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Streit unter den Balkanstaaten – Zweiter Balkankrieg
ОглавлениеIn einem Geheimtelegramm vom 2. Januar 1913 informierte Alexander P. Iswolski, russischer Botschafter in Paris, seinen Londoner Kollegen Benckendorff über ein Gespräch mit dem französischen Ministerpräsidenten Raymond Poincaré (1860–1934), der zugleich Außenminister war, über die serbische Forderung an Russland, Frankreich und England, Druck auf Bulgarien auszuüben. Nach Ansicht Poincarés »könnten im Hinblick auf die ganz bestimmte Erklärung Rumäniens, daß es im Kriegsfalle auf Seiten Österreichs stehen werde, die Mächte des Dreiverbandes den erbetenen Dienst nur unter der Bedingung leisten, daß Rumänien seinerseits ihnen positive Garantien gebe, … neutral zu bleiben«.154 Bei einer Zusage seien die drei Mächte bereit, »die Initiative zu Schritten zu ergreifen, um von der Pforte die Abtretung Adrianopels zu erwirken.«155 Für diesen der Großmächte unwürdigen Kuhhandel hatte Poincaré – von seinem Botschafter Bompard aus Konstantinopel informiert – schon klare Vorstellungen: Ein internationales Geschwader solle im Bosporus Flagge zeigen. Die »Pforte« hätte dann genügend Gründe, um das Nachgeben zu rechtfertigen.
Am 8. Januar instruierte der russische Außenminister Sergej Sasonow seinen Botschafter in London, Alexander K. Benckendorff, über ein weiteres Gespräch von Iswolski mit Poincaré: Nach französischer Auffassung sollte »Serbien von der Notwendigkeit, das adriatische Ufer zu räumen, erst nach Beendigung der Arbeiten der Konferenz und nach Entscheidung aller übrigen Fragen unterrichtet werden«.156 Poincaré fürchtete, dass sonst die Erbitterung Serbiens über die Mächte des Dreiverbandes noch zunehmen werde.
Das Gespräch Iswolskis mit Poincaré muss einige Tage zurückgelegen haben, denn am 8. Januar erklärte die königliche serbische Gesandtschaft in einer Note an Sir Edward Grey offiziell, Serbien werde seine Truppen von der Adriaküste zurückziehen, was ein großes Opfer für das Land bedeute. Ausdrücklich heißt es in der Erklärung, dass Serbien nur im Interesse des europäischen Friedens zu diesem Schritt bereit sei. Weitere Opfer von Serbien zu verlangen, würde es in eine verzweifelte Situation bringen, »deren Konsequenzen nicht vorhersehbar«157 wären.
Am 18. Januar ermächtigte K.-u.-k.-Außenminister Leopold Graf Berchtold (1863–1942), welcher vorsichtig die Gründung eines autonomen albanischen Staates befürwortet hatte, seinen Botschafter in London, Albert von Mensdorff, dem serbischen Geschäftsträger mitzuteilen, »daß nach übereinstimmender Willensäußerung der Mächte Serbien nicht allein die albanische Küste, sondern auch das albanische Gebiet, sobald die Grenzen Albaniens von den Mächten bestimmt und der serbischen Regierung notifiziert sein werden, zu räumen haben werde«.158 Österreich als selbstloser Anwalt albanischer Interessen?
»Mein teurer Freund«, wandte sich Kaiser Franz Joseph am 1. Februar 1913 an Zar Nikolaus II. In dem Brief beschrieb er seinen Kummer, dass die vom Wunsch erfüllte österreichische Regierungspolitik, »den Wirren, die sich auf dem Balkan abgespielt haben, keine neuen Schrecknisse hinzuzufügen – daß diese Politik in Rußland ironisch aufgenommen worden ist.«159 Dabei hätten sie sich gemeinsam jeder Einmischung in den Konflikt enthalten. Gemeinsam hätten sie sich bei den Beratungen nur von dem Gefühl der Versöhnung leiten lassen und alles zu vermeiden, »was die leiseste Ursache zu einer Uneinigkeit zwischen unseren Reichen erzeugen könnte«. Abschließend verwies der Kaiser auf die schwere Verantwortung, die auf beiden laste, und seine Sorge um die Erhaltung der freundschaftlichen Beziehungen zu Russland, derentwegen er eine versöhnliche Haltung bewahrt habe: »So will ich hoffen, daß Du das Maß meiner Anstrengungen würdigen und die großen Vorteile eines europäischen Friedens in guter Harmonie zwischen unseren Völkern ausnützen wirst. Ich bitte Dich, zu glauben an die Gefühle wahrer Freundschaft Deines Bruders und Freundes Franz Joseph.«160
Trotz dieses versöhnlichen Briefes kamen in London die Verhandlungen über die Grenzen Albaniens infolge von Meinungsverschiedenheiten beider Länder ins Stocken. England schlug zur Untersuchung der Grenzfrage eine internationale Kommission vor. Umgehend instruierte der russische Außenminister Sasonow seinen Botschafter in London: »Als unstrittiges Gebiet Albaniens hätte dasjenige zu gelten, das mit dem serbischen Entwurf einer Abgrenzung übereinstimmt … Alles andere Gebiet gilt als strittig und ist zu untersuchen.« Außerdem solle die Kommission verpflichtet werden, »die wirtschaftlichen Bedürfnisse der Sieger zu befriedigen«. Abschließend wurde Benckendorff aufgefordert, Pašić vertraulich nach seiner Ansicht über die Richtung, die Russland der Grenzfrage geben soll, zu fragen, wobei jedoch dem aufgeführten Plan nicht der Charakter eines offiziellen Vorschlags gegeben werden darf.161
Am 12. Februar erschien der serbische Geschäftsträger in Berlin beim deutschen Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, Gottlieb von Jagow (1863–1935), mit der Bitte um Unterstützung des deutschen Kaiserreiches für das Bestreben der serbischen Regierung, die Städte Diakowa und Dibra zum serbischen Staatsgebiet zu machen. Jagow verwies auf den größtenteils albanischen Bevölkerungsanteil dieser Städte und warnte davor, Albanien zu sehr zu beschneiden, da es sonst nicht lebensfähig sei. Deutschland selbst habe keine Interessen in Albanien, würde aber in dieser Frage den Wunsch der Verbündeten unterstützen.162
Um die gleiche Zeit versuchte auch der serbische Gesandte in Paris, Milenko Vesnic, am Quai d’Orsay sein Glück und verlas dort eine Erklärung seiner Regierung. Danach sei die serbische Regierung stark unter dem Druck der öffentlichen Meinung, welche diese Gebietsansprüche mit Nachdruck verfolge. Man könne nur dem Druck nachgeben oder einer neuen Regierung Platz machen.163 Der französische Botschafter Paul Cambon durchschaute die kriegerische Bedeutung, nannte sie »un acte de folie«164 und meinte zu Vesnic: »Was Sie mir sagen, ist verrückt.«165
In ähnlicher Weise äußerte sich der serbische Ministerpräsident Pašić gegenüber dem englischen Geschäftsträger in Belgrad. Daraufhin mahnte Sir Edvard Grey die serbische Regierung nachdrücklich zur Ruhe. Am 13. Februar unterrichtete Benckendorff Außenminister Sasonow darüber, dass Serbien es nicht dulde, wenn der Erfolg ihrer Siege auf ein Minimum reduziert würde. Ansonsten würde die Militärpartei ans Ruder kommen und Serbien zum Krieg schreiten. In einem Gespräch mit Benckendorff habe der britische Außenminister Grey es für ganz ausgeschlossen gehalten, »daß alle Mächte wegen dieser Punkte Krieg führen sollten, daß England für seinen Teil dies nicht zugeben würde, und daß übrigens, wenn Serbien sein Schicksal selbst in die Hand nähme, es auf eigene Rechnung und Gefahr handeln und durch eine abenteuerliche Politik die Sympathien zerstören würde, die die Mächte für die serbische Sache hegten«.166 Doch es wurde weiter insistiert.
In einem Geheimtelegramm teilte der russische Botschafter in London Sasonow mit, dass der deutsche Kanzler Bethmann Hollweg dem Bruder Paul Cambons, Jules, in privater Weise gesagt habe, »die Vermehrung der deutschen Armee habe keine aggressive Tendenz, sei aber dadurch notwendig geworden, daß das plötzliche Entstehen von sehr bedeutenden Militärstaaten auf dem Balkan dazu geführt habe, daß Österreich, vom Bündnisstandpunkte aus, nicht mehr als derselbe wichtige Faktor wie bisher betrachtet werden könnte.«167
Am 18. Februar 1913 übergab der serbische Gesandte in Paris dem Direktor der politischen Abteilung am Quai d’Orsay, Maurice Paléologue, eine Denkschrift. Darin wurde erklärt, »daß Serbien nicht auf die Täler von Dibra und Bielago Drina mit den Städten Ipek und Diakowa verzichten könne, und daß es, wie auch die Entscheidung der Mächte ausfallen möge, aus diesen Gebietsteilen nur vor der Waffengewalt weichen würde«168.
Am gleichen Tag telegrafierte der deutsche Gesandte in Sofia, Claus von Below-Saleske, an das Auswärtige Amt, dass sich in Serbien Unmut über Bulgarien Luft mache. Es wolle die Herrschaft auf dem Balkan anstreben. So habe Serbien bereits bindende Verabredungen mit Griechenland getroffen, und es denke auch nach dem Friedensschluss an ein Schutz- und Trutzbündnis mit der Türkei. Auch würde Serbien demnächst näheren Anschluss an Rumänien suchen. »Das Ganze sieht wie eine beabsichtigte Einkreisung Bulgariens aus«169, so die abschließende Beurteilung des deutschen Gesandten.
Am 4. März 1913 teilte der serbische Geschäftsträger in Berlin, Miloš Bogičević, Außenminister Gottlieb von Jagow mit, dass Serbien bei der Abgrenzung Albaniens weder auf Ipek und das Drinatal noch auf Dibra, noch auf Diakowa verzichten könne. Sollten die Mächte anders entscheiden, würde sich Serbien nicht an die Beschlüsse halten. Jagow bat Bogičević, seiner Regierung zu erwidern, »daß obige Mitteilung für mich in keiner Weise maßgebend sein könne«, da er nicht wisse, wie die Beschlüsse der Mächte ausfallen würden. Serbien werde sie aber zu respektieren und widrigenfalls die Folgen zu tragen haben. Weiter gab Jagow deutlich zu verstehen, »daß eine derartige Intimation eines Kleinstaates wie Serbien den Mächten gegenüber durchaus unangemessen sei.«170
Verstimmt informierte der ansonsten konziliante Jagow seinen Botschafter in London, Karl Max Fürst von Lichnowsky (1860–1928), über das serbische Vorgehen, um dann auf ein Communiqué des montenegrinischen Königs Nikolaus vom 4. März zu verweisen. Dieser hatte den Kriegskorrespondenten erklärt, sein Entschluss, die Stadt Skutari zu nehmen, würde durch Beschlüsse der Mächte nicht geändert. Die Geduld Montenegros sei erschöpft.171 Lichnowsky solle dies auf der Londoner Konferenz verwenden und betonen, »daß Großmächte ihrer Würde schuldig seien, derartige Provokationen energisch entgegenzutreten«172. Jagow zufolge spekulierten Montenegro und Serbien offenbar immer noch auf den Schutz mächtiger Freunde. Seiner Ansicht nach müsse dieser Irrtum endgültig zerstört werden173. Lichnowsky instruierte Jagow dahingehend weiter, dass es vielleicht zweckmäßig sei, auf der Konferenz die Lage von Valona und die griechische Blockade der albanischen Küste bis nach Durazzo sowie »außer serbischen Greueltaten auch die von Presse gemeldeten montenegrinischen Grausamkeiten gegen türkische Gefangene zur Sprache zu bringen«174.
In dieser aufgeheizten Atmosphäre gab Lichnowsky am 4. März ein großes Diner in der Deutschen Botschaft in London. Gäste waren neben der britischen Königin u. a. Henry van de Velde, Edvard Munch, Aristide Maillol und Harry Kessler. Der Letztgenannte, ein deutscher Snob im weißen, dreiteiligen Anzug, hielt Kernaussagen der Gespräche in seinem Tagebuch fest. Der Tenor der Gespräche sei gewesen, dass keine Kriegsgefahr bestehe: »Die europäische Lage habe sich seit anderthalb Jahren vollkommen gedreht. Die Russen und Franzosen seien gezwungen, friedlich zu sein, da sie auf die Unterstützung Englands nicht mehr rechnen können.«175
Mittlerweile nahmen die Spannungen zwischen Serbien und Bulgarien zu. In der Geheimanlage zu dem Bulgarisch-Serbischen Vertrag vom 13. März 1912 über die Verteilung der türkischen Beute war vereinbart worden, dass Serbien Bulgarien die Bezirke von Monastir, Köprülü, Ochrida und Istip überlassen würde, während Bulgarien Serbien Nordalbanien mit dem Hafen Durazzo zugewiesen hätte.176 Da die Serben nun ihren Preis infolge des Einspruchs der Mächte nicht erhalten würden, sollte auch Bulgarien den von Serbien versprochenen Teil nicht bekommen.
Doch noch hoffte Serbien, an der adriatischen Küste verbleiben zu können, und begann die dortigen Truppen zu verstärken. Dabei zählten sie auf den wachsenden Einfluss panslawistischer Freunde in St. Petersburg und deren französischen Freunden. Aus Wien berichtete der deutsche Botschafter Heinrich von Tschirsky, der französische Außenminister Jonnart dringe darauf, »daß Rußland entsprechend der seinerzeit Anfang der 90er Jahre abgeschlossenen Militärkonvention, seine Truppen an die deutsche und österreichische Grenze wieder vorschiebe«, während »an der französischen Ostgrenze mit Hochdruck militärisch gearbeitet werde. Herr Poincaré schüre nach Kräften das chauvinistische Feuer.«177 Diese Einschätzung Tschirskys vom 11. März 1913 wurde am 20. März durch die Berufung des Ultranationalen Théophile Delcassé – ehemaliger Marineminister und umstrittener Außenminister während der Marokkokrise – als französischer Botschafter für St. Petersburg nachhaltig bestätigt. In seinem Beglaubigungsschreiben an den Zaren verwies Ministerpräsident Poincaré darauf, Delcassé sei in der Balkankrise auch über die geringsten Einzelheiten informiert und könne mehr als irgendein anderer im Einvernehmen mit Außenminister Sasonow tätig sein. Dieser war schon vorab vom serbischen Militärattaché in Paris über Auftrag und Qualitäten Delcassés aufgeklärt worden: Er solle die russische Militärverwaltung von der Notwendigkeit überzeugen, dass die Anzahl der strategischen Wege zu vermehren sei, »um dadurch das Zusammenziehen unserer Armee (der serbischen und der russischen, Anm. d. Verf.) an der Westgrenze zu beschleunigen«178. Auch sei Delcassé bevollmächtigt, Russland hierzu alle erforderlichen Geldmittel in Form von entsprechenden Eisenbahnanleihen anzubieten. Damit lenkte Poincaré die Aufmerksamkeit des Zaren auf den Nutzen, »den nach Ansicht unserer Generalstäbe die Beschleunigung des Baues gewisser Eisenbahnen an der Westgrenze des Reiches bringen würde.«179
Aus Paris meldete am 9. April der serbische Gesandte in Paris Vesnic seinem Ministerpräsidenten Pašić vertrauliche Informationen einer mit ihm befreundeten Persönlichkeit, dass sie in der vorherigen Woche unmittelbar vor einem europäischen Krieges gestanden hätten, was vermieden worden sei, um den Balkanverbündeten »Gelegenheit zur Erholung, Sammlung und Vorbereitung für Eventualitäten, die in einer nicht fernen Zukunft eintreten könnten, zu gewähren«180.
Während in St. Petersburg und Paris der Ausbau von Rollbahnen in Richtung deutscher Ostgrenze angedacht wurde, schuf Montenegro am 23. April 1913 mit der Besetzung Skutaris gegen den offenkundigen Willen der Mächte Europas Tatsachen – und das trotz der vor der Küste versammelten internationalen Flotte. Das verärgerte nun auch Russland, das durch die gespannten serbisch-bulgarischen Beziehungen ohnehin beunruhigt war. Sasonow ließ den russischen Gesandten in Belgrad, Nikolaus von Hartwig, wissen, Bulgarien habe durch seine vergangenen Siege seine nationalen Ideale zur Gänze verwirklicht. Dagegen hätte Serbien erst das erste Stadium seines historischen Weges durchlaufen. »Zur Erreichung seines Zieles muß es noch einen furchtbaren Kampf aushalten, bei dem seine ganze Existenz in Frage gestellt werden kann. Serbiens verheißenes Land liegt im Gebiete des heutigen Österreich-Ungarn und nicht dort, wohin es jetzt treibt, und wo auf seinem Wege Bulgaren stehen.«181
Auf der nur wenige Tage später in London stattfindenden Friedenskonferenz wurde die Türkei gezwungen, auf alle Balkanbesitzungen westlich der Linie von Enos (Ägäisches Meer) bis Midia (Schwarzes Meer) zu verzichten. Strittig blieb jedoch die Verteilung an die Siegerstaaten. Während Griechenland und Bulgarien Ansprüche auf Makedonien geltend machten, forderten Serbien und Montenegro mit Unterstützung Russlands für sich die adriatischen Küstengebiete. Österreich und Italien traten jedoch erfolgreich für ein selbstständiges Albanien ein. Dadurch sollte Serbien von der Adria ferngehalten werden. Vergebens versuchte es mit Unterstützung Russlands wenigstens bei Skutari einen Adriazugang zu erhalten. Somit verfolgten die russische und die österreichische Balkanpolitik diametral entgegengesetzte Ziele.182
Mit Befremden beobachten die Bulgaren das Streben Serbiens nach weiterer Größe. Auch der Zar drückte in einem Telegramm vom 8. Juni 1913 an den König von Bulgarien seine Sorge aus, »dass die Balkanstaaten sich anscheinend auf einen Bruderkrieg vorbereiten, der geeignet ist, den Ruhm, den sie gemeinsam erworben haben, zu trüben«, und verwies auf den Bündnisvertrag, durch den das bulgarische und das serbische Volk die Entscheidung jeder Meinungsverschiedenheit Russland übertragen hätten.183 Doch selbst das Eingreifen des Zaren sollte den Krieg zwischen Serbien und Bulgarien nicht mehr verhindern können, der am 29. Juni 1913 ausbrach.