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Wetterleuchten im Mittelmeerraum

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Verschlangen in Deutschland die industriellen Neugründungen jedes Jahr die Gewinne, so hatten England oder Frankreich, deren Industrie über ein Jahrhundert länger bestand, in ihren Sparkassen Milliarden angehäuft. Vor diesem Hintergrund hatte Kaiser Wilhelm II. im Jahr 1902 versucht, mit den französischen Banken eine Finanzallianz ins Leben zu rufen, denn Deutschland benötigte für die von Sultan Abdülhamid II. erhaltene Konzession zur Bagdadbahn disponible Gelder. Es kam zu einem deutsch-französischen Bankensyndikat mit Arthur von Gwinner, Präsident der Deutschen Bank, an der Spitze. Als Vizepräsident fungierte Adolphe Vernes, ein Mitstreiter der Rothschilds in der »Compagnie du Nord« sowie Aufsichtsrat der Banque de l’Union Parisienne, der Banque Ottomana und der Eisenbahn Saloniki-Konstantinopel.110 Nach der Verständigung der Bankiers bahnte sich auch die Einigung der Diplomaten an. Damit war ein deutsch-französisches Freundschaftsabkommen in Sicht. Und das musste London beunruhigen.

Bereits nach seinem Amtsantritt im Jahr 1901 hatte der britische König Eduard VII., ältester Sohn von Queen Victoria und Onkel des deutschen Kaisers Wilhelm II., die Annäherung an Frankreich gesucht. Anfang des Jahres 1903 erschien er nun mit großem Pomp in Paris. Und die Pariser, die nur zwei Jahre zuvor während des Burenkriegs »Es lebe Krüger!« und »Nieder mit Chamberlain!« gebrüllt hatten, skandierten nun »Es lebe Eduard VII.!«. Am Tag des Abschieds wurde klar, was der britische König mit Außenminister Delcassé und Vernes verhandelt hatte: Die Finanzagenturen verkündeten, dass sich Vernes und seine Gruppe vom Bagdadbahn-Konsortium zurückziehen würden. Das deutsch-französische Syndikat war damit gesprengt. Als Entschädigung machte das Londoner Kabinett den französischen Finanzmächtigen Marokko zum Geschenk – ein Land, das sie gar nicht besaßen!

Mittels einiger Konzessionen in Persien und auf dem Balkan söhnte sich Eduard auch mit dem Zaren aus, um anschließend Italien vom Dreibund abzusprengen und in Ungarn den Hass gegen Deutschland anzustacheln. Und schließlich wurden die Jungtürken – eine nationalistisch-reformistische Bewegung – durch Geld und Ratschläge ermuntert, den Kaiserfreund Abdul Hamid vom Thron zu jagen. All diese Vorgänge führten im wachsamen Berlin zur Verstärkung des deutschen Flottenbauprogramms.

Fast ein Jahr später, am 8. April 1904, unterzeichneten der britische Außenminister Lansdowne und der französische Botschafter Paul Cambon den als »Entente cordiale« bekannt gewordenen Vertrag, der die traditionelle Rivalität beider Länder beendete. In Übereinstimmung wurde neben wechselseitigen Gebietsansprüchen in Neufundland, Madagaskar, den Neuen Hebriden und Siam (Thailand) vor allem die britische Herrschaft in Ägypten und im Sudan festgeschrieben. Im Gegenzug gestand Großbritannien Frankreich zu, sein afrikanisches Kolonialreich bis über das Kongobecken und über die Sahara hinaus auszudehnen und sich – im Widerspruch zur Konvention von Madrid – in Marokko auszubreiten.111 Diese Konvention vom 3. Juli 1880 war zwischen dem Sultan von Marokko und den Staaten Deutsches Reich, Österreich-Ungarn, Großbritannien, Frankreich, Italien, Spanien, Niederlande und USA geschlossen worden; sie sicherte die Unabhängigkeit und den Besitzstand Marokkos sowie die dortigen Rechte der Ausländer. Italien hatte Frankreich bereits Ende 1902 seinen Segen dafür gegeben, im geeigneten Augenblick in Marokko seine »Einflusssphäre« frei auszudehnen. Im Gegenzug bekam Italien Tripolis und die Cyrenaika im östlichen Libyen. Nicht zu Unrecht fasste Paris den Vertrag als ein italienisches Neutralitätsversprechen für den Fall eines deutsch-französischen Krieges auf. Das war das faktische Ende des Bismarck’schen Dreibundes – Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien. Nach der Allianz mit Russland112 hatte Frankreich nun eine zweite Bresche in das Bollwerk Bismarcks geschlagen.

Noch vor Abschluss der Entente hatte England seinen Bündnispartner Japan zu einem Gewaltakt gegen Russland in Asien ermuntert. Ohne Kriegserklärung wurde daraufhin der einzige eisfreie Hafen Port Arthur erobert und die dort liegende russische Flotte versenkt (ähnlich wie später in Pearl Harbor die amerikanische). England wollte Indien sichern, und Japan hatte mit Russland seit dem Krieg gegen China 1894-95 noch eine Rechnung offen. Im weiteren Verlauf wurde die russische Armee bei Mukden vernichtend geschlagen und Flotteneinheiten bei Tsushima versenkt. Der klägliche Zusammenbruch vor Japans Waffen entfesselte schließlich die Unzufriedenheit des russischen Volkes. Die Folge: Streiks, Unruhen und Erhebung der unterdrückten Nationalitäten – die Vorläufer der späteren Sowjets beanspruchten die Regierungsgewalt.

Marokko war seit der Kolonisierung Algeriens unter immer stärkeren französischen Druck geraten. In klarer Verletzung des Völkerrechts und mit Billigung Englands begann Frankreich 1905 mit der als »friedliche Durchdringung« bezeichneten Kolonisierung des Sultanats.113 Nicht zuletzt mögen auch die reichen Erzvorkommen des Landes eine Rolle gespielt haben, um sie stritten sich deutsche und französische Rüstungskonzerne.114 Das brüskierte Deutschland115 versuchte, die Stellung des Sultans zu stärken. Reichskanzler von Bülow erweiterte daher die geplante Erholungsreise des Kaisers im Mittelmeer um einen Besuch des Sultans in Tanger. Der Kaiser erkannte die Gefahr, »dass dieser Besuch bei der Lage der Dinge in Paris als Provokation aufgefasst werden könnte und in London die Geneigtheit zur Unterstützung Frankreichs im Kriegsfalle bewirken würde«116, gab aber schließlich nach.

Wie erwartet, erhob sich lautes Protestgeschrei, die englische und französische Presse bezeichnete den deutschen Kaiser als Provokateur und Friedensstörer. Dabei war es nach unwidersprochenen Berichten französischer Zeitungen Ministerpräsident Maurice Rouvier, der beim Kriegs- und Marineminister nachgefragt hatte, ob Frankreich kriegsbereit sei. Und Außenminister Théophile Delcassé (1852–1923), der seine antideutsche Politik in Übereinstimmung mit dem englischen Kabinett betrieb, erklärte im Ministerrat, England habe für den Kriegsfall angeboten, mit 100 000 Mann in Holstein zu landen und den Kaiser-Wilhelm-Kanal zu besetzen.117 Der Journalist und Volkswissenschaftler Francis Delaisi zählt die Aktionen des chauvinistischen Ministers auf: »Er versuchte Italien vom Dreibund abzusprengen, unterhandelte in Petersburg, intrigierte in Konstantinopel und legte es darauf an, das isolierte Deutschland durch England und Frankreichs Unterstützung vernichten zu lassen.«118

Nachdem Wilhelm II. gegenüber der französischen Regierung sein Befremden bekunden ließ, fand im Elysée-Palast ein denkwürdiger Ministerrat statt. Rouvier verlangte von Delcassé sofortige Aufklärung. Delaisi berichtet: »Während zweier Stunden setzte damals der kleine Mensch seinen überraschten Kollegen seine Intrigen auseinander und drang schließlich kalten Bluts auf die Fortsetzung seiner Politik ›der Einkreisung‹, auf eine Militärallianz mit England und auf den Krieg gegen Deutschland.«119 Von der geringen Bedeutung der Marokkokrise überzeugt, war die einmütige Antwort des Kabinetts die Entfernung des für den Frieden gefährlichen Außenministers. Damit normalisierten sich die Beziehungen zu Berlin allmählich. Auch das Verhältnis zu den Briten wurde wieder freundschaftlicher.


Das einzige Bild, das Wilhelm II. mit dem jungen Churchill zeigt. Hier nimmt der Brite in der Uniform eines Hauptmanns der Reserve im 5. Britischen Husarenregiment an den Kaisermanövern von 1906 teil (© Abb. 9)

1909 wohnte der junge Winston Churchill deutschen Kriegsmanövern bei. Zurück in England beschrieb er des Kaisers Rastlosigkeit: »Alles, was er wollte, war, sich wie Napoleon zu fühlen, ohne dessen Schlachten schlagen zu müssen.«120 Später wird Churchill Wilhelm II. als expansionslüsternen preußischen Kriegshetzer bezeichnen. Die deutschen Heere hatten seit 1871 nicht mehr gekämpft (mit Ausnahme des Herero-Hottentotten-Aufstandes). Im Vergleich zu Wilhelm II., der selbst nie an einer Schlacht teilgenommen hatte, war der junge Churchill ein ausgefuchster Kriegsveteran. Hier wird deutlich, wie grundverschieden die beiden waren: Während der von Geburt an durch einen verkümmerten Arm behinderte Wilhelm II. lediglich die heroische Pose liebte, aber als Friedenskaiser in die Geschichte eingehen wollte, war Churchill ein alter Haudegen, der sich wenig um die Verheerungen eines Krieges kümmerte. Patrick J. Buchanan fasst zusammen: »Er hatte Sir Bindon Blood auf seinem Feldzug in Nordwestindien begleitet. Er hatte zu Herbert Kitcheners Kavalleristen gehört, die bei Ondurman die Derwische niedermetzelten. Er war in den ersten Tagen des Burenkrieges in einem gepanzerten Zug gefangengenommen worden, aus der Gefangenschaft entflohen und mit dem britischen Heer nach Ladysmith marschiert, um den burischen Belagerungsring zu sprengen. So wie Großbritannien im Jahrhundert vor Sarajewo weit mehr Kriege ausgefochten hatte als Deutschland, hatte Churchill persönlich mehr Pulver gerochen als jeder Soldat der Preußisch-deutschen Armee.«121

Mit dem Einmarsch französischer Truppen unter General Charles Moinier in Marokko am 21. Mai 1911 und der Besetzung von Fès und Rabat begann die zweite Marokkokrise. Unverzüglich versetzte Spanien seine Truppen in Alarmbereitschaft, da es sich durch die militärische Präsenz Frankreichs im Nachbarland in seinen Interessen bedroht sah. Desgleichen baten deutsche Firmenhäuser im Süden Marokkos um Hilfe. Am 1. Juli wurde in der Wilhelmstraße der Marschbefehl für das Kanonenboot Panther unterschrieben.122

Die Franzosen erkannten sehr schnell, dass Deutschland es trotz aggressivem Vorgehens und ebensolcher Rhetorik nicht auf einen Krieg gegen Frankreich und Großbritannien ankommen lassen würde. In den Verhandlungen zwischen dem deutschen Staatssekretär Alfred von Kiderlen-Waechter und dem französischen Botschafter Jules Cambon wurden deshalb nur unbedeutende mittelafrikanische Kompensationen angeboten.123 Das im Marokko-Kongo-Abkommen erreichte Resultat wurde in der deutschen Presse und Öffentlichkeit enttäuscht als Niederlage, als »neues Olmütz«, aufgenommen.124

Der Erfolg Frankreichs in Marokko weckte Gelüste in Rom. Aufgrund der Verarmung der italienischen Bevölkerung waren allein zwischen 1901 und 1911 etwa 1,6 Millionen Italiener nach Südamerika und in die Vereinigten Staaten ausgewandert.125 In den zum Osmanischen Reich gehörenden Provinzen Tripolitanien und Cyrenaika sahen vor allem nationalistische Intellektuelle die Lösung der sozialen Probleme Italiens. Die Idee einer kolonialen Expansion griff der italienische Premier Giovanni Giolitti im Spätsommer 1911 auf. Am 26. September stellte die italienische Regierung der Hohen Pforte ein. Darin forderte sie die sofortige Abtretung Tripolitaniens und der Cyrenaika. Dieses Vorgehen erschien unbedenklich: Österreich-Ungarn war an einer Schwächung des Osmanischen Reiches interessiert, während Frankreich gerade sein Protektorat Marokko ausbaute. Als drei Tage später Sultan Mehmed V. die Forderung zurückwies, erfolgte die sofortige Kriegserklärung, da Italien vom schwachen Osmanischen Reich keinen nennenswerten Widerstand erwartete.

Der sollte überraschenderweise von der einheimischen Bevölkerung kommen. Sie hatte unter der osmanischen Herrschaft relativ unabhängig gelebt und sah in den Italienern nichts anderes als feindliche Invasoren. Nach einem blutigen und verlustreichen Gefecht bei Sciara Sciat in der Nähe von Tripolis am 23. Oktober 1911 lagen die Nerven der Italiener blank. In den folgenden Tagen und Wochen wurden Tausende von Arabern erschossen, ihre Hütten verbrannt und das Vieh beschlagnahmt. Etwa 4000 Muslime wurden auf die Strafinseln Trementi und Ponza verschleppt. Mit den wenigen osmanischen Truppen zogen sich die lokalen Araber- und Berberstämme ins Landesinnere zurück. Lenin bezeichnete den Italienisch-Türkischen Krieg deshalb als »ein vervollkommnetes, zivilisiertes Massaker, ein Abschlachten der Araber mit neuzeitlichsten Waffen«, er nannte die Zahl von 14 800 getöteten Arabern.126

Am 18. Mai 1912 stellte der Zentrumsabgeordnete Peter Spahn (1846–1925) im Reichstag fest, dass die Unruhe in der Welt fortdauere. Deutschland sei mit den Verhältnissen konfrontiert, die sich durch den Krieg in Tripolis ergeben haben. Auch würde Deutschland wirtschaftlich durch die Unruhen in China berührt. Außerdem seien die Verhältnisse in Marokko noch nicht geordnet. »Nach allem, was wir wissen,« so Spahn, »hat sich unser Auswärtiges Amt darauf beschränkt, in Gemeinschaft mit den übrigen Großstaaten bei der Türkei und bei Italien auf den Schutz des Verkehrs und die Herbeiführung des Friedens hinzuwirken, ohne eigene selbständige Schritte zu tun, und ich glaube, daß dieser Standpunkt der richtige ist, wobei ich nur betonen will, daß es für uns hauptsächlich darauf ankommen muß, einmal die Einmütigkeit der Großmächte im bezug auf ihr Verhalten zur Türkei und zu Italien zu erhalten, und dann daß die Betätigung dieser Einigkeit in der Richtung der Friedensbestrebungen zu gehen hat.«127 Weiter führte er aus, dass die Einigkeit vor allem dem Schutz des eigenen Handelsverkehrs nach der Türkei und den vom Krieg berührten Plätzen dienen solle. Mit Blick auf den am 30. März 1912 mit Muley Hafid, dem Bruder des Sultans, abgeschlossenen Vertrag über das französische Protektorat über Marokko würden die Schwierigkeiten nicht im Abschluss, sondern erst der Ausführung dieses Vertrages liegen. Wie visionär!

In der gleichen Sitzung wies der national-liberale Abgeordnete Ernst Bassermann (1854–1917) die Behauptung, Deutschland habe die Spannungen in der Welt mit zu verantworten, als unrichtig zurück und stellte fest: »Deutschland hat in den 40 Jahren eine Friedenspolitik getrieben im Gegensatz zu manchen anderen Staaten. Welche großen Ereignisse sind in diesen 40 Jahren an uns vorübergezogen! Wie ist es England, Frankreich, Japan und heute Italien gelungen, ihren Besitz zu erweitern! Ich erinnere Sie demgegenüber an die Tatsache, daß, wenn irgend mal in der Welt die Mutmaßung auftauchte, daß Deutschland eine Kohlenstation erwerben wolle, wir dann sofort unsererseits Verwahrung, oft überflüssigerweise, eingelegt haben, daß wir solche Expansionsgelüste haben. Ich verweise Sie auch auf die unerfreuliche, aber doch durch das Gefühl der Notwendigkeit der Friedenserhaltung geleitete deutsche Politik in der Marokkofrage.«128 Hier erkannte der Abgeordnete, dass Frankreich in seiner Eroberung Marokkos nicht von kriegerischen Zusammenstößen mit diesen kräftigen Berberstämmen verschont bleiben würde – das konnte auch 2013 in Mali beobachtet werden, wo aufgrund von Al-Qaida-Terror die blutigen Fingerabdrücke einer weniger gut getarnten französischen Rekolonisierung des ehemaligen Französisch-Afrikas zu erkennen waren.129

Bassermann sah jedoch eine Zeit kommen, »in der Marokko, das wertvolle Land, genau so pazifiziert sein wird wie Algier, das können wir wohl der französischen Energie, die in seiner Kolonialpolitik sich geltend macht, zutrauen.«130 Hier aber sollte Bassermann irren.

Der sozialdemokratische Abgeordnete Eduard David (1863–1930) lenkte den Blick auf England und wies auf eine Änderung in der englischen Flottenpolitik hin. Dazu zitierte er aus der jüngsten Rede des britischen Marineministers Winston Churchill: »Wenn die Hauptaufgabe der Flottenentwicklung in den letzten zehn Jahren darin bestand, die britische Flotte an entscheidenden Orten zu konzentrieren, so scheint es mir nicht unwahrscheinlich, daß die Flottenentwicklung in den nächsten zehn Jahren ein Wachstum der Flottenstärke in den großen Dominions über See bringen wird. Dann werden wir sozusagen eine Arbeitsteilung zwischen dem Mutterland und den Töchterstaaten vornehmen können.«131

Diese Überlegungen entsprachen durchaus den Ideen des US-amerikanischen Seestrategen Alfred Thayer Mahan (1840–1914; siehe Seite 141 sowie 313 f.). Aufgrund seiner Studien kam Mahan zu dem Schluss, dass Inselstaaten aufgrund ihrer geographischen Lage einen naturgegebenen Vorteil beim Wettbewerb auf dem Meer haben: »Die Geschichte hat schlüssig nachgewiesen, daß ein Staat selbst mit einer einzigen kontinentalen Grenze zum Wettbewerb im Aufbau einer Marine mit einem Inselstaat unfähig ist, auch wenn dieser Inselstaat nur über eine kleinere Bevölkerung und geringere Mittel verfügt.«132 So war Deutschland hinsichtlich der Flottenpolitik für Großbritannien kein ernstzunehmender Gegner, im Gegenteil, denn wertvolle strategische Ressourcen wurden durch den Flottenbau vernichtet.

Erst im Herbst 1912 fand sich die Türkei zu Friedensverhandlungen bereit – nicht nur weil Italien die Truppen massiv verstärkt hatte und seine Kriegsflotte erfolgreich vor den osmanischen Küstenregionen operierte. Es formierte sich außerdem eine neue, größere und massivere Bedrohung als der italienische Kolonialismus an der Nordgrenze des Osmanischen Reiches: Die Schwäche der Türkei hatte weitere Begehrlichkeiten geweckt. Unter der seit 1909 propagierten Formel »Der Balkan den Balkanvölkern!« fassten Serbien und Bulgarien im Frühjahr 1912 einen »Balkanbund« ins Auge.133 Gemeinsam sollte eine Ausdehnung Österreich-Ungarns verhindert und Albanien sowie Makedonien von der Türkei befreit werden. Damit waren umfangreiche Konflikte vorprogrammiert, deren Lösungen sehr wesentlich vom Verhalten der Bündnispartner Serbiens und Österreich-Ungarns abhängen würden. An der Konstruktion des Bundes war maßgeblich der russische Gesandte in Belgrad, Nikolaus von Hartwig, beteiligt, der zwischen 1910 und 1914 als »ungekrönter König von Serbien« das Feld beherrschte.


Dampfkessel Balkan: Den Deckel halten gemeinsam der russische Zar, der englische Premier, der Deutsche Kaiser, der französische Premierminister und der K.-u.-k.-Monarch (v. l. n. r.) (© Abb. 10)

Bereits 15 Jahre zuvor, Anfang 1897, hatte der englische Staatsmann William E. Gladstone die europäische Öffentlichkeit mit der Frage verblüfft: »Why not Macedonia for Macedonians as well as Bulgaria for Bulgarians and Serbia for Serbians?«134 Damit hatte er nicht nur die Makedonier aus der Taufe gehoben – eine Nationalität, die sich allein über den Namen ihres Siedlungsraumes definierte –, sondern auch Serbien und Bulgarien in ihre Grenzen verwiesen. Hier liegt nun der Verdacht nahe, dass es ihm dabei weniger um die Bewohner dieser Region ging als vielmehr um die englischen Großmachtinteressen.135

Am 13. März 1912 schlossen Bulgarien und Serbien einen Offensivvertrag gegen die Türkei, eine geheime Anlage wies alle Entscheidungen Russland zu. Dem folgte am 29. Mai ein bulgarisch-griechischer Vertrag, am 2. Juli die bulgarisch-serbische und am 25. September die bulgarisch-griechische Militärkonvention. Schon im Frühsommer 1912 hatte sich Serbien zudem der Hilfe des aufständischen Albaniens versichert. Am 8. Oktober erklärte Montenegro eigenmächtig der Türkei den Krieg, bis zum 17. folgten Bulgarien, Griechenland und Serbien.

Wiederkehr der Hasardeure

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