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5 Der Strom der Lust

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»Warum hat mich die Begegnung mit HB so aufgewühlt? Und warum verspüre ich diese leichte Erregung? Sie ist überhaupt nicht mein Typ, dennoch habe ich jetzt schon das Gefühl, in ihr Leben, in ihre Umlaufbahn hineingezogen zu werden, ob ich will oder nicht. Warum? Und wenn wir uns bei einem Konzert oder einer privaten Feier kennengelernt hätten? Dann hätten wir sicher nicht das geringste Interesse füreinander aufgebracht. Weil wir uns aber im Wartezimmer von Dr. Bensimon begegnet sind, haben wir bereits etwas sehr Intimes übereinander erfahren. Könnte das die Erklärung sein? Die Verletzten, Unvollendeten, Unausgeglichenen, Gestörten, Kranken finden zueinander: Gleich und Gleich gesellt sich gern. Sie wird mich nicht in Ruhe lassen, das weiß ich. Aber ich will gar nicht zu Udo Hoff ins Atelier, wer immer das sein mag. Ich bin nach Wien gekommen, um meinen Mitmenschen aus dem Weg zu gehen, und habe fast niemandem gesagt, wohin ich fahre, auf Nachfragen hin immer nur ›ins Ausland‹ geantwortet. Mutter weiß Bescheid, Blanche, Greville natürlich, und eine Handvoll anderer. Für mich soll Wien eine Art schönes Sanatorium mit lauter Fremden sein – als litte ich an Schwindsucht und wäre bis zur erfolgreichen Heilung einfach untergetaucht. Blanche würde HB wohl nicht mögen. Ganz und gar nicht.«

Lysander hörte ein unmerkliches Klopfen an seiner Tür – eher ein Kratzen. Er legte den Füller aus der Hand, klappte das Notizbuch zu – seine Autobiographischen Untersuchungen – und verstaute es in der Schreibtischschublade.

»Kommen Sie hinein, Herr Barth«, sagte er.

Herr Barth trat auf Zehenspitzen ein und schloss die Tür, so leise es nur ging. Trotz seiner Leibesfülle versuchte er stets, sich möglichst still und unauffällig zu verhalten.

»Nein, Herr Rief. Nicht hinein, sondern herein.«

»Verzeihung«, sagte Lysander und stellte einen weiteren Stuhl an den Schreibtisch.

Herr Barth war Musiklehrer und stammte überdies von einer langen Ahnenreihe von Musiklehrern ab. Sein Vater hatte 1836 Paganini spielen sehen, und als einige Jahre später sein erster Sohn zur Welt kam, nannte er ihn Nikolas zum Gedenken an das Ereignis. Als junger Mann hatte sich Herr Barth voll und ganz mit dem Vorbild identifiziert, ließ sich lange Haare und einen Backenbart wachsen wie Paganini, ohne diesen Stil jemals aufzugeben. Sogar jetzt, mit bald siebzig, färbte er sich die langen grauen Haare und den Backenbart einfach schwarz und trug nach wie vor altmodische Vatermörderkragen und Gehröcke mit Silberknöpfen. Sein Instrument war allerdings nicht die Geige, sondern der Kontrabass, den er etliche Jahre im Orchester des Wiener Lustspieltheaters gespielt hatte, bevor er die Familientradition wieder aufnahm und Musiklehrer wurde. Seinen alten Kontrabass bewahrte er im rissigen Lederkasten am Fußende des Bettes auf, an die Wand seines kleinen Zimmers ganz hinten im Flur gelehnt, das kleinste der drei Zimmer, die in der Pension Kriwanek zu mieten waren. Er behauptete, bei ihm könne man bis zu einem gewissen Leistungsniveau das Spielen sämtlicher »tragbaren sowie handlichen« Instrumente lernen – ob Streich-, Holzblas- oder Blechblasinstrumente. Lysander wusste nicht, ob es Schüler gab, die das Angebot nutzten, aber er nahm Herrn Barths zaghaften Vorschlag, den dieser ihm am Tag nach seinem Einzug in die Pension unterbreitete, dankend an – fünf Kronen sollte eine Stunde Deutsch kosten.

Herr Barth nahm behäbig Platz, wischte sich mit beiden Händen ein paar Haarsträhnen vom Kragen und drohte Lysander lächelnd mit dem Finger.

»Achten Sie auf die Vorsilben, Herr Rief. Nur so werden Sie unsere wunderschöne Sprache eines Tages beherrschen.«

»Heute möchte ich gern Zahlen üben«, antwortete Lysander in fehlerfreiem Deutsch.

»Ach ja, die Zahlen – die haben es in sich.«

Eine Stunde lang spielten sie pflichteifrig alles durch – das Zählen an sich, Jahreszahlen, Preise, Wechselgeld, Addition und Subtraktion –, bis Lysander von lauter babylonischem Zahlengewirr der Kopf schwirrte und die Essensglocke läutete. Da Herr Barth nur für Frühstück und Logis bezahlte, zog er sich zurück, während Lysander den getäfelten Speiseraum am anderen Ende des Flurs ansteuerte, wo ihn Frau Kriwanek höchstpersönlich erwartete.

Frau K, wie sie insgeheim von ihren drei Pensionsgästen genannt wurde, war der Inbegriff von Anstand und Frömmigkeit. Eine Witwe in den Vierzigern, die traditionelle österreichische Kleidung trug – in erster Linie moosgrüne Dirndl mit bestickten Blusen und Schürzen sowie klobige Schnallenschuhe – und sich einer derart überzogenen Höflichkeit befleißigte, dass sie höchstens für die Dauer einer Mahlzeit zu ertragen war, wie Lysander rasch festgestellt hatte. In ihrer Welt waren ausschließlich Menschen, Ereignisse und Dinge enthalten beziehungsweise zugelassen, die entweder angenehm oder erfreulich waren. So lauteten ihre Lieblingsattribute, die sie bei jeder erdenklichen Gelegenheit verwendete. Der Käse war angenehm, das Wetter erfreulich. Die junge Gemahlin des Kronprinzen machte einen angenehmen Eindruck, das neue Postamt war erfreulich gelungen. Und so weiter.

Lysander lächelte ihr unverbindlich zu, als er an der Tafel seinen Stammplatz einnahm. Er spürte förmlich, wie die Jahre von ihm abfielen: Frau K gab ihm das Gefühl, wieder ein Halbwüchsiger zu sein – jünger sogar, präpubertär. Ihre Anwesenheit entmannte ihn, wirkte seltsam einschüchternd und ehrfurchtgebietend; er erkannte sich dann selbst nicht wieder – wurde zu einem Mann ohne eigene Meinung.

Er sah noch ein drittes Gedeck – für den anderen Pensionsgast, Leutnant Wolfram Rozman, der offenbar nicht da oder spät dran war. Das Abendessen begann um Punkt acht Uhr. Frau K schätzte Lysander sehr – er war angenehm und erfreulich und noch dazu Engländer (angenehme Leute) –, doch den Leutnant schätzte sie wohl weniger, wie Lysander intuitiv erfasste. Er war nicht sehr angenehm, geschweige denn erfreulich.

Leutnant Wolfram Rozman hatte sich etwas zuschulden kommen lassen. Was genau, wusste niemand, aber sein Aufenthalt in der Pension Kriwanek deutete darauf hin, dass er in Ungnade gefallen war. Irgendeine Regimentsangelegenheit, hatte Lysander von Herrn Barth gehört. Man habe den Leutnant wegen des wie auch immer gearteten Skandals zwar nicht unehrenhaft entlassen, aber vorläufig aus der Kaserne verwiesen, sodass er gezwungen war, so lange hier zu wohnen, bis ein Urteil gefällt und über seinen Verbleib in der Armee entschieden wurde. Das schien den Leutnant nicht übermäßig zu stören, soweit Lysander beurteilen konnte – offenbar weilte er bereits seit fast sechs Monaten in der Pension –, aber je länger er blieb, desto unangenehmer wurde er in den Augen von Frau K. Auch wenn Lysander dem Austausch zwischen beiden erst seit zwei Wochen beiwohnte, war ihm aufgefallen, wie der Ton sich deutlich verschärfte, die Förmlichkeit zunehmend frostiger wurde.

Lysander mochte Wolfram – wie er ihn fast umgehend nennen durfte und sollte –, wohlweislich gab er das Frau K gegenüber aber nicht zu erkennen. Nun bedachte sie ihn mit ihrem dünnen Lächeln und läutete nach dem Dienstmädchen. Gleich darauf tauchte das Mädchen namens Traudl mit einer Suppenterrine auf, die klare Kohlsuppe mit Croûtons enthielt. Das war stets der erste Gang in der Pension Kriwanek, sommers wie winters. Traudl, eine Achtzehnjährige mit rundem Gesicht, die jedes Mal errötete, wenn sie sprach oder angesprochen wurde, setzte die Terrine so abrupt auf dem Tisch ab, dass die Suppe zweimal überschwappte und ein Teil auf der blütenweißen Decke landete.

»Für die Reinigung dieser Decke wirst du selbst aufkommen, Traudl«, sagte Frau K, ohne die Stimme zu erheben.

»Aber gern doch, gnädige Frau«, antwortete Traudl, errötete, machte einen Knicks und ging.

Frau K sprach das Tischgebet, mit geschlossenen Augen und erhobenem Kopf – Lysander senkte seinen –, und teilte für sie beide klare Kohlsuppe mit Croûtons aus.

»Der Leutnant ist spät dran«, bemerkte Lysander.

»Er hat für das Essen bezahlt, es liegt an ihm, ob er es auch einnimmt.« Wieder lächelte sie Lysander an. »Hatten Sie einen angenehmen Tag, Herr Rief?«

»Äußerst angenehm.«

Nach dem Essen (Paprikahuhn) war es Brauch, dass Frau K den Speiseraum verließ und die Herren rauchen durften. Lysander zündete sich eine Zigarette an; nun, da Frau K gegangen war, wurde er wieder er selbst und fragte sich wie jedes Mal, wenn er ihre Gesellschaft genossen hatte, ob er in ein Hotel oder in eine andere Pension ziehen sollte, doch als er das Für und Wider erwog, wurde ihm klar, dass er sich in der Pension Kriwanek eigentlich sehr wohl fühlte und – abgesehen von der täglichen Mahlzeit mit Frau K – alles nach seinen Wünschen verlief.

Tatsächlich war die Pension eine große Wohnung im dritten Stock eines recht neuen Gebäudes, auf der Südseite eines Hofes jenseits der Mariahilfer Straße gelegen, etwa 800 Meter vom Ring entfernt. Sie war mit einer Warmwasserheizung und elektrischem Licht ausgestattet; das großzügige Badezimmer, das von allen Gästen genutzt wurde, war modern (Toilette mit Wasserspülung) und sauber. In einer Agentur hatte Lysander sich eine Liste von Pensionen geben lassen, die ihm ein komfortables Schlafzimmer mit geräumigem Kleiderschrank sowie einen zuverlässigen Wäschedienst boten (er hatte sehr genaue Vorstellungen, was die Stärkung seiner Hemden anging), außerdem sollte eine Tramhaltestelle in der Nähe sein. Die Pension Kriwanek war die erste auf seiner Besichtigungstour, und als er sah, dass das Zimmer aus einem Salon, einem durch Vorhänge abgetrennten Alkoven samt Doppelbett und einer kleinen Schrankkammer bestand, die als Ankleidezimmer diente, mit ausreichend Regalen und Stauraum für seine Garderobe, machte er sich nicht die Mühe weiterzusuchen. Und das hatte ihn vermutlich dazu bewogen, nach dem Essen über einen Umzug nachzudenken – hätte er nicht erkunden sollen, was in Wien sonst noch möglich war? Doch hier hatte er immerhin einen Hauslehrer, das durfte er nicht außer Acht lassen.

Betrat man die Wohnung im dritten Stock, gelangte man durch die Flügeltüren zunächst in eine große Diele – groß genug für zwei Bergères mit Rohrlehnen und einen runden Tisch, in dessen Mitte eine ausgestopfte Eule unter einer Glasglocke thronte. Von der Diele führte ein langer Flur zum Speiseraum, zu den drei Gästezimmern – in denen Lysander, Wolfram und Herr Barth untergebracht waren – und zum gemeinsamen Bad. Am Ende des Flurs befand sich eine Tür mit dem Schild »Privat«; dahinter vermutete Lysander den Küchenbereich und die Gemächer von Frau K. Nie hatte er gewagt, durch diese Tür zu gehen. Da auch Traudl in der Pension wohnte, musste sie dort irgendwo ein Eckchen für sich haben. Allem Anschein nach verlief parallel zum Flur noch ein schmaler Dienstbotengang von der Küche zum Speiseraum – der mit zwei Türen ausgestattet war –, doch davon abgesehen, hatte Lysander nur eine vage Vorstellung vom Grundriss der Pension – wer wusste schon, was sich hinter dem Privat-Schild verbarg? Die Räume waren komfortabel, man hatte seine Ruhe. Das Frühstück wurde einem aufs Zimmer serviert, Abendessen gab es gegen Aufpreis, Lunchpakete konnte man einen Tag im Voraus bestellen. Ihm wurde bewusst, dass er sich hier auf seltsame Art heimisch fühlte.

Traudl kam herein und räumte die Dessertteller ab.

»Wie geht’s, Traudl?«, fragte Lysander. Sie war ein kräftiges, dralles Mädchen, ziemlich unbeholfen dazu.

Wie aufs Stichwort ließ sie einen Dessertlöffel fallen.

»Nicht so gut, mein Herr«, sagte sie, hob den Löffel auf und rieb den Vanillesoßenfleck mit einer Serviette weg.

»Warum denn?«

»Ich schulde Frau Kriwanek so viel Strafgeld, dass mir in diesem Monat kein Lohn bleibt.«

»Das tut mir leid. Du musst besser aufpassen.«

»Traudl? Traudl soll aufpassen? Völlig undenkbar!«, ertönte eine männliche Stimme.

»Guten Abend, Herr Leutnant«, sagte Traudl errötend.

Wolfram Rozman zog einen Stuhl vom Tisch und ließ sich darauf fallen.

»Traudl, mein kleines Flauschküken, bring mir doch ein bisschen Brot und Käse.«

»Aber gern, Herr Leutnant.«

Wolfram lehnte sich über den Tisch und klopfte Lysander auf die Schulter. Er trug einen hellblauen Anzug und eine fliederfarbene Fliege. Er war sehr groß, um einiges größer als Lysander, und bewegte sich mit dieser lockeren, schlaksigen Trägheit, die für hochgewachsene Männer typisch ist. So fläzte er sich hin, den Arm über die Lehne des Nachbarstuhls geworfen, und streckte die Beine unter dem Tisch aus. Seine hellblauen Hosenaufschläge und Gamaschen ragten neben Lysanders Platz unter dem Tisch hervor. Wolfram hatte einen verhangenen, müden Blick und einen dichten blonden Schnurrbart mit gewachsten Enden, die über seine vollen weichen Lippen gezwirbelt waren.

Lysander bot ihm eine Zigarette an, Wolfram nahm sie und zündete sie, nachdem er seine Taschen vergeblich nach Streichhölzern durchforstet hatte, mit Lysanders Feuerzeug an.

»Ich stehe wohl auf ihrer allerschwärzesten Liste«, sagte Wolfram und blies formvollendete Rauchringe in die Luft. »Schwarz wie die Nacht.«

»Sagen wir einfach, du bist nicht besonders ›erfreulich‹.«

»Ich bin den ganzen Weg hierher gerannt, weil ich nicht zu spät kommen wollte, und dann dachte ich – Herrgott sakra, nein, das halte ich nicht aus. Und so bin ich stattdessen ins Café gegangen und habe Schnaps getrunken.«

»Warum verzichtest du nicht ganz aufs Abendessen, so wie Barth? Dann würdest du sie gar nicht zu Gesicht bekommen.«

»Das Regiment kommt für alle Kosten auf. Nicht ich.«

Traudl brachte einen Teller mit mehreren Scheiben Schwarzbrot und etwas Streichkäse.

»Danke, mein Äffchen.«

Traudl schien etwas sagen zu wollen, überlegte es sich jedoch anders, knickste und ging durch die Hintertür.

Wolfram beugte sich vor.

»Lysander – du weißt doch, dass du Traudl besteigen kannst, wenn du ihr zwanzig Kronen gibst?«

»Besteigen?«

»Flachlegen.«

»Im Ernst?« Lysander rechnete schnell nach: Zwanzig Kronen waren nicht einmal ein Pfund.

»Ich mache es mehrmals wöchentlich. Das Mädchen braucht Geld – und eigentlich ist es ganz nett mit ihr.« Wolfram drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus, bestrich eine Brotscheibe mit Käse und fing an zu essen. »Diese süßen großen Landeier haben einige erstaunliche Tricks auf Lager – ich wollte dir bloß Bescheid geben, falls dir mal danach ist.«

»Danke. Ich behalte es im Hinterkopf«, sagte Lysander etwas perplex. Wie würde Frau K wohl reagieren, wenn sie von diesen Machenschaften erführe? Er würde Traudl jedenfalls von nun an mit anderen Augen sehen.

»Du wirkst so überrascht«, sagte Wolfram, sein Käsebrot kauend.

»Das bin ich auch. Ich hatte ja keine Ahnung. Ausgerechnet hier – in dieser Pension. Wie sehr der Schein doch trügt.«

Wolfram richtete sein Messer auf Lysander.

»Diese Pension – die Pension Kriwanek – ist genau wie Wien. An der Oberfläche befindet sich die Welt von Frau K. So angenehm und erfreulich, alle lächeln höflich, niemand furzt oder popelt in der Nase. Aber darunter fließt ein dunkler, reißender Strom.«

»Was für ein Strom?«

»Der Strom der Lust.«

Eine große Zeit

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