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Freiwillige Feuerwehr und Musik in Schüller

Es schien zunächst keine leichte Mission zu werden, als ich den Wunsch äußerte, Mitglied der freiwilligen Feuerschutztruppe zu werden. Im Gegensatz zur damaligen Zeit werden heutzutage händeringend junge Menschen zur Mitarbeit in den freiwilligen Wehren gesucht. Die Volksstimme.de aus dem Jahr 2016 berichtete bereits, dass in der kleinen Stadt Kroppenstedt (1.399 Einwohner 31.12.2018) eine behördliche Verpflichtung zum Feuerwehrdienst erfolgen soll. Ein weiteres aktuelles Beispiel ist in der Braunschweiger Zeitung vom Januar 2020 zu lesen. Die Insel Wangerooge kündigt ebenfalls eine Zwangsverpflichtung an, falls sich nicht genug Freiwillige melden. Die jungen Leute haben wahrscheinlich einerseits kein Interesse, zu unliebsamen Zeiten zur Brandbekämpfung oder zu schweren Unfällen gerufen zu werden, andererseits Sorge, ihren Arbeitsplatz bei häufigen Abwesenheiten zu gefährden. Selbst wenn ihr Chef die Abwesenheit tolerieren muss, könnte er dennoch möglicherweise im stillen Kämmerlein eine Negativliste erstellen.

Jedenfalls bedeutete es für mich eine Ehre, dabei sein zu dürfen. Es steckte in mir ein Wunsch nach Anerkennung, etwas Ruhm und in der vorderen Reihe stehen zu dürfen, dessen ich mir bewusst war. Mir war sehr wohl bekannt, dass keine Vorschrift zur Aufnahmeprüfung existierte. Vitamin B, also Fürsprecher, in den neuen jüngeren Zeiten als Netzwerk geäußert, war vonnöten. Meine Handicaps zähle ich im Nachhinein auf mit der fehlenden körperlichen Stabilität und dem Attribut Büromensch. Wenn ich mich recht entsinne, sprach mich mein Onkel Johann nach einigen Monaten des Wartens an: „Hör mal, Winfried, mir erzählte neulich jemand, dass du Mitglied unserer Wehr werden möchtest. Ist das so?“

„Auf jeden Fall, das ist mein Wunsch, ich will dabei sein“.

„Nun gut, ich habe mit dem Brandmeister gesprochen und noch andere Kameraden gefragt. Es gibt keine Beschränkung, du musst nur eine kleine Feuertaufe bestehen.“

„Was ist das denn? Muss ich etwas Gefährliches tun?“

„Nein, warte ab, das Notwendige wirst du dann früh genug erfahren.“

Er brach also für mich eine Lanze oder hatte seinen Hut in den Ring geworfen, wie man so sagt. Gefreut habe mich riesig und wartete mit erheblicher Spannung den Termin ab, an welchem ich das erste Mal erscheinen sollte. Es kam der erwähnte Antrittstag. Die passende Uniform hatte ich schon vorab zur ordentlichen Aufbewahrung erhalten. Im untersten Fach meines Kleiderschrankes lagen ausschließlich die Feuerwehrutensilien, um alles jederzeit griffbereit zu haben. Eile war geboten, da ein oder zwei Mal im Jahr eine nicht terminierte Übung stattfand. Wie lief diese ab? Sonntags um sechs Uhr heulte die in allen Häusern nicht zu überhörende Sirene. Im Affenzahn hüpfte ich aus dem Bett, zog rasant Hose und Hemd an, griff nach der links auf dem Bügel hängenden Jacke, rasch schnappte ich noch den Helm vom Schrankboden und spurtete im Laufschritt zum Fahrrad in der Garage. Es bestand mangels Autos um diese Zeit keine Gefahr, sodass ich flott das Gerätehaus – Spritzenhaus – erreichen konnte. Ohne überheblich sein zu wollen, darf ich meine eigene Beurteilung getrost mit pünktlich und immer anwesend beschreiben. Nach der einstündigen Übung war es üblich, mit aus der Kornflasche gefüllten kleinen Schnapsgläschen ohne Frühstück anzustoßen. Bereits damals zeigte mein Magen keine Schwäche. Die strapaziöse Aufregung eines zum Hausbrand gerufenen Feuerwehrmannes blieb mir – Gott sei Dank – während meiner aktiven Mitgliedschaft erspart, wenngleich mich die Bewältigung als Herausforderung gereizt hätte.

Die überaus große Überraschung erfuhr ich als Feuertaufe nicht beim ersten Übungstag, sondern zu einem von mir nicht erahnten Termin.

„He Winfried, komm mal her“, rief Johannes, eines der älteren Wehrmitglieder, begleitet von Christian, welcher nach meiner Kenntnis ein halbes Jahr zuvor Mitglied geworden war. „Du bist ja seit Beginn eingeteilt, um die C-Schläuche aufzurollen. Heute darfst du endlich mal den dicken A-Schlauch mit der Spritze halten.“

Mir wurde kommentarlos dieses kurze schwarze Stück in die Hand gedrückt. Die Art und Weise zeigte mir, dass eine Nachfrage zum Sinn und Zweck erfolglos sein würde. Die Kameraden hatten sich auf meine Kosten ein für sie vergnügliches Spiel ausgedacht. Die Richtung zum Spritzen war mir eindeutig angezeigt. Plötzlich drehte jemand den Hydranten auf zwölf Atü. Der Druck war so gewaltig, dass dieses Ungetüm in Windeseile aus meinen Händen entglitt. Wie eine Schlange schlängelte sich mein kurzer Feuerwehrschlauch auf dem Erdboden, abwechselnd nach links und nach rechts. Wasser spritze natürlich quer über den Platz. Die Bösewichte hatten sich selbst in entsprechende Position gebracht, um nicht nass zu werden. Geraume Zeit ließen sie mich wie einen Bären von einem Bein auf das andere tanzend hüpfen – fehl schlug mein Versuch, Herr der Lage zu werden. Nach einer mir nicht mehr bewussten Zeit und einem Gelächter aus vollem Hals war plötzlich Ruhe auf dem Boden, der Wasserdruck erheblich reduziert. Es gelang mir nun, das vermaledeite Stück aufzunehmen. Mein impulsives Aufatmen hörten die Anwesenden mit Genugtuung. So hatten viele ihre helle Freude während der morgendlichen Übung; die Feuertaufe war beendet.

Musikvereine im eigentlichen Sinne existierten nicht im Ort. Einige Mitglieder der Feuerwehr waren aktive Spielleute im Spielmannszug. Unter guter Leitung war ich nach einiger Zeit in der Lage, meine schwarze Querflöte zu blasen. Wir übten fleißig während fast jeder Probestunde, bei gutem Wetter auf der Straße, bei schlechtem im Gemeindehaus. Perfekte Beherrschung war angesagt. Welch jämmerliches Bild hätten wir ansonsten Betrachtern am Straßenrand während der Aufmärsche bei auswärtigen Feuerwehrfesten geboten? Noten hatte niemand der Musiker während des Umzuges. Wo hätten diese befestigt werden sollen? Querflötenspieler mit Notenständer kenne ich nur von den sitzenden Flötisten der Sächsischen Bläserphilharmonie in Bad Lausick. In Erinnerung an meine damaligen Übungen sehe ich mich zu Hause in der Küche mit einem auf dem Tisch abgelegten Übungsheft. Der Erfolg zeigte sich, als ich das kleine Lob des Meisters mit dem Tambourstab, dessen bunte Quasten je nach Schwung und Wind wedelten, bekam. Der interne Speicher in meinem Kopf entließ bedarfsgerecht alle Kompositionen. Besonders gut erinnere ich mich an den Torgauer und den Radetzky-Marsch. Zu Beerdigungen führten wir „Ich hatt’ einen Kameraden, einen bessern findst du nit“ auf.

Sobald ich meinen Feuerwehrdress irgendwo präsentieren konnte, schwoll meine Brust in besondere Breite; halt stolz wie Oskar. Ein Pfau hätte sein buntes Gefieder nicht breiter auffächern können. Während unserer Musikauftritte zeigte ich mich wem wohl besonders? Natürlich, sobald ich an den am Straßenrand uns bewundernden Schönheiten vorbeimarschierte, zeigte ich stolz meine Uniform wie ein König sein Gewand. Meine ehrenamtliche Mitwirkung endete etwa im Jahr 1970, da ich nach meinem Wechsel von Ennepetal in der erzbischöflichen Großstadt Köln mein Geld verdiente und infolge meiner unregelmäßigen Besuche nicht mehr mitwirken konnte. Mit Freude und Stolz hörte ich die Anfrage des Brandmeisters zur Anfertigung einer kleinen Chronik als geschichtlicher Überblick über die Wehrgeschichte der vergangenen achtzig Jahren seit Gründung (deren Eintrag datiert das Jahr 1894) bis zu den 1970er Jahren.

Die gesamte Bevölkerung zeigte reges Engagement in dem vielfältigen Vereinsleben. Aus heutiger Sicht ist das verständlich, da noch kein Handy und Internet den Tagesablauf bestimmen konnten. Wir suchten auf andere Art Möglichkeiten zum geselligen Beisammensein. Ich denke an den Junggesellenverein. Basis war nicht eine festgelegte Mitgliedschaft, sondern es bestand keinerlei rechtliche Bindung. Besonders kurzweilige Erlebnisse gibt es zu schildern. Nach Gusto planten wir auf einer in westlicher Richtung liegenden Wiesenparzelle einen Grillabend. Je nach Jahreszeit interessierte uns nicht, wer Eigentümer war und ob das Gras nach unserem Besuch wie von einer Bullenherde niedergetrampelt aussah. Eine anstrengende Schlepperei war vorher notwendig, den Grill, meistens drei je fünf Kilogramm schwere Schweinerollbraten und das erforderliche Bier zu transportieren. Niemand hatte ein Auto verfügbar. Der Rückweg mit dem Fahrzeug wäre nach dem Genuss der Menge flüssigen Brotes ohnehin äußerst risikoreich gewesen.

Eine kleine Kabbelei gab es schon hin und wieder, wenn sich niemand freiwillig positionieren wollte, um längere Zeit den Schwenkarm zu drehen, während die anderen gemütlich nutzlos herumsaßen. Manch einer vertrieb sich die Langeweile mit Grashalmen. Ich konnte damals auch mit breiten festen Gräsern eine Art Pfeifton hervorbringen. Den Halm presste ich zwischen zwei Daumen, blies möglichst horizontal darüber und ein heller Ton erklang in den Abendhimmel. Der Saft läuft mir noch heute im Mund zusammen, wenn ich die dicken knusprigen Fleischscheiben vor mir sehe. Wenn der Franz Dortmunder Bier als Spende mitgebracht hatte, reduzierte sich mein Durst automatisch. Dieses Gebräu stillte mir zwar den normalen Durst, aber selbst, wenn ich über einen Zeitraum von vier bis fünf Stunden nur zwei Flaschen trank, hämmerte ein böser Geist intensiv in meinem Kopf.

Es traf jedenfalls bei uns nicht die gängige Aussage zu, wenn der nächste Tag unwohl ins Land zog, zu sagen: „Das letzte Bier war schlecht.“ Im Gegenteil verlautbarten wir noch einen anderen „gutgemeinten“ Spruch: „Am nächsten Tag soll man wieder das trinken, womit der Abend endete.“ Dies nahm ich mir meistens nicht zu Herzen.

Die schönsten Abende und anschließenden Nächte ergaben sich regelmäßig, sobald die Mannschaft die Masse von fast fünfzehn Kilogramm Fleisch verspeist hatte, der Bauch prall gefüllt war und uns daher kein Durst mehr auf der Wiese halten konnte. Ja, was sollten wir denn jetzt fast um Mitternacht noch anstellen? Um nach Hause zu gehen, war es noch zu zeitig. Also sangen wir so laut, wie es unsere Verfassung ermöglichte, Lieder und spazierten möglichst durch alle Straßen und über alle Plätze. Abgemacht! So schmetterten wir viele alte Volksweisen, welche die heutige Jugend kaum kennen dürfte.

Mir fallen spontan ein: „Im Frühtau zu Berge, wir zieh‘n fallera …“; „Nun will der Lenz uns grüßen …“; „Hoch oben auf dem Berg, da steht ein Gerüst, da werden die Mädchen elektrisch geküsst“ (Ob das ein Volkslied war?); „Ein Jäger aus Kurpfalz, der reitet durch den grünen Wald …“.

So laut wie möglich ließen wir unsere Stimmen während der dunklen Nacht von der Hauptstraße bis zur kleinsten Nebengasse mit erhöhtem Schallpegel ertönen. Es gab Pappenheimer16, deren Ärgerpegel aus unserer Erfahrung heraus rasch auf die höchste Stufe einer Leiter gelangen konnte, beehrten wir mit ausgesprochener Freude und Inbrunst mit einem Extraständchen.

Jedem Wanderer ist das Hungergefühl nach langem Marsch eine gewisse Last. Trotz der mächtigen Fleischportionen von vor einigen Stunden und kräftigem Gesang erreichte uns ein gewisses Grummeln im Magenbereich. „Wat nu“, riefen wir fast wie im Chor. Die Wirtschaft hatte schon längst die Polizeistunde beachtet und mögliche verbliebenen Trunkenbolde nach Hause geschickt. Dort vielleicht noch die restlichen Soleier oder alten Frikadellen zu erwischen, war also unmöglich.

Einer meiner Freunde, Paul, meinte zu seinem etwa fünf Jahre älteren Bruder Klaus: „Was meinst du, ob Mutter heute schon die Eier aus den Nestern gerafft hat?“

„Ich glaube, sie war noch nicht dazu gekommen, als ich vorhin zu Hause war. Du kannst ja mal gucken“, war dessen Antwort.

Wir übrigen deuteten dies als die beste Nachricht zu dieser Nach-Mitternachtsstunde: Es würde noch etwas zu futtern geben. Eine derart zündende Idee hatten die Brüder mehrmals, wenn wir nach unseren nächtlichen Sangesrunden wieder im Zentrum an der Straßengabelung nach Jünkerath landeten. Vor dem Haupteingang ihres Zweiseitenhofs lag die kleine private Hühnerfarm, unmittelbar angrenzend an den großen Gemüsegarten, mit sehr vielen gefiederten Eierproduzenten. Schwuppdiwupp war Paul auf der Hühnerpritsche verschwunden. Unsere Augen glühten vor Erstaunen und Freude. Zehn oder fünfzehn frische Eier von den fleißigen Hühnern der Familie lagen nach erfolgter Diebestour in einem geflochtenen Korb. Aber nun rasch alle ins Haus. Die fast erloschene Glut der Briketts im Küchenherd kam mit einigen Scheiten trockenen Holzes rasch auf volle Flamme. Die Pfanne aus dem unteren Schrank hervorgekramt und die Prozedur konnte starten. Für uns Burschen bestand kein Zweifel daran, dass gebratene Eier mit Schinken auf gutem Brot um diese Zeit ein Festmahl waren. Also zauberte unser Bratmeister in der Bauernstube für jeden einen köstlichen Strammen Max. Bier floss nicht mehr – das war nun nicht im Hühnerstall zu finden. Hm, einfach lecker! Von den Bauerssöhnen hörten wir niemals von Klagen oder Schimpfkanonaden ihrer Eltern. Es waren damals großzügige Bauern und sie freuten sich vielleicht, dass ihre Söhne im Junggesellenkreis so beliebt waren.

Nach dem Wonnemonat Mai durften wir uns auf den Johannistag im Juni besonders freuen. Man soll es nicht für möglich halten: „Haribo macht Kinder froh und Erwachsene ebenso.“ Fast jährlich veranstaltete das Unternehmen etwas außerhalb des Dorfes ein Fest. Viele der Betriebsangehörigen kamen nach Schüller. Die Dörfler waren herzlich zum Feiern eingeladen. Es besaß dort, einen Kilometer entfernt an dem Verbindungsweg durch den großen Fichtenwald nach Steffeln, ein von einigen Bäumen und Sträuchern umrahmtes Grundstück. Was soll ich sagen? Für alles war gesorgt. Musik, genug zum Verspeisen und reichlich Bier und Wein. Bis weit nach Mitternacht wurde gefeiert und gelacht. Meine Essgewohnheiten zu solchen Anlässen oder als Zuschauer auf dem Sportplatz haben sich etwas gewandelt. Wenn damals Bratwurst das Normale war, nehme ich jetzt lieber eine Currywurst. Das tollste Ereignis stellte das große Feuerwerk dar. Im nächtlichen dunklen Himmel funkelten die mehrfarbigen Leuchtraketen aus der chemischen Trickkiste eindrucksvoll.

Hierzu fällt mir während meiner Messdienerzeit noch ein Besuch in Bonn17 und Koblenz ein. Nach der Besichtigung bei HARIBO erhielt jeder eine silberne, mit herrlichen Motiven strukturierte Blechkiste. Die Augen wurden groß und größer, je näher der Inhalt inspiziert wurde. Viele unterschiedliche bunte Lakritze und die bekannten schwarzen Lakritzrollen kamen zum Vorschein. Herrliche Süßigkeiten. Auch in dieser Hinsicht hat sich mein Geschmack geändert. Mein robuster Magen benötigt kein Lakritz als Therapie, Bitterschokolade schmeckt mir besser, ist zudem gesünder. Das weitere Programm beinhaltete in Koblenz die Besichtigung der Coca-Cola-Fabrik. Ich konnte mit dem Geschmack bei bestem Willen nichts anfangen. Meine geschenkten Flaschen gab ich an meinen Freund Felix weiter, der sich riesig freute.

An ein tolles Ereignis unserer harmlosen Streiche erinnere ich mich nur allzu gerne.

Je nach Laune und wenn uns nichts Besseres einfallen wollte, meinte Hans-Josef: „Wollen wir nicht mal wieder Kläpperchen machen?“

Eine Erläuterung des Ausdrucks erscheint mir für die heutige Jugend wichtig: Also, ganz einfach. Man nehme eine sehr lange Kordel, daran wird ein Nagel befestigt, sodass noch eine gewisse Länge verfügbar ist, um von einer Quersprosse eines Fensters nach unten an das Glas anschlagen zu können. Aufgepasst: Die Kordel wird nicht zu fest am Holz mit Reißbrettstift befestigt. Auf leisen Schustersohlen das Weite suchen und dann aus gehöriger Entfernung an der mindestens zwanzig Meter langen Kordel ziehen. Das machte aber nur derjenige, welcher am schnellsten laufen konnte. Sobald es gehörig am Glas klappert, die Beine in die Hand nehmen und laufen, laufen. Jedes Mal kam ein Mann wie auf Befehl zornig brüllend aus der Haustüre und rannte hinter uns her. Genau das war es doch, was wir erhofften. Ansonsten hätte es keine Freude bereitet. Mir ist sehr gut in Erinnerung, kein schneller Läufer gewesen zu sein. Zweckgemäß befand ich mich daher bei jeder Aktion bereits weit genug entfernt. Die Schnelligkeit des Mannes war uns bewusst. Letztendlich gab er auf und wir hofften auf ein neues Laufabenteuer mit ihm bei nächster Gelegenheit.

Eine besondere Gaudi des Dorflebens darf nicht im Keller der Versenkung, des Vergessens verschwinden. Schleifen war angesagt. „Was ist hierunter zu verstehen?“, fragt sich der Leser.

Früher war bei uns die heutige Form des Junggesellenabschieds unbekannt. Abschied feierten wir Jungs auf andere Art. Vor dem Haus des künftigen Ehemannes versammelten wir uns absprachegemäß. Ein Wagenrad mit Eisenbeschlag war zwingend nötig, weiterhin eine Sense ohne Stiel. Das Rad wurde so aufgebockt, dass es frei drehbar war. Mindestes drei Burschen wurden zur Bewältigung des Akts benötigt. Am Rad musste fleißig gedreht werden, während einer die Sense auf das Eisen hielt. Das ohrenbetäubende Kreischen des beinahe glühenden Sensenblattes zu ruhiger Abendstunde mag sich manch einer nun vorstellen. Je nach Örtlichkeit konnten die Anwohner das quietschvergnügte Spektakel aus der Nähe oder Ferne miterleben. Die Volksbelustigung erfolgte keineswegs ehrenamtlich oder rein zu unserer Freude. Der aus dem freien Leben sich Verabschiedende hatte seinen Tribut zu zollen. Wir sangen: „Geld her oder die lärmende Nacht gehört uns.“ Das war unsere Forderung. Zugeben muss ich heute, dass wir unseren Lohn am nächsten Sonntag nicht dem Klingelbeutel der Kirche spendierten. Besonders drängendes Gefühl, unseren Durst zu stillen, lenkte uns nach vollendeter Arbeit raschen Schrittes zu Anneliese in die Wirtschaft. Jetzt lautete der Song doch: „Bier her! Bier her! Oder ich fall um, juchhe.“ Unsere liebe Wirtin war vorbereitet und die Platte mit eigenhändig produzierten leckeren Frikadellen stand parat. Neckereien hatten wir stets auf den Lippen und riefen manchmal unisono: „Na, bei welchem Bäcker (gemeint war das Paniermehl als Zutat in den Klopsen) bist du gewesen, um das Fleisch zu vermischen?“

Lange Zeit dröhnte noch die Musikbox in den Ohren nach. Preiswert war die Musik in den 1960er Jahren. Als andere Medien die gute Wurlitzer Fuego oder Jukebox Seeburg ablösten, verschwanden diese nicht komplett aus dem Marktgeschehen. Sammler können solche Geräte heute für circa eintausendfünfhundert Euro im Internet bei eBay erwerben. Das Wurlitzer Modell 2510 soll sogar für mehr als viertausend Euro zu erwerben sein. Immer wieder bedrängten wir unsere Anneliese, den Münzeinwurf zu füttern, wenn wir schon das Bier bezahlen.

Mir ist nicht bekannt, ob Forschungsergebnisse zur Entstehung unserer Bräuche in Schüller existieren. Jedenfalls festigten viele Sitten und mannigfaltiges Brauchtum die Dorfgemeinschaft. Wir waren zwar nicht mehr so sehr wie unsere Vorfahren mit der ursprünglichen Natur, der Religion und in den alten Traditionen verwurzelt. Manche alte Sitte unserer Väter hatten wir nicht erfahren, um sie wieder aufleben zu lassen. Ob die in meinem Buch „Beamtenkühe und betrunkene Hühner“ erwähnten Flurprozessionen im Monat Mai mit den Gebeten um gutes Wachstum und Ernte auch in diesem Jahrhundert gepflegt werden, kann ich nicht sagen. Ich muss feststellen, dass insbesondere der allgemein sich verbreitende gesellschaftliche Wandel selbst in kleinen Dörfern nicht zu stoppen war.

Während meiner Jugendzeit trugen bereits einige Menschen Jeans. Hier denke ich an unsere Küsterin während meiner Messdienerzeit. Ich dagegen mochte nie Jeans und habe bis heute keine getragen, da ich schicke Kleidung liebte. Im Tag des Herrn18 wurde ausführlich über den Juden Levi-Strauss aus dem oberfränkischen Buttenheim berichtet. Der Senior der Jeans hatte in der Zeit des Goldrauschs in Amerika den richtigen Riecher. Das Leben des 1829 geborenen Kindes überaus armer Eltern wird im Levi-Strauss-Museum 19 in seinem ehemaligen Geburtshaus (stammt aus dem späten siebzehnten Jahrhundert) geschildert. Trotz der günstigen Zeitepoche als wesentliche Hilfe zum Erfolg, musste der Erfinder der Mutter aller Jeans „Arbeitshose“, „Cowboyhose“ und „Nietenhose“ Spürsinn und Tatkraft einsetzen.

Ja, so war die schöne Jugendzeit – sie ist vergangen und kommt nicht wieder. Jedenfalls purzelten aus verschiedenen Köpfen interessante Ideen und es saßen nicht alle Mann, wie heutzutage zu sehen ist, jeder mit seinem Handy beschäftigt nebeneinander. Wer weiß, mit welcher Freizeitgestaltung die Jugend sich in fünfzig oder gar hundert Jahren beschäftigen wird? Wer hätte vor einigen Jahrzehnten an eine unendliche Datenautobahn, für Omas und Opas auch mit großer Schrift, und mobile Ferngespräche für jedermann gedacht? Wir jedenfalls noch nicht. Oder man ist dieses entfremdeten Treibens überdrüssig geworden, kehrt zurück zur Natur, was mancherorts bereits wohltuend zu beobachten ist.

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