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Bosnische Annexionskrise 1908
ОглавлениеDie politische Instabilität des Osmanischen Reiches brachte die Außenminister Russlands und Österreichs auf die Idee, einen Tauschhandel zu vereinbaren: Österreich sollte endgültig die ehemals türkischen Provinzen Bosnien und Herzegowina erhalten, Russland im Gegenzug die freie Durchfahrt durch den Bosporus und die Dardanellen gewinnen. Anlässlich seines 60. Regierungsjubiläums im Oktober 1908 verleibte Franz Joseph I. auf Drängen Aehrenthals die beiden seit dreißig Jahren verwalteten und entwickelten Provinzen seinem Reich ein.88 Diese Annexion schaukelte sich zur »Bosnischen Krise« hoch.
Die deutsche Regierung, vor allem Kaiser Wilhelm II., war über die österreichisch-russische Absprache sowie den folgenden Schachzug verärgert. Seine Randbemerkungen lassen hier an Klarheit nichts zu wünschen übrig: So bedauert er es, durch die »furchtbare Dummheit« Aehrenthals in das Dilemma gebracht worden zu sein, seinen »Freunden«, den Türken, nicht beistehen zu dürfen, da »mein Verbündeter«, also Österreich, sie beleidigt hat, und stattdessen England die Türken beschützen sehen zu müssen, »noch dazu mit Ausführungen völkerrechtlicher Natur, die formell unanfechtbar und mir aus der Seele gesprochen sind. Auf diese Weise geht meine 20jährige, mühsam aufgebaute türkische Politik in die Binsen! Ein großer Triumph Eduards VII. über uns!« Wilhelm fürchtete weiterhin, türkische Reaktionäre könnten den Verlust nun deutschen Offizieren in die Schuhe schieben, »und Engländer und Franzosen treten an ihre Stelle.«89
In russischen Regierungs- und Botschafterkreisen war man mit Außenminister Alexander P. Iswolskis Absprache keineswegs einverstanden.90 Ihm wurde zum Vorwurf gemacht, die bosnische Frage mit der Dardanellenfrage zu verquicken und sich so auf einen Kuhhandel mit Aehrenthal eingelassen zu haben.
Kroatische Nationalisten forderten indes, Bosnien einem teilautonomen Königreich Kroatien zuzuschlagen, das – ganz im Sinne Franz Ferdinands – einen dritten Teilstaat der Donaumonarchie bilden sollte. Für nationalistisch denkende und fühlende Serben aber war die Verfügung Franz Josephs I. eine Kriegserklärung. »Ich habe Mich bestimmt gefunden, die Rechte Meiner Souveränität auf Bosnien und die Herzegowina zu erstrecken und die für Mein Haus geltende Erbfolgeordnung auch für diese Länder in Wirksamkeit zu setzen, sowie ihnen gleichzeitig verfassungsmäßige Einrichtungen zu gewähren.«91 Belgrad protestierte aufs Heftigste gegen die Annexion, sah es doch den Traum eines großserbischen Reiches gefährdet. Noch am gleichen Tag mobilisierte Regierungschef Pašić die serbische Armee und rief Außenminister Milovan Milovanovic sowie eine Anzahl von Persönlichkeiten, darunter Ljuba Jovanović, den Bürgermeister von Belgrad, und Ljuba Stojanovic, den Führer der Jungradikalen, zu sich zur Beratung.
Schon am nächsten Tag traf man sich im Belgrader Rathaus, um die »Narodna Odbrana«, zu Deutsch die »Nationale Verteidigung« zu gründen. Dabei waren neben Jovanović u. a. General Božidar Janković, der spätere Leiter des Zentralkomitees, die ehemaligen Minister Ljuba Davidovic und Velislav Vulovic sowie auch der Direktor der Staatsdruckerei, Živojin Dačić, und die damaligen Hauptleute Vojislav Tankosić und Milan Pribićević. Ziel der semioffiziellen nationalistischen Organisation war vor allem die Bereitstellung von kampfkräftigen Freischärlereinheiten für den bevorstehenden Krieg gegen die österreichisch-ungarische Monarchie. Dies verfolgte sie öffentlich mittels Propaganda sowie auch im Geheimen durch Gründung paramilitärischer bewaffneter Gruppen. Subversiv sollten Freiwillige über die Grenzen hinaus angeworben und ausbildet werden. Ein willkommenes Potenzial sah man zudem in der revolutionären Vereinigung von Schülern und Studenten, »Mlada Bosna« (»Junges Bosnien«), die ebenso wie die Narodna Odbrana die Befreiung Bosniens und den Zusammenschluss der südslawischen Provinzen Österreich-Ungarns mit Serbien und Montenegro postulierten. Neben Tomáš Garrigue Masaryk hatten hier russische Revolutionäre großen Einfluss, z. B. Pjotr Alexejewitsch Kropotkin oder auch Michail Alexandrowitsch Bakunin, den ja auch Pašić bewunderte.
Für die serbischen Miliz-Einheiten wurden auch bosnische Handwerker und Arbeiter angeworben. So befand sich Anfang 1909 der bosnische Bäckergeselle Trifko Krstanović mit etwa 140 anderen »Komitatschis« (später, vor allem im Zweiten Weltkrieg, Tschetniks genannt) in einem von den Hauptleuten Vojislav Tankosić und Dušan Putnik geleiteten Ausbildungslager in Čuprija (Bezirk Jagodina). In einem ausschließlich von serbischen Offizieren durchgeführten Training wurden die Freischärler in allen Sparten des subversiven Kampfes unterrichtet, Schwerpunkt: Sprengen von Eisenbahnen, Tunnels und Brücken sowie Zerstören von Telegrafenleitungen, also Aufgaben, die in einem Guerillakrieg gegen Österreich zu erwarten und in Bosnien und der Herzegowina auf Befehl in die Tat umzusetzen waren. In regelmäßigen Zeitabschnitten inspizierten General Božidar Janković und Hauptmann Milan Pribićević den Ausbildungsstand.92
Die allgemeine Entrüstung über Österreichs Vorgehen führte die unterschiedlichen politischen Richtungen zusammen. Darüber hinaus infiltrierte die Narodna Odbrana vaterländische Vereine, z.B. die Turnbewegung Sokol, Schützengilden und Reitervereine. Es wurde Geld gesammelt, mittels intensiver Propaganda glühender Nationalismus entfacht und der Hass des Volkes auf Österreich-Ungarn geschürt.
Proteste gegen die Annexion kamen zwangsläufig auch aus der Türkei, die ihren verlorenen Provinzen nachtrauerte, sowie aus Russland, wo panslawistische Strömungen sehr verbreitet waren. Da die Briten den Russen die freie Durchfahrt durch die Dardanellen verwehrten, fühlten sie sich zudem von den Österreichern hintergangen.93 Krieg war nicht mehr auszuschließen, wenngleich Russland durch den verlorenen Krieg gegen Japan noch immer stark geschwächt war. Es musste nun Zeit gewinnen und die Serben bremsen. So gab am 5. Oktober 1908 der russische Außenminister Iswolski gegenüber dem serbischen Gesandten in Paris, Vesnic, zu bedenken: »Ihr Serben konntet doch nicht daran denken, Österreich-Ungarn aus Bosnien und der Herzegowina mit Waffengewalt zu verdrängen. Und wir Russen können wieder nicht mit Österreich wegen jener Provinzen Krieg führen. Es versteht sich ja von selbst, daß ich doch nicht zugeben kann, daß wir jetzt nicht imstande sind, Krieg zu führen, und doch ist dies der Hauptgrund, warum wir es nicht tun.«94
In der Zuspitzung der Situation sah die Wiener Kriegsfraktion um Aehrenthal ihre Chance für eine Abrechnung mit Serbien.95 Doch selbst in Österreich machte sich Unmut über die Einverleibung breit – bedrohte sie doch die fragile innerstaatliche Machtbalance. Da Bosnien und die Herzegowina zuvor völkerrechtlich noch zur Türkei gehörten, wäre man gut beraten gewesen, die Provinzen an die Türkei zurückzugeben. Da hätte es zwar auch Proteste aus Russland und Serbien gehagelt, doch hätten sich Propaganda- und Untergrundarbeit gegen die Türkei richten müssen. Der österreichische Außenminister Aehrenthal war einem großen Irrtum erlegen, als er glaubte, »daß durch den eigenmächtigen Akt der Annexion der serbischen Agitationstätigkeit in Bosnien und der Herzegowina der Boden für immer entzogen sei«96.
Karikatur aus dem französischen Le Petit Journal über die Krise 1908: Sultan Abdülhamid II. schaut hilflos zu, wie Kaiser Franz Joseph ihm Bosnien und Herzegowina entreißt, während der bulgarische Zar Ferdinand die Unabhängigkeit seines Landes erklärt (© Abb. 7)
Österreich entschärfte die Krise durch den vollständigen Verzicht auf alle Rechte im Sandschak Novi Pazar – einem Landkeil zwischen Montenegro und Serbien – und durch Zahlung von 2, 5 Millionen osmanischen Pfund an die Türkei. Serbien konnte zwar nicht in seiner Forderung nach kompensatorischem Landgewinn zufriedengestellt werden, dafür aber wirtschaftlich.97
Am 25. Januar 1909 resümierte Kaiser Wilhelm II.: »Man muß die ganze russische Balkanpolitik vom Standpunkt der sehr schwer verletzten, bodenlosen Eitelkeit und Leichtsinnigkeit Iswolskis betrachten. Er hat sich coram publico blamiert und will sich jetzt partout an Aehrenthal rächen. Die aus verletzter Eitelkeit entstehende Rachsucht ist die allergefährlichste; zumal wenn, wie hier, politische Seichtheit, Leichtsinn und unbegrenzte Lügerei mit ins Spiel treten; die machen sich kein Gewissen daraus, um diese Rache zu befriedigen, einen Weltenbrand zu inszenieren. Ich würde an und für sich die Angelegenheit nicht tragisch nehmen, wenn nicht der arme, schwache, von Iswolski gänzlich über den Löffel balbierte Zar da wäre. Der ist schon trotz aller Bitten und Warnungen in den Japanischen Krieg völlig ahnungslos hineingetrieben, hier sehe ich die aufsprießenden Keime für eine ähnliche Torheit im Balkan. Der Konflikt zweier Staatsmänner aus Neid und Eifersucht hat schon mal zwei Länder in große Gefahr gebracht: Bismarck contra Gortschakoff! Resultat davon: Russo-gallisches Bündnis!«98
Durch die Demütigung Russlands auf dem Berliner Kongress hatte sich der »ehrliche Makler« Bismarck im Kreml unversöhnliche Feinde gemacht. Das verbündete Frankreich sah den Bündnisfall als nicht gegeben an. Die diplomatische Demütigung Russlands wirkte in den nächsten Jahren fort und begünstigte den Ausbruch des Ersten Weltkrieges.