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30. Oktober 1990

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In der SU scheint die Rede von der »Auflösung des letzten Imperiums« eine Art von Realität zu erhalten. Jede erdenkliche ethnisch-linguistische Unterscheidung wird nun zum Titel national-staatlicher Verselbständigung. Die Not des Nicht-mehr-und-noch-nicht führt zum Rette-sich-wer-kann. Dabei fragt sich jeder, wann und wie die militärische Zwangsgewalt auf den Plan tritt. Gorbatschow vor dem Dilemma, unabkömmlich zu sein und wegzumüssen, um Kredite zu beschaffen.

Lew Kopelew hat gestern in Köln gesagt, ein totaler Zusammenbruch Russlands »wäre verderblicher als tausende Tschernobyl-Katastrophen und würde verderblicher für alle Völker in Ost und West auf dem ganzen Planeten sein«. Der praktische Sinn dieser apokalyptischen Warnung ist es, Hilfe fürs Überstehen dieses Winters zu mobilisieren.

Die FAZ (Jens Jessen) beschreibt das Schicksal, das die neue »Normalität« den deutschen Schriftstellern bereitet: »Die Äußerungen der Autoren, mögen sie noch so polemisch sein, sinken zurück in jenes Stimmengewirr, von dem eine pluralistische Gesellschaft ohnehin beherrscht wird.« Soll heißen: das in einer pluralistischen Gesellschaft herrscht, die ohnehin hinterrücks beherrscht wird.

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Mörike, Maler Nolten. – Ich staune beim Wiederlesen, wie wenig mir früher die sonderbare Behandlung der Geschlechterverhältnisse und der »Liebe« zwischen Männern aufgefallen ist. Larkens redet den Maler an mit »Liebling meiner Seele« (II.30). Danach arg idyllisch bei Agnes. Die Volker-Geschichte: er wollte nichts von Frauen wissen, wie seine Mutter einst nichts von Männern: der Wind hat ihn mit ihr gezeugt (77). Der Präsident, der mit seiner Frau eine Hassbeziehung unterhält, fragt sich, »warum jenes namenlose Weh, das alle Mannheit, alle Lust und Kraft der Seele bald bänglich schmelzend untergräbt, bald zornig aus den Grenzen treibt, warum doch jene Heimatlosigkeit des Geistes […] das Erbteil herrlicher Naturen sein muss?« Dann verabschiedet er sich von Nolten mit den Worten: »Schlafen Sie wohl! Lieben Sie mich!« (115) – Die »Bildung« bei Mörike als Quer-Ordnung geschildert, weil sie Stützpunkte unter den Reichen hält. Larkens geht unter Handwerker (Arbeiter), ja, er geht ins Proletariat. Dort zu leben, ist wie eine Verkleidung. Aber warum bringt er sich um? – Auch die Frauen merkwürdig umgetrieben: Margots Leidenschaft für Agnes. Elsbeth: durch Nacht und Dornen »keuchte sehnende Liebe«. Das Liebesverlangen bringt die Menschen fatal überkreuz. »Das Unerträgliche, das Fürchterliche dabei ist, dass hier weder Vernunft noch Gewalt etwas tun können.« (161)

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