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3. November 1990

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Nachdem Gorbatschow aus Spanien dankend 40 Mio Zigaretten als Gastgeschenk mitnahm, hat die sowjetische Regierung das Tausendfache in der BRD bestellt, um im bevorstehenden Winter, der schrecklich zu werden verspricht, eine explosive Reibungsfläche weniger zu haben. Das ist in etwa der Verbrauch eines Monats.

Mit Frigga nach Ostberlin zu einer Konferenz »Krise des Sozialismus«, zu der die Stiftung Gesellschaftsanalyse, Nachfolgerin der alten Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, eingeladen hatte. Im Haus am Köllnischen Park, das als Mitveranstalter fungierte, wusste man nichts von der Tagung. So nutzten wir den plötzlich freigewordenen Samstag für einen ausgiebigen Spaziergang durchs immer noch seltsam fremde Ostberlin, das Anflüge einer schönen Stadt hat, immer wieder denkend, dass wir das jetzige Stadtbild vielleicht zum letzten Mal sähen.

Die Thesenpapiere übrigens ziemlich unausgegoren. Bei manchen lugen die alten zurechtgeschneiderten Legitimationsweisheiten hervor, zum Beispiel in der Rede von »jenen Ländern, die nach 1917 die Gestaltung des Sozialismus zu ihrem Ziel erhoben«. Nicht nur sind »Länder« mystifizierte Akteure, nicht nur also sind die bitteren Kämpfe und Wirren verschwiegen, aus denen die Bolschewiki als diktatorische und schließlich selber diktatorisch beherrschte Kraft hervorging, sondern der großenteils von der Sowjetarmee im Gefolge des Zweiten Weltkriegs unter sowjetische Hegemonie gebrachte und nach sowjetischem Modell regierte Ostblock kriegt eine allzu harmonische Entstehungsgeschichte angedichtet. ML wird in Anführungszeichen weitergeführt, ist also keineswegs geräumt, hängt jedoch im Unentschiedenen. Diese Autoren haben die Revolution in der SED gewiss nicht gemacht. In einem anderen Papier (von Gisela Lindenau und Herbert Schwenk) vergilbte Floskeln wie die vom »Wesensinhalt linker Politik« – so spricht bei uns kein Mensch, das klingt wie eine schlechte Übersetzung aus dem Sowjetischen. An der Macht der Fakten orientiert, heißt es von der bürgerlichen Gesellschaft, sie habe »sich angesichts des Scheiterns des ›realen Sozialismus‹ als die einzig moderne und offene Gesellschaft erwiesen«. Schwammig wird als epochale Notwendigkeit behauptet: »Die Förderung des Zusammenwirkens verschiedener Gesellschaften im Sinne einer ›Revolution‹, einer Entfaltung der positiven Elemente jeder Gesellschaft in der Welt im Interesse des Fortschritts der Menschheit.« Dagegen fuchtelt unser Freund Wladislaw H. in seinem Thesenpapier mit neuen Begriffen, was nicht ohne Interesse ist. Wie Kraut & Rüben sein Katalog »verschütteter Grundideen« des Sozialismus: »Soziale Gerechtigkeit, Humanismus, Vergesellschaftung und Pluralismus«. Andererseits redet er unbestimmt von »›genetischen‹ Fehlern im Marxismus« und der »Simplifizierung, Vulgarisierung und Dogmatisierung der Theorie in Form des ›Marxismus-Leninismus‹ durch die Politbürokratie« usw. Das kommt mir simplifiziert, ja vulgarisiert vor. Im folgenden Thesenpapier erklärt Alexandra Wagner: »Kapitalverwertung muss nicht notwendig mit Hochrüstung, Raubbau an der Natur und menschlicher Arbeitskraft verbunden sein.« Aber das lässt sich höchstens von einem der Musterländchen im reichen Zentrum so behaupten. Im Weltmaßstab des Kapitalismus ist es unerlaubt verharmlosend. Zwischen bürgerlicher und ziviler Gesellschaft vermag sie nicht zu unterscheiden. »Eine linke Fundamentalkritik am Kapitalismus hat Berechtigung, wenn sie nicht mit einer pauschalen Verurteilung der bürgerlichen Gesellschaft als Ganzer und mit der Forderung nach deren schlichter Zerschlagung und Errichtung einer ›Antigesellschaft‹ verbunden ist.« Lob der, wie es tautologisch heißt, »dem Profitprinzip zugrundeliegenden Gewinnorientierung«, Kritik indes an einem »Zustand, in dem die Entscheidung darüber, was, wo und wie produziert wird, von den egoistischen Interessen der ökonomisch Mächtigen gefällt wird«. Aber wie will sie egoistisches von nichtegoistischem Profitstreben unterscheiden? Neue Variante von raffendem vs. schaffendem Kapital?

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