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Teil eins Wien 1913–1914 1 Ein auf konventionelle Weise geradezu gut aussehender junger Mann
ОглавлениеEs ist ein strahlend klarer Sommertag in Wien. Du stehst in einem verzogenen Pentagramm aus zitronengelbem Sonnenlicht an der scharfen Ecke Augustinerstraße und Augustinerbastei, gleich gegenüber der Oper, und beobachtest gleichgültig, wie alle Welt an dir vorüberzieht, während du auf irgendjemanden oder irgendetwas wartest, das deine Aufmerksamkeit weckt und fesselt, ein stärkeres Interesse aufkommen lässt. In der Atmosphäre dieser Stadt ist heute ein eigenartiges Prickeln zu spüren, beinah wie Frühling, obwohl der schon lange vorbei ist, aber dir fällt an den Passanten diese leichte Unruhe auf, die der Lenz mit sich bringt, ein Hauch von Ausgelassenheit, das Gefühl ungeahnter Möglichkeiten, ein Anflug von Verwegenheit – wer weiß, um welche Art von Verwegenheit es sich hier in Wien wohl handeln könnte? Doch du hältst die Augen offen, bist außergewöhnlich ruhig, bereit, alles – jede Krume, jedes Münzlein – aufzufangen, das die Welt dir beiläufig in die Hände spielen mag.
Und dann siehst du – zu deiner Rechten – einen jungen Mann aus dem Hofgarten schlendern. Er ist Ende zwanzig, auf konventionelle Weise geradezu gut aussehend, aber dir springt er ins Auge, weil er keinen Hut trägt, eine Ausnahmeerscheinung in der Menge geschäftiger Wiener, die alle einen Hut aufhaben, Männer wie Frauen. Und während dieser auf konventionelle Weise geradezu gut aussehende junge Mann zielstrebig an dir vorbeigeht, bemerkst du seine feinen braunen, vom Wind zerzausten Haare, seinen hellgrauen Anzug und die auf Hochglanz polierten, ochsenblutroten Schuhe. Er ist mittelgroß, aber breitschultrig, Körperbau und Haltung haben etwas von einem Sportler an sich, stellst du fest, als er dich nur wenige Schritte entfernt passiert. Er ist glatt rasiert – auch das ist hier, in dieser Hochburg der Gesichtsbehaarung, ungewöhnlich –, und du bemerkst, dass sein tailliertes Jackett gut geschnitten ist. Ein eisblaues Seidentaschentuch quillt in lockeren Lagen aus seiner Brusttasche. Sein Kleidungsstil wirkt durchaus gesucht – er ist nicht nur auf konventionelle Weise geradezu gut aussehend, er ist auch geradezu ein Dandy. Du beschließt, ihm ein Weilchen zu folgen, da du eine leise Neugier verspürst und ohnehin nichts Besseres vorhast.
Vor dem Michaelerplatz bleibt er unvermittelt stehen, hält inne, starrt auf irgendeinen Aushang und setzt dann seinen Weg zügig fort, als hätte er einen Termin und wollte sich nicht allzu sehr verspäten. Du folgst ihm rund um den Platz bis in die Herrengasse – die schräg einfallenden Sonnenstrahlen heben Details der mächtigen, prachtvollen Gebäude hervor, werfen scharfe, dunkle Schatten auf die Friese und Karyatiden, die Giebel und Gesimse, die Baluster und Architrave. Vor dem Kiosk mit den ausländischen Zeitungen und Zeitschriften bleibt er stehen. Er sucht den Graphic aus, bezahlt, faltet ihn auf und wirft einen Blick auf die Schlagzeilen. Ein Engländer also – wie langweilig –, deine Neugier schwindet dahin. Du kehrst um und läufst zum fünfeckigen Fleckchen Sonne zurück, das du an der Ecke verlassen hattest, in der Hoffnung, dass du dort auf Anregenderes stoßen wirst, und lässt den jungen Engländer seines Weges ziehen, wohin und zu wem auch immer er so entschlossen eilte …
Lysander Rief bezahlte seinen drei Tage alten Graphic (Auslandsausgabe), warf einen Blick auf eine der Schlagzeilen – »Friedensvertrag in Bukarest unterschrieben – Zweiter Balkankrieg beendet« – und fuhr sich unwillkürlich mit der Hand durch die glatten feinen Haare. Sein Hut! Verdammt. Wo hatte er seinen Hut gelassen? Auf der Bank im Hofgarten – natürlich –, auf der er geschlagene zehn Minuten gesessen und in einem Anfall rasender Unentschlossenheit ein Blumenbeet angestarrt hatte, während er sich beunruhigt fragte, ob er wirklich das Richtige tat, plötzlich war er unsicher, zog die Wienreise in Zweifel sowie all ihre Verheißungen. Und wenn es ein Fehler war, seine Hoffnung enttäuscht und sich am Ende alles als sinnlos erweisen würde? Er sah auf die Armbanduhr. Verdammt noch mal. Wenn er zurückginge, würde er zu spät zu seinem Termin erscheinen. Er mochte diesen Hut, die Kreissäge mit der schmalen Krempe und dem kastanienbraunen Seidenband, die er bei Lockett’s in der Jermyn Street gekauft hatte. Bestimmt war sie im Nu gestohlen worden – ein weiterer Grund, nicht zurückzugehen –, und wieder verfluchte er seine Zerstreutheit, während er die Herrengasse entlanglief. Das zeigte doch ganz deutlich, wie angespannt, wie aufgewühlt er war. Wie konnte man von einer Parkbank aufstehen und weggehen, ohne sich automatisch den Hut aufzusetzen … Offenbar machte ihm dieser dräuende Termin sogar noch mehr zu schaffen, als seine vordergründige, vollkommen verständliche Nervosität vermuten ließ. Ganz ruhig, sagte er sich und lauschte dem rhythmischen Klappern der Metallhalbmonde, die in seinen Lederabsätzen eingelassen waren, wenn sie auf das Steinpflaster trafen – ganz ruhig. Das ist doch nur der erste Termin – du kannst jederzeit gehen, nach London zurückfahren –, niemand hält dir deswegen eine geladene Pistole an den Kopf.
Er atmete tief durch. »Es war ein schöner Augusttag im Jahr 1913«, sprach er vor sich hin, wenn auch mit gedämpfter Stimme, gerade laut genug, um auf ein anderes Thema zu kommen und seine Stimmung zu heben. »Es war ein schöner Augusttag des Jahres … ach, 1913«, wiederholte er auf Deutsch und fügte die Jahreszahl auf Englisch hinzu. Zahlen fielen ihm schwer – lange Nummern und Jahreszahlen. Seine Deutschkenntnisse wurden rasch besser, aber er würde Herrn Barth, seinen Sprachlehrer, wohl darum bitten, eine Stunde lang nur Zahlen zu üben, um sie sich endlich einzuprägen. »Ein schöner Augusttag –«. An einer Mauer fiel ihm ein weiteres verunstaltetes Plakat auf, wie dasjenige, das er am Michaelerplatz erblickt hatte – inzwischen das dritte, seit er am Morgen seine Pension verlassen hatte. Man hatte einige Fetzen abgerissen, überall dort, wo der Leim nicht stark genug klebte. Beim ersten Plakat – das gleich neben der Tramhaltestelle hing, unweit der Pension – war sein Auge am Körper der spärlich bekleideten Maid hängengeblieben, die dort abgebildet war (der Kopf fehlte). Sie war fast nackt, geduckt, presste die Hände wie zum Schutz an ihre üppigen Brüste, während zwischen ihren runden Schenkeln ein beinah unsichtbarer, hauchdünner loser Schleier die Scham verdeckte. Die Zeichnung trug ungeachtet ihrer Stilisierung (der duftige, frei schwebende Schleier) realistische Züge, die besonders ansprechend waren, und so hatte er innegehalten, um sich das genauer anzusehen. Er hatte nicht die geringste Vorstellung von dem Hintergrund dieses Bildes, weil alles drum herum abgerissen worden war. Allerdings hatte auf dem zweiten verschandelten Plakat die Spitze eines schuppigen, gezähnten Reptilienschwanzes einen Anhaltspunkt dafür geliefert, warum die Nymphe oder Göttin, oder wer auch immer die Maid war, sich derart zu grausen schien. Und auf diesem dritten Plakat war immerhin noch ein Teil der Beschriftung erhalten geblieben: PERS-, darunter und, eine Zeile weiter schließlich Eine Oper von Gottlieb Toll-.
Er dachte: Pers … Persephone? Eine Oper über Persephone? Hatte man sie nicht in die Unterwelt verschleppt, sodass Narziss – oder wer? – sie dort herausholen musste, ohne sich ein einziges Mal umzuwenden? Oder war das Eurydike gewesen? Oder vielmehr … Orpheus? Nicht zum ersten Mal ärgerte er sich über seine eklektische Bildung. Es gab einige wenige Dinge, über die er sehr viel, und viele Dinge, über die er kaum etwas wusste. Er tat einiges, um dem abzuhelfen – er las alles Mögliche, arbeitete an seinen Gedichten –, doch hin und wieder wurde er aus heiterem Himmel mit seiner Unwissenheit konfrontiert. Das gehörte nun mal zu den Risiken seines Berufs. Gerade die klassischen Mythen und Bezüge stellten für ihn ein undurchdringliches Durcheinander dar, um nicht zu sagen eine entscheidende Lücke.
Wieder betrachtete er das Plakat. Diesmal hatte die obere Kopfhälfte dem Vandalismus standgehalten. Arabesken aus wild wehenden Haarsträhnen und weit aufgerissene Augen, die über den zerfetzten Längsstreifen spähten, als würde die Maid voller Entsetzen hinter einem Bettlaken hervorlugen. Als er die Fragmente der drei Plakate in Gedanken zusammensetzte, um sich ein möglichst umfassendes Bild von der Göttin zu machen, spürte er eine flüchtige Erregung. Eine nackte Frau, jung, schön, schutzlos einem schuppigen, eindeutig phallischen Ungeheuer ausgeliefert, das sich an ihr zu vergehen drohte … Eindeutig war auch die Erregungsabsicht dieser Plakate, und ebenso eindeutig stand fest, dass sie gegen die allgemeine Prüderie verstießen und einen wohlanständigen Bürger dazu verleitet hatten, die Aushänge zu schänden. Alles wahrscheinlich sehr modern – sehr wienerisch.
Lysander ging weiter und unterzog seine Gefühle einer gewissenhaften Prüfung. Warum löste ein Plakat, das die anstehende Vergewaltigung irgendeiner mythologischen Gestalt zeigte, bei ihm Erregung aus? War das normal? Lag es, genauer gefragt, vielleicht an der Pose – die Hände, die sich schützend um die Brüste wölbten, sie hielten, aufreizend und abwehrend zugleich? Er seufzte: Wer könnte diese Fragen schon beantworten? Der menschliche Geist war unendlich rätselhaft, vielschichtig und abgründig. Ja, ja, ja. Genau deswegen war er schließlich nach Wien gekommen.
Er überquerte den Schottenring und die ausgedehnte Grünfläche vor dem riesigen grauen Universitätsgebäude. Dort sollte er hingehen, um mehr über Persephone zu erfahren – er könnte jemanden fragen, der Latein und Griechisch studierte –, doch etwas ließ ihm keine Ruhe, ihm wollte partout kein Ungeheuer einfallen, das in Persephones Geschichte eine Rolle spielte … Im Gehen achtete er auf die Straßenschilder – bald wäre er am Ziel. Er blieb stehen, um eine Trambahn vorbeifahren zu lassen, danach bog er nach rechts in die Berggasse und dann links in die Wasagasse. Nummer 42.
Er schluckte, plötzlich hatte er einen trockenen Mund, und dachte: Vielleicht sollte ich einfach umkehren, meine Koffer packen, nach London zurückfahren und mein überaus bequemes Leben wieder aufnehmen. Aber damit wäre, wie er sich vor Augen führte, sein eigentümliches Problem nach wie vor ungelöst … Das breite Tor zur Nr. 42 stand offen, und er trat in die Einfahrt. Kein Pförtner oder Hauswart in Sicht. Er hätte mit einem Aufzug aus Stahlgeflecht nach oben fahren können, aber er nahm lieber die Treppe. Erster Stock. Zweiter. Schmiedeeisernes Geländer, die Handleiste aus lackiertem Holz, gesprenkelter Granit für die Stufen, die Wandmitte vertäfelt, darunter grüne Kacheln, darüber weiße Tünche. Auf solche Details konzentrierte er sich, um nicht an die Dutzenden – womöglich Hunderten – Menschen zu denken, die vor ihm diese Stufen hinaufgegangen waren.
Im zweiten Stock erwarteten ihn Seite an Seite zwei massiv getäfelte Türen mit Kämpferfenstern. Auf der einen stand Privat. Die andere war über der separaten Klingel mit einem kleinen Messingschild versehen, das dringend einer Politur bedurfte: Dr. J. Bensimon. Lysander zählte bis drei und drückte auf die Klingel, mit einem Mal hatte er die Gewissheit, das Richtige zu tun, vertraute auf die neue, bessere Zukunft, die er sich hiermit sichern wollte.