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6 Der Sohn von Halifax Rief

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»Ich bin im Foyer des Majestic Theatre an der Strand. Ich bewege mich durch einen Pulk elegant gekleideter Damen – jüngere und ältere. Sie plaudern und tratschen, ab und an wirft mir eine von ihnen einen Blick zu. Die Damen schenken mir nicht die geringste Beachtung – obwohl ich splitternackt bin.«

Lysander hielt inne. Gerade las er Dr. Bensimon aus seinen Autobiographischen Untersuchungen vor.

»Jaaaa …«, sagte Dr. Bensimon bedächtig. »Das ist interessant. Haben Sie das gestern Nacht geträumt?«

»Ja. Ich habe es umgehend aufgeschrieben.«

»Aber was hat es mit dem Theater auf sich?«

»Das liegt auf der Hand«, sagte Lysander. »Es wäre noch viel interessanter, wenn es sich nicht um ein Theater handeln würde.«

»Ich verstehe nicht ganz.«

»Ich bin Schauspieler«, erklärte Lysander.

»Von Beruf?«

»Ich verdiene meinen Lebensunterhalt auf der Bühne, meistens im Londoner West End.«

Er hörte Bensimon aufstehen und das Zimmer durchqueren, um sich am Fußende des Diwans zu setzen. Lysander drehte sich im Sessel zur Seite – Bensimon musterte ihn aufmerksam.

»Rief«, sagte er. »Der Name kam mir gleich so bekannt vor. Sind Sie zufällig mit Halifax Rief verwandt?«

»Er war mein Vater.«

»Mein Gott!« Bensimon schien aufrichtig überrascht. »Ich habe ihn als King Lear gesehen, im … Wo war das noch mal?«

»Im Apollo.«

»Stimmt, im Apollo … Er ist doch gestorben, nicht wahr? Mitten in der Spielzeit.«

»’99. Ich war dreizehn.«

»Gütiger Himmel. Sie sind der Sohn von Halifax Rief. Nicht zu fassen.« Bensimon starrte Lysander an, als sähe er ihn zum ersten Mal. »Ich meine, eine gewisse Ähnlichkeit zu erkennen. Und Sie sind auch noch Schauspieler.«

»Nicht so erfolgreich wie mein Vater – aber ich kann ganz gut davon leben.«

»Ich liebe das Theater. In welchem Stück haben Sie zuletzt mitgespielt?«

»Ein romantisches Ultimatum.«

»Sagt mir nichts.«

»Eine Salonkomödie von Kendrick Balston – wurde nach vier Monaten Laufzeit im Shaftesbury abgesetzt. Dann bin ich gleich hierhergekommen.«

»Gütiger Himmel …«, wiederholte Bensimon und nickte unmerklich, als hätte er gerade eine Offenbarung erlebt. Er ging zu seinem Schreibtisch zurück, und Lysander betrachtete das silberne Flachrelief. Allmählich hatte er das Gefühl, es in- und auswendig zu kennen, obwohl das erst seine zweite Sitzung bei Bensimon war.

»Sie stehen also nackt im Foyer des Majestic. Sind Sie erregt?«

»Offenbar fühle ich mich dort ganz wohl. Ich schäme mich nicht, vor diesen Leuten nackt zu sein. Es ist mir nicht peinlich.«

»Niemand lacht oder kichert, niemand zeigt mit dem Finger auf Sie oder verspottet Sie?«

»Nein. Die anderen scheinen das völlig normal zu finden. Wenn es überhaupt eine Reaktion gibt, dann höchstens vage Neugier. Sie blicken mich flüchtig an und setzen ihr Gespräch fort.«

»Erntet Ihr Penis auch ›flüchtige Blicke‹?«

»Wenn Sie mich so fragen, ja. Tatsächlich.«

Daraufhin setzte Stille ein. Lysander schloss die Augen, er konnte das Kratzen von Bensimons Füller hören. Um zwischendurch auf andere Gedanken zu kommen, besann er sich auf die Freuden des vergangenen Wochenendes. Er hatte den Zug nach Puchberg genommen und dort die Nacht im Bahnhofshotel verbracht. Dann war er mit der Zahnradbahn auf den Hochschneeberg gefahren und den ganzen Weg zum Alpengipfel hin- und wieder zurückgelaufen (seine Wanderstiefel hatte er mitgebracht). Wie immer, wenn er in den Bergen oder auf dem Land wandern ging, fielen alle Sorgen und Bedenken von ihm ab. Vielleicht war das der beste Grund gewesen, nach Österreich zu fahren, dachte er – neue Wege, neue Landschaften. Am Wochenende konnte er immer den Zug nehmen und in den Bergen wandern, um den Kopf freizubekommen, seine Probleme zu vergessen. Die Wanderkur …

»Träumen Sie das häufiger?«, fragte Bensimon.

»Ja. Mit kleinen Abweichungen. Manchmal sind weniger Leute da.«

»Aber Sie stehen im Vordergrund – nackt, inmitten vollständig bekleideter Frauen.«

»Ja. Allerdings nicht immer im Theater.«

»Warum träumen Sie das, was glauben Sie?«

»Eigentlich hatte ich gehofft, Sie würden mir das verraten.«

»Lassen Sie uns beim nächsten Mal fortfahren.« Mit diesen Worten beendete Bensimon die Sitzung. Lysander stand auf und streckte sich – es war anstrengend, sich derart konzentrieren zu müssen.

»Schreiben Sie weiterhin alles auf«, sagte Bensimon, als er ihn zur Tür brachte. »Wir machen Fortschritte.« Er schüttelte ihm die Hand.

»Bis nächsten Mittwoch«, sagte Lysander.

»Der Sohn von Halifax Rief, wer hätte das gedacht.«

Lysander saß im Café Central, trank einen Kapuziner und dachte an seinen Vater. Sein Versuch, ihn heraufzubeschwören, scheiterte wieder einmal. Er hatte nur das Bild eines großen massigen Mannes vor sich, dazu ein feistes vierschrötiges Gesicht, von dickem ergrautem Haar gekrönt. Die berühmte Stimme hatte er natürlich noch im Ohr, den klangvollen grollenden Bass, aber was ihm vor allem in Erinnerung geblieben war, war der Geruch seines Vaters – der Duft der Brillantine, die er sich in die Haare rieb und sein Barbier eigens für ihn zubereitete. Ein beißender Hauch von Lavendel als anfängliche Note, unterlegt vom reichhaltigeren Aroma des Lorbeers. Ziemlich stark parfümiert, mein Vater, dachte Lysander. Und dann starb er.

Lysander sah sich im weitläufigen Café mit den hohen Decken und der Glaskuppel um. Es war ruhig. Ein paar Zeitung lesende Gäste, eine Mutter, die mit ihren zwei kleinen Töchtern den Kuchenwagen in Augenschein nahm. Die Sonne fiel schräg durch die großen Fenster und ließ die rubinroten und bernsteingelben Buntglasrauten aufleuchten. Lysander winkte dem Kellner und bestellte einen Cognac, er wollte die beschauliche Stimmung noch ein wenig auskosten. Als ihm der Cognac serviert wurde, kippte er ihn in den Kapuziner und zog Blanches Brief hervor. Ihr erster, seit er nach Wien gekommen war – er hatte ihr vier Mal geschrieben … Er strich die Blätter glatt. Königsblaue Tinte, ihre schwungvolle zackige Handschrift, die sich über die ganze Seite erstreckte, bis zum Rand.

Liebster Lysander,

Du bist mir sicher böse, aber ich vermisse Dich wirklich sehr, und ich wollte Dir auch die ganze Zeit schreiben, aber Du kennst mich, und Du weißt ja, wie furchtbar hektisch es hier zugeht. Wir haben die Probelesung von »June in Flammen« abgehalten, aber es ist wohl nicht so gut gelaufen, zwei Tage später mussten wir wieder geschlossen antreten. Für mich ist das eine wunderbare Rolle, und es kommt auch ein junger Gardeoffizier vor, für den Du in meinen Augen die Idealbesetzung wärst. Soll ich unserem guten Manley sagen, dass es Dich interessiert? Er würde mir einfach jeden Wunsch erfüllen, der liebe alte Narr. Aber dann müsstest Du schleunigst nach Hause zurückkommen, mein Schatz. Es wäre zu schön, wieder mit Dir zu arbeiten. Schlägt Deine mysteriöse Kur an? Dauert sie noch lange? Nimmst Du Salzbäder und duschst kalt und trinkst Eselsmilch und all das Zeug? Wenn mich Leute fragen, sage ich, dass Du »unpässlich« bist, und dann antworten sie »Ach. Ja. Verstehe«, und hasten mit todernster Miene davon. Morgen fahre ich nach Boreham Wood, um »kinematographische Testaufnahmen« machen zu lassen. Dougie meint, ich hätte genau das richtige Gesicht fürs »Kintopp«, wir werden ja sehen. Von Deiner Mutter habe ich eine reizende Nachricht bekommen, sie wollte wissen, ob wir schon einen Termin für den »großen Tag« ins Auge gefasst haben. Lass es Dir bitte durch den Kopf gehen, Liebling. Ich zeige allen meinen Ring, und dann fragen sie »Wann?«, und ich lache – glockenhell, Du weißt schon – und sage, dass wir es nicht so eilig haben. Aber ich habe tatsächlich an eine Winterhochzeit gedacht, das wäre mal etwas Besonderes. Ich könnte in Pelz gehen –

Er faltete den Brief und steckte ihn mit einem Gefühl leichten Unwohlseins wieder ein. Ihm war, als hörte er ihre Stimme, sie erinnerte ihn an das, was ihn nach Wien geführt hatte, konfrontierte ihn mit den Auswirkungen seines speziellen Problems. Unter diesen Umständen konnte er Blanche wohl kaum heiraten. Man stelle sich nur die Hochzeitsnacht vor …

Er zündete sich eine Zigarette an. Blanche hatte vor ihm schon mehrere Liebhaber gehabt, wie er wusste. Sie hatte ihn quasi eingeladen, das Bett mit ihr zu teilen, aber er hatte darauf beharrt, den Anstand zu wahren – nun waren sie offiziell verlobt. Er zog sein Notizbuch aus der Tasche und rechnete schnell nach. Sein letzter Versuch, geschlechtlich mit einer Frau zu verkehren, war mit dieser jungen Dirne gewesen, die er in Piccadilly aufgegabelt hatte. Er rechnete zurück: vor drei Monaten und zehn Tagen. Kurz nachdem er Blanche den Heiratsantrag gemacht hatte, und auch nur als ein notwendiges Experiment. Er erinnerte sich an das muffige kleine Zimmer in der Dover Street, eine einzige Gaslampe, einigermaßen saubere Laken auf dem schmalen Bett. Das Mädchen war eigentlich recht hübsch gewesen, auf eine grelle Art, denn sie war stark geschminkt, aber wenn sie lächelte, kam ein schwarzer Zahn zum Vorschein. Es fing gut an, doch dann stellte sich das Unvermeidliche ein. Nichts. Wir können es noch mal versuchen, hatte das Mädchen gesagt, als er ihr Geld gab, ist ja nichts passiert, und das zählt nicht so richtig, oder? Aber bezahlen müssen Sie trotzdem – knallen tut auch die Platzpatrone.

Lysander bequemte sich zu einem bitteren Lächeln – das hatte sie vermutlich von einem Soldaten-Freier aufgeschnappt und nicht wieder vergessen. Er drückte seine Zigarette aus. Vielleicht sollte er Bensimon erzählen, dass er mit Blanche Blondel verlobt war – das könnte ihn ähnlich beeindrucken wie Halifax Rief.

Er zahlte – dachte daran, den Hut aufzusetzen – und trat in den warmen sonnigen Nachmittag hinaus; er blieb auf den Kaffeehausstufen stehen, überlegte, ob er zu Fuß in die Pension Kriwanek zurückkehren, unter Umständen das Abendessen schwänzen sollte, fragte sich außerdem, wohin er am nächsten Wochenende fahren könnte – Baden vielleicht, oder sogar Salzburg, eine kleine Reise unternehmen, nach Tirol –

»Mr Rief?«

Lysander zuckte unwillkürlich zusammen. Ein hochgewachsener Mann, hageres strenges Gesicht, makelloser dunkler Schnurrbart.

»Wollte Sie nicht erschrecken. Wie geht’s? Alwyn Munro.«

»Tut mir leid – ich war in Gedanken gerade woanders.« Er gab ihm die Hand. »Natürlich! Wir sind uns in Dr. Bensimons Praxis begegnet. Welch ein Zufall«, sagte Lysander.

»Im Café Central treffen Sie früher oder später alle, die sich in Wien tummeln«, erwiderte Munro. »Wie gefällt es Ihnen hier?«

Lysander war nicht nach belangloser Konversation zumute.

»Sind Sie Patient bei Dr. Bensimon?«, fragte er.

»Bei John? Nein. Wir sind befreundet. Haben zusammen studiert. Manchmal löchre ich ihn mit Fragen. Ist ein kluger Mann.« Munro merkte offenbar, dass Lysander das Gespräch nicht unbedingt fortsetzen wollte. »Sie haben es sicher eilig. Gehen Sie ruhig.« Er angelte eine Visitenkarte aus seiner Tasche und überreichte sie ihm. »Ich bin hier an der Botschaft tätig, falls Sie mich mal brauchen sollten. Hat mich gefreut.«

Er tippte mit dem Zeigefinger an die Melonenkrempe und ging in das Café hinein.

Lysander schlenderte zur Mariahilfer Straße zurück, die Sonne genießend. Er zog die Jacke aus und warf sie sich über die Schulter. Tirol, ja, dachte er – richtige Berge. Er wollte gerade den Opernring überqueren, als er ein weiteres zerfetztes Plakat erblickte. Bei diesem hatte das Ungeheuer seinen Kopf behalten – eine wüste Mischung aus Drache und Krokodil –, und der Name des Komponisten war vollständig: Gottlieb Toller. Lysander fiel ein, dass er Herrn Barth nach diesem Toller fragen könnte. Er hörte eine Kapelle, sie spielte die militärisch angehauchte Version eines Strauss’schen Walzers, und er passte seinen Schritt dem Takt der Trommelschläge an. Dabei dachte er an Blanches schönes längliches Gesicht, ihre dünnen knochigen Handgelenke mit den klirrenden Armreifen, ihre hohe schmale Gestalt. Er liebte sie wirklich, dachte er, darum wollte er sie heiraten – nicht, um den Schein zu wahren oder den Konventionen zu genügen. Um ihretwillen musste er sich bemühen, wieder gesund zu werden, ein normaler Mann, der mit einer wundervollen Frau eine glückliche Ehe führen konnte.

Er überquerte den Ring mit aller gebotenen Vorsicht, unterdessen stimmte die Kapelle eine Art Schnellmarsch oder Polka an. Der Rhythmus beflügelte ihn, als er die Mariahilfer Straße entlangbummelte, hinter ihm wurde die Musik immer leiser, ging im Verkehrslärm unter, während die Kapelle in Richtung Kaserne zurückmarschierte, sie hatte ihre Pflicht erfüllt und die biederen Wiener Bürger ein Stündchen lang bespaßt. Lysander spürte die Sonne auf seinen Schultern brennen, eine Fülle seltsam widersprüchlicher Gefühle befiel ihn – Stolz darüber, dass er sich aus freien Stücken für eine Therapie entschieden hatte, Genuss am Bummel durch die inzwischen vertrauten Straßen dieser fremden Stadt, beides unterlegt von einer verhaltenen melancholischen Freude, weil Blanche mit den allwissenden, verständnisvollen Augen weit, weit weg war.

Eine große Zeit

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