»Sie haben ein ausgesprochen interessantes Gesicht«, sagte Miss Bull.

»Danke.«

»Ich würde Sie gern porträtieren.«

»Tja, ich bin etwas in –«

»Es muss ja nicht sofort sein.« Sie wühlte in ihrer Tasche und zog eine Visitenkarte hervor. Lysander las: Miss Esther Bull, Künstler und Bildhauer. Unterricht auf Anfrage. Darunter stand eine Adresse in Bayswater, London.

»Nicht mehr ganz aktuell«, sagte sie. »Jetzt bin ich schon seit zwei Jahren in Wien. Meine Telefonnummer steht auf der Rückseite. Wir haben uns gerade ein Telefon installieren lassen.« Sie blickte ihn herausfordernd an. Lysander war der Plural nicht entgangen. »Ich lebe mit Udo Hoff zusammen«, sagte sie.

»Udo Hoff?«

»Der Maler.«

»Ach. Jetzt, wo Sie es sagen – ja. Udo Hoff.«

»Haben Sie ein Telefon? Wohnen Sie im Hotel?«

»Weder noch. Ich wohne in einer Pension. Ich weiß nicht, wie lange ich bleiben werde.«

»Sie müssen unbedingt im Atelier vorbeischauen. Schreiben Sie mir Ihre Adresse auf. Dann schicke ich Ihnen eine Einladung zu einem unserer Feste.«

Sie reichte ihm einen Zettel aus ihrer Handtasche und Lysander notierte seine Adresse. Etwas widerwillig, wie er sich eingestehen musste, weil er in Wien allein sein wollte: um sein Problem zu lösen – seine Anorgasmie, wie es nun hieß. Er ganz allein. Im Grunde hatte er weder das Bedürfnis noch den Wunsch nach Gesellschaft. Er gab ihr den Zettel zurück.

»Lysander Rief«, las sie laut. »Habe ich schon mal von Ihnen gehört?«

»Wohl kaum.«

»Und ich heiße übrigens Hettie«, sagte sie, »Hettie Bull«, und streckte ihm die Hand entgegen. Lysander schüttelte sie. Hettie Bull hatte einen bemerkenswert festen Griff.

Eine große Zeit

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