Читать книгу Jahrhundertwende - Wolfgang Fritz Haug - Страница 240

26. August 1991

Оглавление

Statt vom Amt des Unionspräsidenten zurückzutreten, hat Gorbatschow Präsidentschaftswahlen angekündigt. Das könnte ein Abgang für ihn selbst von der politischen Bühne sein, der seinem Projekt und seinen Überzeugungen entspräche. Fürs erste ist der Kongress der Volksdeputierten einberufen, der wohl auch den Obersten Sowjet neu wählen wird. Schewardnadse ist wieder als Außenminister und Jakowlew als Parlamentspräsident vorgeschlagen worden.

Im Tagespiegel vom Samstag (24.8.) ein herausragender Bericht von Uwe Engelbrecht, der zornig zupackend Jelzins Bewegung als Gegenputsch charakterisiert. »Auf den missglückten Putsch der Reaktionäre folgte ein unblutiger, aber für die demokratische Zukunft des Landes nicht minder verheerender Gegenputsch«: Kompetenzen der UdSSR okkupierend. Pressepolitik: Die Jelzin nahestehenden Medien betrieben schon in den letzten Monaten vor dem Putschversuch »kritiklose Beweihräucherung« Jelzins. »Professionell besser gemacht als die Medien der Breschnew-Ära gleichen sie diesen doch in einem Punkt aufs Haar: Informationsanteil – vielleicht zwanzig Prozent; Agitprop – der große Rest.« Nach den drei Tagen Maulkorb vonseiten der Putschisten begann jetzt »die systematische Knebelung im Namen der Demokratie«.

Engelbrecht voller Empörung darüber, wie Jelzin G »als Beute« vorgeführt hat. Demütigung im Fernsehen, von J inszeniert »auf eine Weise, die er einst als Provinzfunktionär zur Niederknüppelung von Gegnern erlernt haben muss«. Im Saal eine »Orgie von Unkultur«, an der sich auch der Augenarzt Fjodorow beteiligte.

Engelbrechts Bericht macht mir Mut zu einem Gedanken, der in den letzten Tagen halbgedacht in meinem Kopf umgeht: es ist, als wäre hier das Karrieremuster einer Passion am Werke, nach dem bedeutende Menschen in die geschichtliche »Unsterblichkeit« hineinsterben. Station am Kalvarienberg, die fürchterliche Schädelstätte, deren Bild in das jenes Trümmerbergs übergeht, der sich vor dem schreckgeweiteten Blick von Benjamins Angelus Novus auftürmt. Das Jetzt nur Durchgangsstadium in einem Fortsturz. Der herrschende Jubel, den nur wenige aufrechte Journalisten und Russlandkenner zu stören wagen, geht in das Gegröle des russischen Parlaments über bei der unzivilen und unzivilisierten Zurschaustellung des gedemütigten Boten einer zivileren und zivilisierteren Gesellschaft. Und doch ist Michail Gorbatschow nicht hauptsächlich eine »tragische Figur«, obwohl er es auch ist, denn er musste »schuldig« werden, um seine historische Schuldigkeit tun und von der Szene gehen zu können. Potentat, der er qua Amt war, spielte er à qui gagne perd, wer gewinnt, verliert. Seine Obermacht musste sich abschaffen, indem sie sich verwirklichte. In dieser Hinsicht ist Gorbatschows Scheitern eingeplant, und so hat Enzensberger ihn schon vor zwei Jahren verstanden. Was jetzt geschieht, ist nicht so sehr ein Personenwechsel an den Machtpositionen, als ein Strukturwechsel der Macht. Der totalitäre Sozialpaternalismus ist von innen heraus und von oben herab abgebaut worden, und einen anderen Weg zu seiner Abrüstung konnte es nicht geben.

In der »Süddeutschen« sagte Hassan Hussejnow (Gassan Gussejnow, Jg. 1953), der als klassischer Philologe an der Lomonossow-Universität lehrt, im Gespräch mit Werner Paul: »Die Perestrojka geht zu Ende, das normale Leben beginnt. […] Das Provisorische ist weg.« Ohne G und seine Perestrojka »hätte es die Brüche in der totalitären Massengesellschaft nicht gegeben, ohne diese Brüche wäre der Putsch keine Operette, sondern blutiger Ernst«. Infolgedessen hat »die Armee nicht mitgemacht« (erster unmittelbarer Grund) und es »ging ein Teil der Moskauer zum russischen Parlament, um es zu verteidigen. Aber ein viel größerer Teil der Bevölkerung stürzte sich in die Läden, um Defizitwaren zu ergattern, die auf Befehl der Putschisten eingeliefert wurden.« Die Putschisten verkannten, dass die autoritären Traditionen Russlands, auf die sie sich stützen zu können glaubten, im Ergebnis von sechs Jahren Perestrojka »bereits brüchig geworden« sind. »Die unerschütterliche Grundüberzeugung, dass die Unfreiheit ein nicht wegzudenkender Bestandteil der menschlichen Existenz« sei, habe auch in seiner Generation noch Gültigkeit gehabt.

Das geistige Klima der letzten beiden Jahre der Perestrojka schildert Hussejnow als geprägt durch Okkultismus, Magie, »verschiedene Formen der sozialen Pornographie«, Antisemitismus und ein orthodox-klerikales »Affentheater«, wenn Priester Sportfeste und Läden einsegneten usw. Universalismus wurde zurückgedrängt und man ging »einfach vom kommunistischen Totalitarismus zu einem posttotalitären, kulturfeindlichen Pseudopluralismus über, der Verstand bleibt auf der Strecke«.

*

Nebenbei: Nachdem im März ein Verfassungsschutzbericht über die »Marxistische Gruppe« (MG) veröffentlicht worden war, erklärte diese sich im Mai für aufgelöst aus Rücksicht auf »die berufliche Existenz der Befürworter unserer Sache«. Dass dies gerade im gegenwärtigen Umbruch, gibt zu denken. Sollte wieder einmal ein Mohr seine Schuldigkeit getan haben? – Monty Johnstone erwähnte die Meldung in einem Brief.

Jahrhundertwende

Подняться наверх