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26. Oktober 1990 – Abflug von München
ОглавлениеIm Pschorr-Keller auf Einladung eines Bildungskreises aus dem DKPUmfeld aus dem Perestrojka-Journal gelesen. Es lief nicht schlecht, obwohl die Diskussion zur politischen Diskussion wurde. Nur Horst Holzer, bis zur Ruben-Affäre im Umkreis Buhrs, schien zu verstehen, dass nicht allein theoretische These und politischer Leitartikel unserer derzeitigen Situation angemessen sind, sondern dass auch ins Traumhafte übergehende Beschreibungen eine unentbehrliche Möglichkeit bieten, gewisse »Zwischenlagen« auszudrücken. Holzer lebt übrigens seit Jahren von Medienforschung für den Bayrischen Rundfunk. Aus der akademischen Lehre ist er längst ausgeschieden. Als Gegenleistung für sein freiwilliges Verlassen der Universität verzichtete der Staat auf die Rückforderung von zehn Jahren Gehalt.
Meine Gastgeber Brigitte und Leo Mayer wohnen in einem Siedlungsvorort des münchener Ostens, umschlossen von Industrie- und Gewerbegebieten. Das Haus ein Schmuckkästchen. Ich frage mich, wer es sauber hält. Brigitte ist Buchhalterin in einer kleinen Druckerei, Leo Ingenieur bei Siemens. Die Kinder schon außer Haus. Ich schlief im Zimmer des Sohnes, der Elektro- oder Fernmeldeingenieur studiert und bei Siemens Praktikum gemacht hat. Computerspiele, die ihn süchtig machten: das sowjetische eine Art Puzzle, wo es darum geht, aus abstrakten Figuren eine Mauer zu bauen. Um sich der Versuchung zu entledigen, formatierte (löschte) er kurzerhand alle Spieldisketten. »Es kommt mir keine mehr ins Haus.« Die Simulationen erfuhr er als Raub an Handlungsfähigkeit.
Brigitte und Leo haben übrigens als Modelle gedient für eine Werbekampagne der IG Metall. Sie sind das Musterpaar, das ich schon in Inseraten gesehen habe. Man hat sie mit zwei (fremden) Kindern, 7 und 10, professionellen Fotomodellen, ausgestattet. Nur das Künstliche sieht heutzutage wirklich natürlich aus.
Ich höre von Spannungen zwischen Linker Liste und PDS. Die LL »wird es nicht bringen«, sagt man mir.
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Bildersturm. – F. K. Fromme im heutigen FAZ-Leitartikel: Der Marx-Kopf in Chemnitz »muss schon aus ästhetischen Gründen weichen. Man könnte sogar sagen: aus Respekt vor dem Philosophen, der in einem nicht kleinen Teil der Welt Rechtfertigungen für Herrschaft hergegeben hat. Auch Lenin-Denkmäler aber verdienen ihren Platz nicht mehr. Sie bedeuten eine Verherrlichung des Terrors«. Als »Auswuchs« müsse auch der Name »Ho-Chi-Minh-Straße« beseitigt werden. Frankfurter Machiavellismus: »Die Symbole der alten SED wegzubringen, ist geboten. […] Mit dem Fall der Symbole vollendet sich der Absturz von der Macht.«
Einem Nebukadnezar-Regime, einer altasiatischen Despotie gleichend, aber zugleich ein soziales Modernisierungsregime mit Marxismus-Leninismus als weltlicher Religion.