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Russland – Koloss auf tönernen Füßen
ОглавлениеRussland, zu jener Zeit das größte und mächtigste Reich der Welt, umfasste ein Sechstel der Erde, barg unermessliche Reichtümer und war militärisch unbezwingbar. Aber: Obgleich die gewaltigsten Flüsse Asiens Ob, Jenissei und Lena in ihrem endlosen Lauf kein einziges Mal zaristisches Territorium verließen und die majestätische Wolga in das Kaspische Meer mündete, führten die Wasserwege nicht in die Weltmeere –, darin lag die geopolitische Tragik des Zarenreiches. So musste es in Port Arthur am Gelben Meer (heute Lüshunkou, ein Stadtbezirk der chinesischen Stadt Dalian) einen Flottenstützpunkt errichten. Im Februar 1904 griff Japan, angespornt durch England, den Stützpunkt erfolgreich an. Zwei Monate später, am 8. April, schlossen das Vereinigte Königreich und Frankreich die Entente cordiale68. Im Januar 1905 mussten die russischen Truppen in Port Arthur kapitulieren. Das wirkte sich auf die Heimat aus: Steigende Brotpreise veranlassten unzufriedene russische Bürger, am 22. Januar 1905 zum Winterpalais des Zaren zu marschieren – geordnet und unbewaffnet. Dort forderten über 150 000 Demonstranten bürgerliche Freiheiten und wirtschaftliche Verbesserungen. Völlig überraschend eröffneten die Wachmannschaften das Feuer. Dieser »Petersburger Blutsonntag« forderte über einhundert Todesopfer, löste eine Welle der Empörung aus und führte zu einer Radikalisierung der Bevölkerung. Am 27. Juni 1905 meuterte die Besatzung des Panzerkreuzers Potemkin. Auch kam es zu antijüdischen Pogromen. In dieser aufgeheizten vorrevolutionären Atmosphäre befürwortete der aus dem Exil zurückgekehrte Lenin den bedingungslosen Kampf gegen das Zarentum: »Von der demokratischen Revolution werden wir«, so Lenin im September 1905, »zur sozialistischen Revolution übergehen. Wir sind für die ununterbrochene Revolution.«69
Als Gegenkraft entstand im gleichen Jahr der russische Geheimverband »Schwarze Hundert« (Tschernaja Soinja), ein Sammelbecken orthodoxer monarchistisch-nationalistischer Gruppierungen, in dem der »Bund des russischen Volkes« (auch »Verband des echt russischen Volkes«) die bedeutendste darstellte. Ähnlich dem angelsächsischen Vigilantismus oder dem Ku-Klux-Klan, wurde »sytemstabilisierende(n) Selbstjustiz unter dem populistischen Deckmantel der Verteidigung höherer Werte und des Staates«70 ausgeübt. Die Gewalt war nicht selten rassistisch motiviert.71 So flammten erneut Pogrome gegen die Juden auf. Hunderte von Ortschaften wurden von den Ausschreitungen erfasst. Sie verliefen weitaus blutiger als die der Jahre 1881/82. Vom russischen Innenminister Wjatscheslaw Konstantinowitsch von Plehwe (1846–1904) wurden diese Pogrome als Racheakte der christlich-patriotischen russischen Menschheit gegen die jüdischen Revolutionäre hingestellt. Die gewalttätigen Bünde, die vor allem zwischen 1904 und 1906 Träger des Terrors gegen die Revolutionäre und Anstifter von antisemitischen Pogromen waren, wurden jedoch ohne Zweifel von den zaristischen Behörden unterstützt. Diese Gruppierungen gehörten zu den modernen europäischen nationalistischen Bewegungen. In der Folgezeit wurden die »Protokolle der Weisen von Zion« in Umlauf gebracht72 – angebliche Pläne zur Errichtung einer »jüdischen Weltherrschaft«, deren eigentliche Herkunft weitgehend unbekannt blieb.
Der Sieg der bisher unbedeutenden Japaner im Herbst 1905 über den bis dahin mächtigsten Herrscher wirkte sich auf Russland verheerend aus. Zur Kompensation suchte Russland nun die slawische Welt unter seiner Führung zu einigen. Diese jüngere Form des Panslawismus – auch Neoslawismus genannt – richtete sich vor allem gegen Österreich und die Türkei und mittelbar auch gegen Deutschland. In dieser Phase trat Russland der Entente cordiale bei, die dadurch zur Triple Entente wurde, und trachtete nun danach, seine Einflusssphären auf dem Balkan zu vergrößern, um endlich einen ungehinderten Zugang zum Mittelmeer zu erhalten, was sowohl England als auch die Habsburger-Monarchie zu verhindern suchte. Aus diesem Grund plante der österreichische Thronfolger, Erzherzog Franz Ferdinand, den bisherigen Dualismus Österreich-Ungarn zu einem Trialismus Österreich-Ungarn-Südslawien zu erweitern. Die einzelnen slawischen Bevölkerungsgruppen sollten weitgehende innere Autonomie erhalten.