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Ökonomische Dimensionen

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Im Frühjahr 1914 war die Weltpolitik nicht nur vergiftet durch die lokalen Problemfelder Serbien, Polen, Elsass-Lothringen und Türkei, sondern auch geprägt vom globalen Kampf um Wirtschaftsräume – und nirgendwo in den Kabinetten war der Wille zum Frieden zu spüren. Die große Masse der Bevölkerung hatte dagegen eine tiefe Sehnsucht nach Frieden. Genauso wie heute hätte es nicht zu Kriegen kommen müssen, wenn es nach den Bürgern gegangen wäre. In einem Geheimtelegramm mit Abschrift nach Paris und Sofia instruierte der russische Außenminister Sasonow den Botschafter in London, das Zustandekommen der bulgarischen Anleihe auf dem Berliner Markt zu verhindern. Bulgarien solle vor dem wirtschaftlichen Zugriff Deutschlands bewahrt werden. In diesem von Russland gewünschten Sinne würde auch der französische Gesandte in Sofia arbeiten.210

Im Mai 1911 erschien in Paris das Büchlein »La Guerre qui vient« (Der kommende Krieg) von Francis Delaisi (1873–1947). Er stellte schon auf der ersten Seite klar, dass es seitens des deutschen Proletariats kein Verlangen gab, sich auf das französische zu stürzen. Auch die einfachen Menschen in England wünschten, in Ruhe auf dem Feld bzw. in ihren Werkstätten zu arbeiten. »Und auch die Franzosen, seien sie Arbeiter oder Bauern, Proletarier oder Bürger, internationale Sozialisten oder radikale Patrioten«, hätten nur den Wunsch nach Frieden.211 »Es müsste also alles gut gehen und wir könnten ganz ruhig sein«, konstatiert Delaisi, »wenn die Völker wirklich die Herren ihrer Geschicke wären.« Doch unglücklicherweise bestimme kein Volk über seine auswärtige Politik, die ausschließlich von einer kleinen Zahl von Diplomaten gemacht würde. »Diese äußerst soignierten Leute rekrutieren sich überall, auch in unserer Republik.« Sie stammten aus dem Brief- oder dem Geldadel, »sind ganz in Händen der Finanz oder der Industrie und arbeiten nur für deren auswärtige Anleihen und Aufträge. Ein Botschafter ist heutzutage mitsamt seinem gestickten Rock nichts anderes mehr als ein Agent der Banken oder der großen Handelshäuser«, daran würde auch der republikanische Aufbau nichts ändern. »Stellt ein Abgeordneter eine Frage über irgendeine auswärtige Angelegenheit, dann antwortet die Regierung immer wieder mit denselben unbestimmten und feierlichen Erklärungen über Bestrebungen zur Erhaltung des Friedens und über das europäische Gleichgewicht.« Dank der nichtssagenden und häufig den Blick verstellenden diplomatischen Sprache würden weder die Völker noch die Parlamente etwas Konkretes wissen. Delaisi fürchtete, dass allein durch ein paar wenige Menschen Völker in die schwersten Konflikte gebracht und in Kriege verwickelt würden und verwies auf die Machenschaften Delcassés in den Jahren 1904/1905. Mit großer Sorge registrierte Delaisi dessen Rückkehr, zwar nur als Marineminister unter Jean Cruppi, doch niemand in Europa solle sich täuschen. Außenminister Cruppi sei am Quai d’Orsay nur ein Strohmann. Delcassé habe nun leichtes Spiel, eine Frankreich an England bindende Militärkonvention abzuschließen. Für Delaisi war es nun an der Zeit, »die Augen zu öffnen und mit kühlem Blick die politische Lage in Europa zu betrachten, um die gefährliche Intrige zu erkennen, in die uns unsere Finanzhäuptlinge verwickeln wollen«212.


Schon 1911 erkannte der Autor des Buches »Der kommende Krieg«, Francis Delaisi, wie Verwicklungen von Politik, Wirtschaft und Banken den Frieden gefährden (© Abb. 13)

In der Tat hatten sich seit Ende des 19. Jahrhunderts die Kriegsmotive und -ziele vollkommen verändert. Ging es Bismarck im deutschen Einigungskrieg von 1870/71 noch um Annexion und Eroberung, machten sich nun Kaufleute, Banker und Industrielle auf der ganzen Welt gegenseitig Absatzmärkte, Eisenbahnaufträge, Anleihen und Minenkonzessionen streitig. Konnte man sich nicht verständigen, griff man zur Ultima ratio der Waffen. Das war erstmalig 1895 zu beobachten, als die Japaner mit den Chinesen um die Ausbeutung von Korea stritten. 1898 gerieten die US-Amerikaner mit den Spaniern wegen Cuba und den Philippinen aneinander, und ein Jahr später überfielen die Engländer die Buren wegen deren Minen in Transvaal. 1900 schickten Europa und die USA Expeditionsarmeen in den chinesischen Boxeraufstand, um die sogenannte »Politik der offenen Tür« durchzusetzen: Für den Handel sollte die Tür offen stehen, und wenn nicht, durfte sie eingetreten werden. So wurden den Chinesen z. B. Eisenbahnen aufgenötigt. Nur um zu entscheiden, wer die Mandschurei ausbeuten dürfe, massakrierten sich 1904/05 über 18 Monate lang gegenseitig Russen und Japaner.

All diese blutigen Kriege brachten den Siegern kaum erwähnenswerten Gebietszuwachs. Die Beute blieb vielen verborgen: Es waren die Absatzmärkte, die Eisenbahnen, die Anleihen und die Zolltarife. Für diese Kriege der »Dividenden« musste die jeweilige Propaganda den Gegner dämonisieren. Diese Aufgabe übernahm – und das in allen Ländern – eine wenn nicht käufliche, doch zumindest kritik- und gedankenlose Presse und erleichterte es damit der Geldoligarchie, ihre Geschäftskriege zu führen. Das galt besonders für die durch ihre Lage und Geschichte bevorzugten Briten, sie erschienen Walter Rathenau »als die Erben der Römer, als die überlebenden Rivalen der Venezianer und Holländer«213.

Dank Stahl, Kohle und Erfindungsgeist nahm die Seemacht England vor allen anderen Nationen eine unvergleichliche industrielle Entwicklung. Begünstigt durch die Insellage, konnten während eines ganzen Jahrhunderts die Webereien von Manchester und die Metallfabriken Birminghams ihre Erzeugnisse über den Erdball verbreiten und immensen Gewinn anhäufen. Nur Frankreich wagte zaghafte Konkurrenz. Dessen Unternehmer schimpften auf das »perfide Albion« – stehender Begriff für die vermeintliche Hinterhältigkeit der englischen Außenpolitik.214 Doch schließlich verzichtete die französische Oligarchie im Jahr 1898 im Zuge des Faschoda-Zwischenfalls – der britische Lord Kitchener ließ im Sudan die Trikolore einholen – auf jeden weiteren Anspruch als Großmacht. England war der unbestrittene Herrscher der Welt. Es hatte am Ende des 18. Jahrhunderts die Trümmer der vorangegangenen Großmächte Holland und Frankreich zielgerichtet eingesammelt. »Jetzt, nach einem Jahrhundert der Herrschaft«, schrieb 1908 auf den asiatischen Schlachtfeldern der hervorragendste strategische Mitarbeiter von Sun Yat-Sen, der US-Amerikaner Homer Lea: »… einer so überlegenen Herrschaft wie die Menschheit sie nie zuvor gekannt hat, sieht sich das Britische Empire einem Kampf um den Besitz von einem Drittel der Welt gegenüber, bedroht nicht nur von einer einzelnen Macht, sondern von vier Mächten. Jede dieser Mächte ist vergleichsweise besser in der Lage, den Engländern die Herrschaft zu entreissen, als die Angelsachsen selbst es waren, als sie von der Mitte des 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts ihr Empire mit Waffengewalt von Portugal, Spanien, Holland und Frankreich zusammenraubten.«215

Deutschland war indes ohne natürlichen Schutz und von rivalisierenden Völkern umgeben. Noch dazu wurde die wirtschaftliche Entwicklung bei nur mäßigen Bodenschätzen in den nördlichen Landesteilen alle hundert Jahre durch Kriege und Einbrüche regelrecht zertreten. So bildeten die deutschen Lande den Gegensatz zu Englands und Amerikas bevorzugter Lage.

Bis 1870 waren die Länder des deutschen Bundes ausschließlich Agrarstaaten. Da die Böden nicht überall ertragreich waren, wanderten Jahr für Jahr zwischen 100 000 und 200 000 junge Deutsche nach Amerika aus. Nach dem Einigungskrieg suchte Bismarck – und später Kaiser Wilhelm II. – das Deutsche Reich nach englischem Vorbild in einen Industriestaat umzuwandeln. An Rhein und Ruhr entstanden in atemberaubender Schnelligkeit Hochöfen, Stahlwerke und Eisengießereien. Auf den Werften an Nord- und Ostsee wurde eine Handelsflotte auf Kiel gelegt, die Häfen sorgfältig auf ihre kommenden Aufgaben vorbereitet, Eisenbahnnetze ausgebaut und Flüsse kanalisiert. Am Ende des 19. Jahrhunderts erhöhten die Industrien der imperialistischen Länder rücksichtslos die Produktion, um ihre Waren vor dem Konkurrenten an den Mann zu bringen. Das veranlasste Friedrich Engels zu dem noch heute gültigen Kommentar: »Es wird produziert, als wären ein paar tausend Millionen neuer Konsumenten auf dem Monde entdeckt worden.«216

Noch schauten die Briten herablassend auf die deutschen Vettern. Um vor deutschem »Schund« zu warnen, wurde ein Gesetz verabschiedet, nach dem alle Waren deutscher Herkunft die Marke »Made in Germany« tragen mussten. Wie groß muss das Erstaunen und die Wut gewesen sein, als festgestellt wurde, dass dieser Diskreditierungsstempel die deutschen Waren adelte. Obendrein kamen aus allen Teilen der Welt von den zur Überwachung des Handels aufgerufenen englischen Konsulen Berichte über die zunehmende Geschäftstätigkeit deutscher Kaufleute, Unternehmer und Ingenieure. Zugleich verlangsamte sich die Entwicklung des englischen Handels, während der deutsche ungeahnte Höhen erklomm. Umgekehrt dazu verhielt sich das Auswanderungsverhalten. Während die Auswanderungszahlen der Briten und Italiener stiegen, fielen die der Deutschen fast bis auf null. Ist das etwa kein Indiz für ein prosperierendes Deutsches Reich?217


Das Auswanderungsbestreben der Deutschen ging während der Regierungszeit Wilhelms II. stark zurück (© Abb. 14)

Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts behauptete sich die englische Wirtschaft durch globale Führung und Meisterschaft. Großbritannien regierte das Meer und war Marktplatz wie Messe aller Länder: der Rialto der Welt. Doch langsam entwickelte sich ein relativer Rückgang im Vergleich zum beispiellosen Aufschwung der Vereinigten Staaten und Deutschlands.

Zur industriellen Avantgarde gehörte die deutsche Chemieindustrie. Sie hatte im Wettrennen um die Weltmärkte erstaunliche Erfolge erzielt. Die Badischen Anilin- und Sodafabriken Ludwigshafen (BASF) hatten um 1875 nur 885 Mitarbeiter, 25 Jahre später waren es 6700 und 1914 schon 11 000. Weltgeltung und Profite waren ebenso rasch mitgewachsen.

Carl Duisberg, damals Direktor und Vorstandsmitglied der Bayer AG, organisierte zunächst Kartellabsprachen zwischen den sechs großen deutschen Chemiebetrieben, um dann 1904 seinen Plan »zur Sicherung der bedeutsamen Rolle der deutschen Farbenindustrie in der ganzen Welt«218 vorzulegen. Am 8. Oktober 1904 unterzeichneten die Vorstandsvorsitzenden von BASF, Bayer und Agfa im Berliner Kaiserhof die Denkschrift – die erste Interessengemeinschaft (I. G.) war geboren. Aus dieser Keimzelle sollte gut 20 Jahre später I. G. Farben entstehen – der größte Chemiekonzern der Welt. Schon zu Beginn des Ersten Weltkriegs schwebte Duisberg eine künftige Wirtschaftsunion mit Frankreich, den mitteleuropäischen Ländern und Dänemark unter Führung der deutschen Chemieindustrie vor. 1931 ging Duisberg sogar noch weiter und forderte eine Wirtschaftsunion von Bordeaux bis nach Sofia im Interesse der deutschen Chemie.

Dieser rasanten industriellen Entwicklung im Deutschen Reich musste Großbritannien etwas entgegensetzen. Zunächst appellierte man auf wirtschaftlichem Gebiet an das Nationalgefühl, das »National Feeling«. Mit dieser Art ideellen Schutzzolles begannen Staat und Gemeinden bei Ausschreibungen das billigere, ausländische Angebot zugunsten des teuren englischen zu verwerfen. Parallel dazu, so Walther Rathenau, fördere Englands Industrie alle Bestrebungen, »politische Zwischenfälle mit Deutschland hervorzuheben und in so und so vielen Pounds, Shillings und Pence wirtschaftlichen Nationalgefühles umzusetzen«219. Er prognostizierte, dass der ideelle Schutz den Industriellen auf Dauer nicht genügen würde, und befürchtete einen Bruch der großen englischen Tradition des Freihandels sowie eine Rückkehr Englands zum Rettungsring des Schutzzolles.

Vorerst bekämpfte auf der ganzen Welt das englische Kapital das deutsche. Zwischen beiden Ländern entflammte Mitte der 1890er-Jahre ein regelrechter Pressekrieg. Unter der Überschrift »Our True Foreign Policy« ließ die konservative britische Wochenzeitschrift Saturday Review am 24. August 1895 ihre Leser wissen, dass »unser Hauptrivale in Handel und Gewerbe heute nicht Frankreich, sondern Deutschland ist. Im Falle eines Krieges mit Deutschland würde es viel zu gewinnen und nichts zu verlieren geben, während bei einem Krieg mit Frankreich mit schwersten Verlusten zu rechnen wäre.« Weitere antideutsche Artikel gipfelten in der Cato nachempfundenen Forderung »Germania est delenda« – Deutschland ist zu zerstören.220 Das Blatt hatte durchaus Einfluss, zählten doch zu den Mitarbeitern namhafte Persönlichkeiten wie Premier Lord Salisbury, H. G. Wells und Oscar Wilde.221

So wundert es nicht, dass die deutsche Publizistik in England den vermeintlichen Feind ausmachte, der den eigenen Aufstieg nach Kräften behindere. Wie heute ging es um Rohstoffreserven und Wirtschaftsräume. Spielten für Großbritannien vor allem neue Investitionsmöglichkeiten eine Rolle, war es für Deutschland der Siedlungsraum für die schnell wachsende Bevölkerung. Auch zauberten ab dieser Zeit die Kolonialwarenläden Glanz in die Augen der Deutschen – ähnlich wie später die Intershopläden der DDR mit ihren tropischen Früchten.

Von Rudolf Bernauer (1880–1953), österreichisch-ungarischer Bühnenautor und Theaterleiter mit jüdischen Wurzeln (er musste 1935 nach England emigrieren), ist ein aufschlussreicher Stimmungsbericht aus den Jahren vor dem Krieg überliefert. 1905 erlebte er als Soldat, dass sich serbische Bauern zuweilen damit vergnügten, aus dem Hinterhalt auf österreichisch-ungarische Marschkolonnen zu schießen. Bernauer fragte sich damals, wer hinter den Aufrührern stand. Das kleine Serbien? Das hätte es seiner Meinung nach nie gewagt, die Slawen Ungarns offen gegen die Regierung aufzuwiegeln.

Als Bernauer in Berlin auf eine mögliche Kriegsgefahr hinwies, wurde er ausgelacht und belehrt, dass der nächste Krieg zwischen den natürlichen Konkurrenten England und Russland geführt werde, deren Interessen bereits in Asien aufeinander stießen.222 Nach der erfolgreichen Premiere der Operette »Princess Caprice«223 am 11. Mai 1912 im Londoner Shaftesbury Theatre hatte Direktor Courtneidge zu Ehren der beiden Textdichter Bernauer und Welisch sowie des Dirigenten ein Bankett veranstaltet. Nach dem Dessert habe Courtneidge seine Ansprache nach Bernauers Darstellung wie folgt geschlossen: »Die Kunst kenne keine Landesgrenzen, keine Politik und keine internationalen Konflikte. Nach Beendigung des Krieges mit Deutschland werde er als erster wieder nach Berlin kommen, um uns, seine Freunde, zu besuchen und die alten Beziehungen wiederaufzunehmen!«224 Er hat Wort gehalten.

Nachdem sich Bernauer von dem Schock erholt hatte, bat er Courtneidge um eine Erklärung, die ihm bereitwillig gegeben wurde. An den schwierigen Verhältnissen in England sei nur das allzu geschäftige Deutschland schuld. Heute sei es unmöglich, dass die nachgeborenen Söhne in den Kolonien eine Existenz aufbauen und ein eigenes Vermögen schaffen könnten. »Wohin in der Welt man auch blickte, überall seien die besten Stellen von den Deutschen besetzt. Das sei auf Dauer unerträglich.«225 Die Heimreise führte Bernauer und seine Begleiter über Paris, wo sie Entspannung in der neuen und berühmten Revue der »Folies Bergères« finden wollten. Doch diese Revue gab Bernauer den Rest. Als Glanzpunkt des Abends stürmten von Jockeys gerittene Pferde in rasendem Lauf auf einem rollenden Band dahin, ohne sich in Wirklichkeit mehr als einige Meter von der Stelle zu rühren. Die Jockeys, verkleidet als französische Chevaulegers mit Kürass und flatterndem Helmbusch ritten mit gezogenem Säbel eine Kavallerieattacke. Das Ziel war eine brennende Stadt, über der das Wort »Strasbourg« in Flammenschrift leuchtete. »Das Publikum tobte. Es war ein unverblümter, mit Jubel begrüßter Revancheschrei gegen Deutschland, ein Aufruf zur Wiedereroberung von Elsaß-Lothringen!«226

Ende Mai 1914 verschaffte Bernauer ein Spaziergang in den schattigen Wäldern Potsdams einen aufschlussreichen Einblick in den damaligen Gemütszustand des letzten Hohenzollernherrschers. An einer Lichtung passierte er ein leeres Automobil des kaiserlichen Hofstaats, an dessen Steuer ein livrierter Chauffeur saß und Zeitung las. Hundert Meter weiter verweilte ein Offizier mit dem Rücken zu ihm einsam und gedankenverloren auf einem Baumstumpf. Doch es war kein gewöhnlicher Offizier: »Es war der Kaiser. Er hatte den Ellbogen seines gesunden Arms auf ein Knie und den Kopf in die Hand gestützt. Nie habe ich bei einem Menschen eine traurigere Haltung, einen vergrämteren Gesichtsaudruck beobachtet … Er starrte vor sich hin, als sähe er das Unheil voraus, aus dem es kein Entrinnen gab, nicht für ihn, nicht für uns … Was sahen seine angstgeweiteten Augen? Sahen sie die endlosen Ströme Bluts, die für nichts und wieder nichts vergossen werden würden?«227

Zwei Monate später stand Europa am Abgrund. Wider Erwarten hatte England Deutschland den Krieg erklärt. Bernauer war erschüttert über die Ahnungslosigkeit der deutschen Politiker. Warum hatte der deutsche Botschafter in London, Fürst Lichnowsky, nichts von der wahren Stimmung in England geschildert?

Und das war es nicht allein: Der offizielle Historiker der Royal Navy, Sir Julian Corbett, berichtet, der Erste Weltkrieg sei von Lord Hankey aus dem »Committee of Imperial Defence« (CID) und seinen Mitarbeitern innerhalb der britischen Regierung mit »einer geordneten Vollständigkeit im Detail, die keine Parallele in unserer Geschichte hat«228, geplant worden. In der Marineabteilung des CID gab es bereits seit 1908 Vorbereitungen zu einer umfassenden (völkerrechtswidrigen!) Seeblockade gegen Deutschland, die nachhaltig die Wirtschaft des Landes treffen sollte. Zwei Mitglieder haben zu diesem Punkt eindeutig Zeugnis abgelegt: Maurice Hankey selbst in »The Supreme Command« und A. C. Bell in »A History of the Blockade of Germany«. Dass Deutschland von den Ozeanen und der übrigen Welt abgeschnitten werden sollte, erfreute sicher auch den 1st Sealord Churchill, denn es war unübersehbar, dass Deutschland eine ungeheure Wirtschaftskraft entwickelte und im Begriff stand, führende Handelsnation zu werden. Am 31. Januar 1906 äußerte Außenminister Sir Edward Grey gegenüber dem britischen Botschafter in Paris: »Vor allen Dingen sind, seitdem der (französische, Anm. d. Verf.) Botschafter mit mir gesprochen hat, beträchtliche Fortschritte gemacht worden. Unsere militärischen und Marinefachleute haben mit den französischen in Verbindung gestanden, und ich nahm an, daß alle Vorbereitungen getroffen waren, so daß im Falle einer Krise mangels eines förmlichen Abkommens keine Zeit verloren gegangen wäre.«229 Allerdings verstand es Grey, bis zum 3. August 1914 die gemeinsamen Kriegsvorbereitungen vor dem Premier sowie dem Kabinett zu verbergen. Ebenso wenig wussten natürlich der deutsche Botschafter Lichnowsky und sein Militärattaché von den über Jahre hinweg laufenden heimlichen Blockadeplänen gegen das Deutsche Reich. Bis heute tauchen die Autoren Hankey, Bell und Corbett in kaum einer Veröffentlichung über den Ersten Weltkrieg auf, ihre Berichte blieben unbeachtet.

Wiederkehr der Hasardeure

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