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18. Oktober 1990 (2), unterwegs

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Günter Matthes schreibt im Tagesspiegel den erstaunlich einsichtigen Satz: »Dass Marx und Lenin das Scheitern ihrer Ideologie überleben, wissen wir.« Es geht um Denkmäler.

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Proton ein »vibrierendes Bündel aus drei Quarks, 2 up und ein down Quark«. Inzwischen glaubt man, 6 Quarks zu kennen: Charm, Strange, Top, Bottom, Up, Down. (Comic strip-Sprache). Diese sollen mit den sogenannten Leptonen die gesamte Materie aufbauen. Das Wort Quark soll Gell-Mann aus Joyce, Finnegan’s Wake, übernommen haben (»Drei Quarks für Muster Mark.«).

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Mörikes Maler Nolten. –Es beginnt mit einer Bildbeschreibung, von der man allmählich verstehen wird, dass sie die fatale Verschlingung der Neigungen vorwegnimmt, die der Roman entfalten wird: Auf offener See in einem Kahn ein derber Satyr mit einem schönen Knaben, den er soeben einer verliebten Nymphe gewaltsam überliefert … Man »vergisst das Ungeheuer über der Schönheit des menschlichen Teils«. – Verknotung: obgleich der Satyr »der Nymphe durch den Raub und die Herbeischaffung des herrlichen Lieblings einen Dienst erweisen wollte, so straft ihn jetzt die heftigste Liebe zu ihr mit unverhoffter Eifersucht«. – Satyr: Seine »muskulöse Figur steht […] seitwärts […] überragt die übrigen. Eine stumme Leidenschaft spricht aus seinen Zügen«. – Ambivalenz: Er möchte sich […] abkehren, allein er zwingt sich zu ruhiger Betrachtung, er sucht einen bittern Genuss darin.« – Ambivalenz des Knaben: Er »beugt sich angstvoll zurück und streckt, doch unwillkürlich, einen Arm entgegen« – fast entflieht ihm »das leichte, nur noch über die Schultern geschlungene Tuch«. – Nymphe: Sie sucht »mit erhobenen Armen den reizenden Gegenstand ihrer Wünsche zu empfangen«.

Ineinander verschachtelte Ambivalenzen: der junge Nolten gegenüber Elsbeth; Quidproquo: der Freund und die Fremde zwischen ihm und seiner Braut.

Bisher: »strebte mit Heftigkeit an mich zu reißen, was mir notwendige Bedingung meines Glücks schien«; – Buße: »bitter«; – Verzicht: »ich habe nun der Welt, habe der Liebe entsagt«; – Sublimation: Liebe »wird ein unvergänglicher Besitz meines Inneren bleiben«, »darf mir nicht mehr angehören, als mir die Wolke angehört, deren Anblick mir eine alte Sehnsucht immer neu erzeugt«; – Philosophie: Große Verluste bringen dem Menschen die höhere Aufgabe seines Wesens nahe […] zu seinem Frieden; – Ästhetische Rekompensation (11): arm-Verlust = reich: »Nichts bleibt mir übrig als die Kunst, aber ganz erfahre ich […] ihren heiligen Wert […] Befreit von der Herzensnot jeder ängstlichen Leidenschaft […] Fast glaub’ ich wieder der Knabe zu sein, der auf des Vaters oberem Boden vor jenem Bilde gekniet«.

Der aufdringliche Knabe, der Modell gestanden hatte: »ein Anteros!«, lautet Noltens anzüglicher Kommentar, einer, der wiederliebt, bei dem man auf Gegenliebe stößt. Der alte Maler Tillsen, in dessen Haus der Bildhauer Raimund einen Raum als Atelier nutzen darf, beschreibt den Jungen so: »Wirklich ein delikates Füllen, schmutzig, jedoch zum Küssen die Gestalt« (2. Buch, 25). Als Raimund seine Verlobte herumgekriegt hat, ihm Modell zu sitzen, wird der Knabe, »Muster« für »einen Amor aus Ton«, entlassen. »Jetzt liegt ihm die aufdringliche Kröte, die sich gar gut gestanden, tagtäglich auf dem Hals, und dass der Junge nicht schon im Hemdchen unters Haus kommt, ist alles.« Hat sogar der »Braut« mit einem Stock aufgelauert.

Larkens: »leidenschaftlich« zu Nolten, dem »Geliebten« (17); dessen Mentor. Pflegt das »gebrochene Liebesverhältnis« Nolten/Agnes, um sich »an der eingebildeten Liebe eines so reinen Wesens« zu freuen. Dazu muss er der Unreine sein mit Sex-Vergangenheit. Selbstmord-Perspektive, Abreise. Er ist gegen den ideologischen Fundamentalismus (er soll Hypochonder wegen früherer Sexualausschweifungen sein, 16): »Wirst insgeheim gegängelt von einem imaginären spiritus familiaris, der in deines Vaters Rumpelkammer spukt.« (12)

Nolten: keine »Diätetik des Enthusiasmus« (14); Kunst kompensiert: »Versuch zu ersetzen, was uns die Wirklichkeit versagt«.

Unerwartet bei Mörike dem Ausdruck Fernsehen begegnet, der eine divinatorische Kraft meint. Höchst sonderbar, was das für die Rezeption bewirkt, wenn ein Ausdruck so stark und fremd eingeholt wird. Ein »Fernsehen nach Zeit und Raum«, »Vorgesicht«, »zweites Gesicht«.

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